Die Absurdität, gegenwärtig etwas planen zu wollen, die Unmöglichkeit, gegenwärtig Gleichbehandlung zu erfahren, das stete Bestreben gegenwärtig zu komponieren – PIA PALME gibt der Zeit ihren Raum und forscht dafür in teilweise entlegenen Gebieten. Über das Anthropozän, die Fragilität und das Wachsen von Klängen sprach sie mit Sylvia Wendrock.
Hat die derzeitige Situation Auswirkungen auf deine Arbeitsweise?
Pia Palme: Grundsätzlich ist meine Arbeitsweise situationsbezogen, meine Stücke und auch die Texte entstehen mit und für die jeweilige Situation und die Mitwirkenden. „My room, until yesterday“ zum Beispiel entstand 2017 für eine sehr heterogene Gruppe von sechzehn Jugendlichen und Kindern zwischen sieben und 23 Jahren, zu einer Zeit, als ich an der Musikschule Donaustadt unterrichtete. Ich begann gemeinsam mit dieser Gruppe von Null an bei Schulanfang, und innerhalb von drei äußerst intensiven Monaten entwickelte sich das Stück im kollektiven Experimentieren. Insofern ist jedes meiner Musiktheaterstücke etwas Einzigartiges. Der Vorgang der Entstehung ist allerdings bei der Arbeitsweise ungewiss und prekär, man darf die Zuversicht dabei nicht verlieren – aber dafür können die Stücke auf tiefere Weise in die Situation eintauchen.
„Es kommt mir beim Komponieren so vor, als ob ich den Klängen und Geräuschen beim Wachsen zuhöre, sie bei ihrer Entwicklung beobachte und das dann möglichst treffend notiere.“
„Wechselwirkung“ ist dein jüngstes Musiktheaterstück, aber auch ein Forschungsprojekt. Was waren bzw. sind deine Fragen darin?
Pia Palme: „Wechselwirkung“ ist das letzte von insgesamt vier szenischen Stücken, das ich im Rahmen des FWF-PEEK-Projektes „On the fragilities of sound“ gemeinsam mit meiner Mit-Forscherin Christina Lessiak produziert habe. 2019 führten wir „Dusk Songs I“ im echoraum in Wien auf, mit Anna Clare Hauf und Paola Bianchi, dem Ensemble airborne extended und mit der Oboe-da-caccia-Spielerin Molly McDolan. „Dusk Songs II“ mit zusätzlich der Barockoboistin Ana Inés Feola wurde im Mumuth in Graz uraufgeführt. „Mattetoline“ mit Annette Schönmüller, Manuel Alcaraz Clemente und Christina Bauer haben wir im off-theater in Wien und im Theater im Palais in Graz gezeigt. Das Besondere an der Situation ist, dass ich in den letzten drei Jahren kontinuierlich zum Thema Musiktheater arbeiten konnte, und zwar fokussiert und gründlich, und zusätzlich mit Christinas Unterstützung. Die umfassende FWF-Förderung sichert die Produktionen finanziell ab, ich konnte ein größeres Ensemble miteinbeziehen und freier arbeiten als bisher. Fragen, die mich begleitet haben: Welche inneren Räume möchte ich öffnen? Wohin bringt mich das, was ich gefunden habe, wenn ich mit einer Stimme, mit Instrumentalistinnen und Instrumentalisten kooperiere? Wohin bewegen sich Klänge und Geräusche im Raum? Es kommt mir beim Komponieren so vor, als ob ich den Klängen und Geräuschen beim Wachsen zuhöre, sie bei ihrer Entwicklung beobachte und das dann möglichst treffend notiere. Kritisch ist der Punkt, an dem Klänge schal und brüchig werden und zu verwesen beginnen. Was passiert dann? Wohin geht das? Und wie bzw. wodurch wird eine längere Zeitspanne gefüllt, wie werden Entwicklungen aufgeteilt? Welche Rolle spielt der Körper im Stück? Diese Fragen stelle ich mir schon länger. Bei jedem Stück habe ich Erfahrungen gesammelt, bin weiter gewandert. Wie schon bei „Abstrial“ war auch bei „Wechselwirkung“ ein Kollektiv federführend: Juliet Fraser, Christina Lessiak, die Tänzerin Paola Bianchi, die Dramaturgin Irene Lehmann und ich als Komponistin. Wir konnten zwei intensive Forschungs- und Experimentierphasen einplanen, wo wir die Verknüpfung von Bewegung, Stimme, Klang und Text praktisch untersucht haben.
Es ist untertitelt mit „A Montage for the Anthropocene“. Leicht lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Menschen und dem durch Wechselwirkung mit seiner Umwelt entstandenen Anthropozän erstellen. Aber kündigt der Titel nicht eher eine Montageanleitung für ein zukünftiges Anthropozän an? Spielt dein transdisziplinärer Zugang für eine solche Vision nicht eine konstituierende Rolle?
Pia Palme: „Wechselwirkung“ besteht aus Modulen, die bis zuletzt sehr flexibel bleiben konnten. Diese Module werden für die Aufführung zusammengesetzt, montiert – daher das Wort „Montage“. Darin verbirgt sich aber auch ein Hinweis auf die feministische Praxis – schon in den 1920er-Jahren haben Künstlerinnen den Ausdruck „Montage“ für ein Format verwendet, das Kritik übt an akribisch durchkomponierten Strukturen. Also Montage als Annäherung an die Interferenzen und komplexen Beziehungen in der Welt, statt Kontrolle und lineare Abläufe. Ein feministischer Umgang mit dem Anthropozän. Auf der anderen Seite waren wir bei „Wechselwirkung“ im Kollektiv tätig, wir haben miteinander gearbeitet, ohne die festgeschriebenen Reihenfolgen und Hierarchien der Institutionen. Die Musik war bei „Wechselwirkung“ nicht zuerst fertig, damit dann die Choreografie, die Regie usw. kommen kann. Für eine freie Form muss die Komposition flexibel genug sein. Das geht sehr gut, wenn man mit Modulen arbeitet, und diese in Form einer Montage zusammenfügt. Ich finde, dass dann auch die verschiedenen Disziplinen mehr Spielraum haben, sich zu entfalten und besser ineinandergreifen können.
Wie hat sich Covid-19 in das Konzept eingeschrieben?
Pia Palme: Tief. Sämtliche Probenphasen waren betroffen. Sogar das Ensemble PHACE musste kurz vor der Hauptprobenphase umbesetzt werden, weil ein großer Teil des Ensembles plötzlich durch ein anderes Konzert zu K1-Personen wurde. Die internationalen Solistinnen hatten Reiseprobleme. Das offene Raumkonzept wurde gleich mehrfach umgestellt, weil Wien Modern bis zuletzt auf eine öffentliche Aufführung spekulierte, und wir laufend auf neue Bestimmungen eingingen. Zum Beispiel haben wir die Bühne in zwei Teile zerlegt, damit die Sängerin und die Tänzerin genug Abstand halten können. Die Choreografie wurde geändert. Mein Kompositionsprozess war davon auch betroffen. Ich hatte den Wunsch, auf keinen Fall mehr als unbedingt notwendig zu schreiben – es kam so eine innere Protesthaltung auf, eine Art Trotz. Zudem habe ich mich auf Anregung von Juliet Fraser hin mit der Barockkomponistin Francesca Caccini beschäftigt. Caccini war um 1630 wegen der Pest im Lock-down in Lucca in ihrem Haus. Zuerst für ein paar Monate, dann war alles wieder offen, danach wurde nach einem erneuten Ausbruch eineinhalb Jahre gesperrt. Und das ohne Internet und Telefon … Ich habe Teile von ihren italienischen Texten und Stücken in „Wechselwirkung“ hineinkomponiert. Es gibt so wunderbare Stücke von Caccini, in denen sie über das Leid in der Liebe und über die willkommene Einsamkeit erzählt. Rückzug, Allein-Sein mit kalten Felsen im feuchten Sand, beim Wasser. Die traurige Wirklichkeit rundherum und die fiktive Traurigkeit der Musik. Für mich hat das einfach gut gepasst. Es wurde mit all den Hindernissen und der Anstrengung eine ganz spezielle Produktion, die Stimmung war offen und gut, das Ensemble brillant, die Zusammenarbeit intensiv und beglückend.
Was nimmst du von barocker Musik in dein Schaffen mit?
Pia Palme: Sie liefert mir einen äußerst experimentellen Zugang. Damals wurde unglaublich viel ausprobiert, ständig wurden neue Instrumente erfunden, permanent Stimmungen verändert, neue Materialien ausprobiert, der ganze Instrumentenbau war im Umbruch – das war künstlerische Forschung par excellence. Komponisten waren immer auch improvisatorisch und auch organisatorisch, sogar kuratorisch tätig, unterrichtet haben sie sowieso und geschrieben oftmals auch, wie Johann Joachim Quantz beispielsweise das Querflötenlehrbuch. Quantz war Oboist und hat erst mit dreißig Jahren begonnen, die Traversflöte zu spielen, ein damals neu entwickeltes Instrument. Und er wurde dann auch ein namhafter Experte auf diesem Gebiet. Das Barock war auch beim Gendern relativ durchlässig – es gab Frauen, die komponierten, und das erfolgreich. Es herrschte ein multifunktionales, fluides Denken vor, das mir persönlich sehr entgegenkommt. Ich mag den barocken Umgang mit Klangfarben und dessen szenisch-räumliches Denken in der Musik. Das barocke Theater ist ein vordramatisches Theater, das mir als Anhängerin des postdramatischen Theaters sehr nahe ist.
„Songs from a distance“ klingt wie ein Hinweis auf den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft. Stimmt das?
Pia Palme: Sicher. Ursprünglich hatte ich dieses Stück anders benannt, erst nach dreimaligem Verschieben konnte das Konzert dann in der Nationalbibliothek stattfinden. Ich habe dabei gelernt, dass das Streamen zu proben ist und dadurch unglaublich viel Zeit abverlangt, eine Streaming-Choreografie musste mitgedacht werden. Das wirklich Schwierige ist hierbei das Zusammenspiel von analogen Instrumenten und Elektronik, denn für eine Live-Aufnahme sollte die Elektronik nicht im Raum verstärkt hörbar sein, bestenfalls im Kopfhörer wie bei einer Studiosituation. Andernfalls wäre die Elektronikspur auf jedem Mikrofon drauf und man bekäme so einen „elektronischen Nebel“. In Wirklichkeit wäre es Vierkanal-Elektronik im Raum gewesen. Das heißt, alle Spielenden beim Streaming hören nicht das, was man bei der Übertragung hört. Und das macht natürlich etwas mit dem Stück, die Stimmung verliert sich. Die Musikerinnen müssen sich die Gesamtheit vorstellen. Dieses Erlebnis hat sich jetzt schon bei mehreren Streaming-Konzerten wiederholt und ist für mich das Schwierigste, sowohl für mich selbst als auch beim Zusammenspiel. Das Live-Erlebnis wird auch dahingehend zerstört, dass eine Vierkanal-Elektronik ja maximal stereo übertragen werden kann. Die Daten werden insgesamt so stark komprimiert, dass nur noch ein Bruchteil des ursprünglichen Stücks beim Zuhörer ankommt. Für die Übertragung mag das vielleicht funktionieren – aber elektronische Musik allein hat schon eine Form von Räumlichkeit, die beim Streamen verlorengeht.
Wie schmeckt so ein immer wieder angeschobenes und dann verschobenes Konzert?
Pia Palme: Das Konzert war geplant für April, wurde verschoben in den Herbst, dann noch einmal in den Dezember hinein. Wenn man so einen Stoff dann mehrmals in die Hand nimmt, wird es irgendwie fad … wie ein aufgewärmtes Essen, Teile davon sind dann vielleicht schon ein bisschen gammelig, es beginnt zu verfaulen, auch wenn es ursprünglich ein gutes Essen war. Wie die Idee von Donna Haraway in „Staying with the trouble“: In Zeiten wie diesen erinnert mich manches an einen Haufen Kompost, in dem Dinge vergären und verwesen – wo vieles zusammenkommt, ein Eigenleben entwickelt und doch Fruchtbares am Ende herauskommt. Komponieren und Kompost haben ja einen so auffällig gleichen Wortlaut, die gleiche Wortwurzel …
„Dinge stehen immer im Bezug zueinander, zu ihrer Umwelt. Das gilt ganz speziell für Klänge.“
Den einzelnen Stücken wohnt etwas Schwebendes, Fragiles, immer auch den Raum Auslotendes inne … Ist das „Raum-Komponieren“ ein feministischer Akt?
Pia Palme: In dieser prekären Situation der Dezemberaufführung hatte ich wirklich den Wunsch nach sehr, sehr viel Durchsichtigkeit mit vielen Solostellen, wo wenig dazukommt. Das entsprach der Verfassung der Musikerinnen bzw. überhaupt der Grundstimmung. Diese Durchsichtigkeit war aber insgesamt mehr der Situation geschuldet als dem Feminismus. In meinem letzten Stück „Wechselwirkung“ gibt es zehn sehr laute Minuten, bei denen das Ensemble an der Fortissimo-Grenze spielt. Auch das kann Fragilität sein. Betrachtet man das Wort „Fragilität“, erkennt man die unumstößliche Bezüglichkeit zur Umwelt: Ein Ding allein, für sich selbst genommen, ist nicht fragil. Erst wenn Kräfte darauf einwirken, wird Fragilität manifest. Und darauf kommt es mir an: Dinge stehen immer im Bezug zueinander, zu ihrer Umwelt. Das gilt ganz speziell für Klänge: Sie sind immer abhängig vom Trägermedium, in dem sie sich ausbreiten. Deshalb ist es ja auch so witzig, seine Stimme auf dem Mars klingen zu hören, wie es auf der NASA-Website gerade möglich gemacht wird. Die Umwelt wirkt auf einen Klang, auf dessen Ausbreitung auf dessen Reflexion. Selbst unser Körperbau hat Einfluss auf unsere Hörwahrnehmung, wenn Klänge an unserem Kopf, unseren Schultern reflektieren, bevor sie ans Ohr gelangen. Insofern sind alle Klänge fragil, selbst die lautesten Klänge kann man auslöschen, überlagern, miteinander maskieren, reflektieren, dämpfen. Fragilität hat überhaupt nichts damit zu tun, ob etwas im Wesen zart ist oder nicht.
Du hast ein ganzes Forschungsfeld zur Fragilität von Klängen eröffnet und damit das Komponieren wissenschaftlich förderfähig gemacht …
Pia Palme: Künstlerische Forschung wird schon länger gefördert. Es gibt beispielsweise sehr viele Musikprojekte, die sich mit Elektronik und neuen Technologien beschäftigen. Ich habe einfach versucht, dem Ganzen eine andere Richtung zu geben. Ich hatte nun mein Doktorat in Komposition abgeschlossen und wollte ein größeres Projekt aufstellen, eines, in dem ich Dingen endlich einmal wirklich auf den Grund gehen und mich austoben kann. Sich also mit viel Zeit intensiv einer Suche widmen können, und zwar dem experimentellen Musiktheater. Der FWF erlaubt den Forschenden unglaublich viel Freiheit in Hinblick auf einen offenen Ausgang des Forschungsvorhabens, sogar Richtungswechsel sind möglich, wenn das für den Prozess notwendig wird und zu rechtfertigen ist. In den 1980er-/1990er-Jahren war das in der Musik wohl auch noch möglich, wohingegen heutzutage wegen der Verknappung der Gelder und der generellen Kapitalisierung im Vorhinein viel Absicherung gefordert wird. In meinem Projekt ging die Hälfte der Förderung an künstlerische Produktionen, und zwar an mehrere neu komponierte Musiktheaterstücke, an Kompositionsaufträge an die Komponistinnen Elisabeth Schimana, Elaine Mitchener, Electric Indigo, Séverine Ballon plus deren Uraufführungen, an Ensembles und Performerinnen und Permern – das gab es meines Wissens noch nie. Obwohl diese PEEK-Programme sehr kompetitiv angelegt sind, bekamen wir in der ersten Runde eine Zusage. Mit beteiligt am Erfolg sind meine Forschungspartnerinnen Christina Lessiak und Irene Lehmann. Der Grundgedanke meiner Einreichung war die künstlerische Forschung aus der Sicht der komponierenden Person: sich komponierend als Frau, als Mensch, zusehen und zuhören, sich selbst beim Arbeiten beobachten und untersuchen.
Deine Doktorarbeit trägt den Titel: „The noise of mind“ – „Rauschen im Kopf“ – meinst du damit Denkvorgänge?
Pia Palme: In gewisser Weise ja. Alles, was man denkt, alles was im Kopf und im Bewusstsein vorgeht, also auch Gefühle und Körperbewusstsein. Noise, das Rauschen, ist ja wissenschaftlich gesehen das, was man nicht haben will. Nur das reine Signal wird in der Technik als Ergebnis angestrebt. Als komponierende Frau habe ich aber die Erfahrung gemacht, mich gerade mit den Themen befassen zu wollen, die üblicherweise ausgeblendet werden. Da setzt eine feministische Haltung ein, die den Blick erweitert und Inklusivität anstrebt. Speziell auf diese Konzepte wollte ich schauen und aus deren unglaublichem Potenzial schöpfen. Das, was man ausblendet, kann total interessant sein. Die Entscheidung, was ein Signal und was ein Rauschen ist, wird ja willentlich gesetzt, ist also äußerst subjektiv. Im Rauschen eröffnet sich eine neue Welt.
„Beim Komponieren fällt man ständig Entscheidungen.“
Wie gelangst du mit der Frage danach, wo Klang aufhört und Rauschen beginnt, zu kompositorischem Schaffen?
Pia Palme: Die Auffassung von Zeit und mein Umgang mit Zeit beim Komponieren tragen hier wesentliche Schlüsselfunktion. Der Untertitel lautete ja „Feministisches Komponieren“. Und es ging um Musiktheater in meiner Dissertation. Da taucht auch die Frage auf: Wie platziere ich all die Dinge, die außer Klang und Tönen in meinen Kompositionen eine Rolle spielen im Raum und in der Zeit? Ich arbeite mit Texten, mit Installationen, Video, und kooperiere mit anderen Künstlerinnen und Künstlern. Beim Komponieren denke ich immer das gesamte Geschehen mit, ich muss den Raum stets mit betrachten. Ich komponiere Raumklang. Das Setzen von Zeit in Komposition ist mir früher, als ich als Musikerin tätig war, beim Spielen als Oboistin und Flötistin, oft unpassend erschienen – ich wollte Dinge länger klingen lassen oder schneller vorbei haben. Bei meinen Arbeiten bin ich draufgekommen, dass mir die Zeit weniger wichtig ist als der Raum. Jetzt versuch ich mehr, Dinge in den Raum zu stellen und zu erspüren, wann das Geschehen dann kippt und sich verändern oder gehen muss. Natürlich ist der Umgang mit der Zeit ein notweniges Kriterium, aber ich gehe zunächst von Veränderungen im Raum aus. Lineares Zeitdenken reicht dafür nicht aus. Und ich möchte auf keinen Fall ein feministisches Produkt haben. Das Feministische ist eine Frage der Arbeitsweise für mich. Der Filmemacher Jean-Luc Godard antwortete auf die Frage, ob er politischen Film mache: „No, I make films politically.“ Ich produziere keine dezidiert feministischen Inhalte oder Manifeste, sondern habe eine feministische Art, Entscheidungen zu fällen. Beim Komponieren fällt man ständig Entscheidungen. Wenn ich Entscheidungen aus einem Rahmenwerk des Feminismus herausfälle, müsste sich am Ende vielleicht etwas zeigen. Aber das weiß ich nicht sicher.
Ich habe den Eindruck, dass du durch deinen Werdegang viel mehr gezwungen warst, zu hinterfragen: Wo ist mein Platz? Darf ich überhaupt einen Platz beanspruchen? Das ist in unserer Gesellschaft ein weibliches Thema. Ist es auch deine Intention, für Frauen Plätze zu finden und anzubieten?
Pia Palme: Es gibt dieses Zitat von Maria Lassnig: „Wenn man als Frau nur halbwegs denkt, kommt man nicht umhin, Feministin zu werden.“ Es ist mehr eine gesellschaftliche Realität, die Frauen dazu zwingt. Aber darüber hinaus liegt es auch beim Komponieren selbst: In der Musikgeschichte ist nach wie vor dieser unsägliche sogenannte Kanon, der nach wie vor in allen Lexika, auf allen Unis, in allen Konzerthäusern eine Rolle spielt, abgebildet in den Büsten der Komponisten, die überall aufwarten, egal, wo man auf der Welt hinkommt. Das steckt im Denken, im Kuratieren und ich hab mich nie als Teil dessen gefühlt. Mein Zugang zur Freien Szene hat mir da aufgeholfen. Denn ich möchte herausfinden, was ich als Komponistin wirklich will, was ich mir vorstelle. Und ich möchte ganz zurück an den Anfang der Geschichte gehen, mindestens zur Barockmusik. Dann schiebe ich mal alles beiseite, was später kommt, fang von Neuem an und bau mir so eine eigene Wachstumslinie.
Ohne durch diese ganzen Schichten durch zu tauchen, die unweigerlich Sedimentablagerungen in dir zur Folge hätten …
Pia Palme: Genau, das lass ich weg und gestalte so meinen Anspruch von Radikalität: von der Wurzel her immer wieder neu anzufangen, ganz experimentierfreudig zu schauen, was dabei herauskommt. Das würde ich als feministisch bezeichnen.
Und was machst du mit diesem Kanon?
Pia Palme: Mir ist klar geworden, dass ich wie ein eigenständiges Gewächs außerhalb dieses Kanons schwinge. Der Kanon scheint wie ein einziger Stamm, ich wachse daneben. Und es gibt eine Menge solcher Gewächse wie mich, vorrangig Frauen, People of Colour oder andere, die bis jetzt nicht in den Kanon passen. Es wächst ein ganzer Dschungel rundherum und der Kanon ist nur ein einziger, dicker, alter Baum im Wald! Und der weite Wald drum herum interessiert mich viel mehr.
„[…] mir erscheint das Ökosystem als ein viel besseres Modell für die Musik als ein Kanon.“
Und schon sind wir wieder bei der Ökologie …
Pia Palme: Es gibt ja eine feministische Ökologie. Der Begriff Feminismus kann im Sinne einer Grundlage, einer Erweiterung für Horizonte und Potenziale gelten. Insofern ist dieser Stempel für mich okay. Viel wichtiger ist aber der überaus prekäre Zustand der Erde. In den letzten Jahren verbrachte ich einmonatige Residencys in recht entlegenen Gebieten und habe dabei in unterschiedlichen Gegenden und Gesellschaften gelebt. Mir ist dabei das Anthropozän, also die fundamentale Einwirkung des Menschen auf die Erde, eindrücklich bewusst geworden. Die globale Vernetzung beeinflusst auch meine künstlerische Arbeit und mir erscheint das Ökosystem als ein viel besseres Modell für die Musik als ein Kanon. Das zeigen auch jüngere Ereignisse wie die Debatte am ZKM: Eine globale Sichtweise greift um sich und erfordert immer wieder und weiter Öffnung.
Der Blick aus dem eigenen kulturellen Kontext kann nicht nur gewinnbringend sein, sondern auch einen Zugang zu einer viel vollständigeren Wirklichkeit ermöglichen. Der Bezug zur Ökologie ebenso als inhaltlichen wie strukturellen Fundus erfordert Zirkularität ganz entgegen unserem westeuropäischen Denken. Und Komponieren ist doch zuallererst musikalisches Denken, oder?
Pia Palme: Für mich ist Komponieren sehr körperlich, also ein körperliches Denken. Auch Gefühle gehören dazu. Denken ist alles, was ich in meinem Kopf und Körper mit einem Bewusstsein registriere. Das kommt vielleicht auch daher, weil mein musikalisches Werken mit dem Instrumentalspiel begann und ich als Musikerin ausgebildet bin. Wenn ich etwas notiere, habe ich also zeitgleich fast ein Bild eines Körpergefühls zu deren Ausführung. Und andererseits skizziere ich oft mit Bleistift oder am Computer, wo immer auch der Körper mittut, was ich sehr deutlich spüre. Viele Stücke entstehen ja in Kollaborationen mit Performerinnen und Performern, wodurch sie per se sehr körperlich werden. Ich habe diese Performerinnen und Performer zum Teil beim Komponieren vor meinem geistigen Auge präsent, über sehr lange Zeit hinweg, Tage und Wochen lang, fast wie in einer Liebesbeziehung, wenn man oftmals sehr plastisch besessen wird von einer Person.
Herzlichen Dank für das Gespräch!