„Ich sehe keine Stile, die sich nicht miteinander verbinden lassen […]” – DORIAN CONCEPT und CHRISTOPH WALDER im mica-Interview

OLIVER JOHNSON alias DORIAN CONCEPT hat für „Hyperopia“ zum ersten Mal mit dem Ensemble des KLANGFORUM WIEN zusammengearbeitet. Statt Keyboard-Solos für NINJA TUNE und elektronischen Beats aus der Klangkiste für Club-Virtuosität setzt der Wiener Musiker und Komponist auf kollektive „Neuheit im Bekannten“. Mit CHRISTOPH WALDER, Hornist des KLANGFORUMS seit 1993, führte JOHNSON zwei unterschiedliche Herangehensweisen in eine gemeinsame Sprache über. Nach der Verschiebung der Uraufführung im April 2020, brachte man „Hyperopia“ im Rahmen des ORF MUSIKPROTOKOLLS auf die Bühne. Über Weitsichtigkeit in der akustischen Musik, die Grenzen der elektronischen Limitierung und einen Zustand der erhöhten Selbstwahrnehmung haben DORIAN CONCEPT und CHRISTOPH WALDER im Frühjahr mit Christoph Benkeser und Michael Franz Woels gesprochen.

Für deine Komposition „Hyperopia“ hast du mit 16 Musikerinnen und Musikern des Klangforums Wien zusammengearbeitet. Wie fühlt sich der Schritt vom Solo-Performer zum Komponieren für ein Ensemble an?

Dorian Concept: Das gegenseitige Interesse war von Beginn an da. Christoph Walder hat mir eine Zusammenarbeit angeboten. Wir haben darüber geredet und gemerkt, dass es – obwohl wir aus unterschiedlichen musikalischen Backgrounds kommen – einige Parallelen gibt. Das beginnt bei der Frage, wie man den kreativen Prozess angeht. Außerdem fand ich den Gedanken spannend, aus meiner Komfortzone auszubrechen, also neue Wege zu begehen. Als Beispiel: 2007 war ich in Südafrika. Über einen Reggae-Künstler hatte ich die Möglichkeit, in einer Township in Gugulethu auf einem Basketballplatz aufzutreten. Spannend war, wie elektronische Musik an einem Ort wahrgenommen wurde, wo sie noch nicht verbreitet war. Wir bewegen uns gerne in der eigenen Komfortzone. Oft brauchen wir den Blick von außen, um Neues zu entdecken.

Christoph Walder: Das bringt es auf den Punkt. Ich interessiere mich für unterschiedliche Musikrichtungen, hatte viel mit Musikerinnen und Musikern aus der Jazzwerkstatt Wien zu tun, also einen breiter gestreuten Zugang zu Musik, als es mein ausübender Beruf zulässt. Für das Klangforum als Avantgarde-Ensemble ist es interessant, die Grenzen weiter auszutesten und damit neue Felder zu erschließen. Umso reizvoller ist es für uns, diese Grenzen in der Praxis auszuloten – und in diesem Prozess auf kreative Köpfe zu stoßen, die Einflüsse in ihrer eigenen Sprache mit einbringen.

Denkt man in diesem Prozess des Crossovers aus Neuer und elektronischer Musik daran, neue Brücken zum Publikum zu erschließen?

Christoph Walder: Das ist nicht das primäre Ziel. Wenn es dazu beiträgt, dass wir ein anderes Publikum ansprechen, ist das sehr willkommen. Musikalische Institutionen wie Festivals stehen für eine bestimmte Musikrichtung. Man weiß, was man bekommt – also geht man hin. Aber: in den verschiedensten Sparten gibt es Hörerinnen und Hörer, die neue Musik hören wollen, die offen sind für Experimente in jede Richtung und sich überraschen lassen wollen. Unsere Zusammenarbeit mit Oliver trägt zu einer Vernetzung bei, Publikum, Musikerinnen und Musiker haben mehr miteinander zu tun. Wir wagen das Experiment. Und wir riskieren. Schließlich ist der Crossover-Ansatz in der Musikgeschichte kein Garant für Erfolg.

„Ich sehe keine Stile, die sich nicht miteinander verbinden lassen, sondern nur Menschen, die sich nicht treffen wollen.“

Bewegt ihr euch damit als Pioniere auf einem Feld, bei dem das Risiko miteinkalkuliert ist?

Dorian Concept: Die Erkenntnis, ob etwas zusammenpassen könnte, entsteht organisch, durch das Kommunizieren auf Augenhöhe – aber auch über die Bereitschaft, auf die andere Person einzugehen und verstehen zu wollen, was das Gegenüber vorhat. Ich sehe keine Stile, die sich nicht miteinander verbinden lassen, sondern nur Menschen, die sich nicht treffen wollen. Gerade in Wien kochen viele Musikerinnen und Musiker ihr eigenes Süppchen. „Hyperopia“ ist der Versuch, dagegen anzusteuern. Gleichzeitig forcieren wir es nicht. Oft habe ich das Gefühl, dass man ein Orchester hinter ein Solo-Programm stellt, weil es cool ausschaut. Man verkauft damit nur die Idee und verzichtet bewusst auf den künstlerischen Ansatz, die Situation als Chance für eine Weiterentwicklung zu verstehen.

Christoph Walder: Ja, das Crossover kann auch nach hinten losgehen, wenn es zu offensichtlich ist, dass jemand mit der Sprache des Anderen sprechen will –, die beiden Seiten aber niemals zu einer gemeinsamen Sprache finden.

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Welche Herausforderungen seht ihr in der gemeinsamen Zusammenarbeit und im Ausloten der Grenzen zwischen digitaler Klangerzeugung und akustischer Aufführungspraxis?

Dorian Concept: Für mich war der Prozess des Produzierens zum ersten Mal ganz anders. Als Solo-Musiker hat man sonst Narrenfreiheit. Ich muss nicht darüber nachdenken, ob das Stück jemand spielen kann und wie es aufgeführt werden soll. Deshalb war der Kompositionsauftrag interessant. Man zerpflückt den eigenen Produktionsprozess, sucht nach bestehenden Parallelen und versucht, eine Vorstellung zu entwickeln, wo man sich treffen kann, um eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Ich habe einen Prozess entwickelt, der dem kompositorischen Prozess für ein Ensemble ähnelt. Christoph hat den transkriptiven Prozess übernommen. Er hat die Midi-Noten, die ich am Computer eingespielt habe, aufs Papier gebracht. Während des Produzierens habe ich nur teilweise in Instrumenten gedacht. Im kreativen Prozess war es für mich wichtig, nicht zu sehr von dem abzuweichen, was ich als Solo-Performer mache. Man würde sonst nur das machen, von dem man denkt, dass es andere gerne hätten.

„Wir übersetzen den Prozess in eine Sprache, die wir gemeinsam sprechen wollen.“

Christoph Walder: Oliver komponiert nicht nach der klassischen Konvention. Wir übersetzen seinen Prozess in eine Sprache, die wir gemeinsam sprechen wollen.  Das Interessante ist, dass erstmals jemand die Ideen liefert, der nicht die Schreibweisen und Spieltechniken im Kopf hat, sondern nur hört. Oliver hat mir viele Audio-Dateien geschickt – und ich habe mir überlegt, wie sich das Klangforum Ensemble als Synthesizer mit 1000 Presets zur Verfügung stellen kann. Dadurch entsteht etwas Eigenes, etwas Neues.

In der Veranstaltungsankündigung zu „Hyperopia“ sprichst du von einer „Hierarchie der Sinne“ – wie meinst du das konkret?

Dorian Concept: Während dem Produzieren war ich in einem Zustand der erhöhten Selbstwahrnehmung, in dem ich verstehen wollte, was es heißt, Musik in einer visuell dominierten Zeit zu machen. Wir sind umgeben von Medien, die visuell ausgerichtet sind. Musik nimmt sich da nicht aus. Bei der Arbeit zu meinem letzten Album „The Nature of Imitation“ ging es in der Zusammenarbeit mit dem Label Brainfeeder um die Frage, welche visuellen Inhalte ich liefern kann. Man beschäftigt sich also mit dem Konzept, wie man die eigene Musik visuell darstellt. Durch die Herausforderung, dass ich Musik anders denken musste, bin ich wieder beim Denken über den Sinn des Hörens gelandet. In „Hyperopia“ lässt sich dieser Prozess des Fühlens nachempfinden.

Du hast in der Vergangenheit auch eigene Plattencover gestaltet, giltst als visueller Typ. Inwiefern konntest du in der Arbeit zu „Hyperopia“ deine Sinne schärfen?

Dorian Concept: Als Kind hatte ich eine obsessive Zeichenphase, hab viele Comics gemalt und rumprobiert. Daher rührt auch mein Interesse für visuell-graphischen oder bildenden Künsten. Das visuelle Interesse ist aber entkoppelt von der Musik. Mit der Musik geht es mir darum, innere Bilder von selbst entstehen zu lassen. Im Produktionsprozess zu „Hyperopia“ stand das vorauseilende Wissen, dass die Sache meinen Computer verlassen und auf dem Blatt landen wird. Der Begriff der Sichtbarkeit von Musik wurde interessant. Zu Beginn wollte ich sogar eine graphische Notation anfertigen. Ich habe aber gemerkt, dass das meinen Arbeitsprozess zu weit entfremdet hat.

Inwiefern hat sich diese Sichtbarkeit der Musik, die Notation am Papier, auf deinen Arbeitsprozess ausgewirkt?

Dorian Concept: Das Hin- und Zurückreichen zwischen Christoph und mir war wichtig, auch in Bezug auf den Auftritt mit dem Klangforum Wien. Für die Phase danach wäre es interessant, die gesamte Notation wieder durch den Computer zu schleusen, andere Instrumente über Midi-Noten einzubeziehen und das Ergebnis noch einmal zu verändern.

Bild Christoph Walder
Christoph Walder (c) Tina Herzl

Christoph Walder: Am Computer entstanden viele repetitive, sich verschiebende Bewegungen. die maschinell ablaufen. Das Ensemble als unerschöpfliche Fehlerquelle interveniert, sprengt diese Linearität und bringt andere Elemente mit ein. Dadurch entsteht automatisch Neues, weil es im Vergleich zum Computer eine weniger lineare Abbildung der Produktion ermöglicht.

Die Verschiebung zwischen der linearen Produktion und der Notation dessen auf Papier bringt den Computer als Schnittstelle ein.

Dorian Concept: Die Art, wie man das Stück hören kann, verändert sich dadurch. Das feine Abstimmen von Lautstärkenverhältnissen am Computer birgt für mich kreative Potenziale. Gerade in der Tanzmusik, die rhythmisch aufgebaut ist, lassen sich dadurch spielerische Ideen verwirklichen. Man mischt Hi-Hats lauter, macht die Bass Drum leiser, spielt mit Wiederholungen – das sind kreative Entscheidungen, die sich durch feine Abstimmungen beeinflussen lassen und in akustischer Musik ganz anders rüberkommen.

„Ich möchte in Musikstücke reinzoomen und schauen, was ich davon mitnehmen kann.“

Welche Ideen haben euch in der Produktion zu „Hyperopia“ beeinflusst?

Dorian Concept: Ich habe mir akustisch instrumentalisierte Musik angehört, aber bald wieder damit aufgehört, weil ich das Gefühl hatte, in imitatorischen Strukturen landen zu können. Ich arbeite aus einer Naivität heraus, habe mein Repertoire und entferne mich als Musiker nie ganz davon. Viele sprechen davon, dass technologische Innovationen einen erweiterten Zugang zu Musik ermöglichen. Ich finde, dass man auch immer mehr fokussierter werden, also in die bestehenden Möglichkeiten reinzoomen und dadurch auf neue Möglichkeiten stoßen kann. Zu manchen Musikstücken pflege ich enge Beziehungen, auf denen ich hängen geblieben bin. Ich möchte in sie hineinzoomen und schauen, was ich daraus mitnehmen kann. Das geht automatisch mit einer Limitierung einher, die ich mir freiwillig auferlege. In der Arbeit mit dem Klangforum Wien sehe ich eine absolute Limitierung, da ich mich auf klassische Instrumente beziehe, aber zu einem interpretativen Ergebnis komme, weil sie durch mehrere Gehirne wandert.

Klangforum Wien (c) Tina Herzl

Christoph Walder: Das war sehr weitsichtig von dir. Das Stück bleibt dadurch bei dir, bis wir als Klangforum darauf treffen. Wenn diese Interaktion zu früh passiert wäre, würden jetzt zu viele Personen mitmischen.

Dorian Concept: Diese Distanz verhinderte die Versuchung, sich in die Musikerinnen und Musiker des Klangforums hineinzudenken oder sich die Frage zu stellen, was man ihnen zutrauen kann. Ich behalte dadurch meine Authentizität, verändere mich nicht – und trotzdem kommen wir zu einem innovativen Ergebnis, zu einer Weiterentwicklung.

Ihr habt für die Weiterentwicklung also konkret nach individuellen Unterschieden gesucht?

Dorian Concept: Ähnlichkeit löst eine Abstoßung in mir aus. Deshalb höre ich wenig Musik, die in ihrer harmonischen Gliederung meinen Stück ähnelt. Für mich machen gerade Unterschiede die Spannung aus. Musikalische Ideen, die ich nicht am Radar habe, inspirieren mich, sie bringen mich weiter. Schließlich lernt man sich erst durch die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber kennen. Als Solo-Performer läufst du Gefahr, dass Arbeitsweisen zu Selbstläufern werden, dass sie im Autopilot-Modus ablaufen, weil der Bezug fehlt. Die Arbeit mit dem Klangforum hat mich zum ersten Mal dazu gebracht, meinen kreativen Prozess zu hinterfragen.

„Vieles kann mit Distanz klarer werden.“

Der Titel des Stücks, „Hyperopia“, ist in dieser Hinsicht interessant. Übersetzt bedeutet er Weitsichtigkeit, die sich wiederum metaphorisch umdeuten lässt. Die unmittelbare Umgebung bleibt verschwommen, der Blick auf eine mögliche Zukunft schärft sich.

Dorian Concept: Vieles kann mit Distanz klarer werden. „Hyperopia“ ist eine Gefühlsbeschreibung. Wir sind in einer persönlichkeitszentrierten Zeit, gerade in der Musik. Ich durchlebe immer wieder Phasen der Reflexion, wo ich mir überlege, wie man davon wegkommen könnte, ohne die Plattformen aufzugeben. Soziale Medien sind extrovertierte Medien. Ich interessiere mich zwar für die Gegenwart, bin aber ein introvertierter Mensch. Deshalb versuche ich diesen Prozess in meiner Arbeit zu reflektieren.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels, Christoph Benkeser

 

Links:
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Dorian Concept (Affine Records)
Dorian Concept (Ninja Tune)
Christoph Walder (Klangforum Wien)