Hätte ANNA MABO nicht irgendwann zur Gitarre gegriffen, man hätte sie ihr in die Hand drücken müssen. Die Wiener Regisseurin und Musikerin veröffentlicht mit „Notre Dame“ ihr zweites Album, das mit Leichtigkeit beginnt und nach der Apokalypse endet. Eine Platte wie eine Sammlung an Wienerliedern ohne Wiener*innen – ein Abend beim Heurigen als Vibe, der sich dem Instagram-Blickwinkel verstellt. Ohne Kopfweh am nächsten Tag. Dafür mit einer Geschichte, die bleibt. Um sie zu erzählen, mit ihr durch die Nacht zu wandern und sie weiterzuschreiben. „Wir haben unsere Jugend in Stanniolpapier verpackt“, singt ANNA MABO. Und man glaubt ihr. Will es tun. Weil Grundvertrauen und Hoffnung sich auf „Notre Dame“ die Hände reichen. Warum sie in asiatischen Familienalben als Taylor Swift durchgeht, was man von Michael Häupl über Spritzwein lernen kann und wieso ein Algorithmus nie einen Song von ANNA MABO schreiben wird, hat die Sängerin im Gespräch mit Christoph Benkeser erklärt.
Dein Fahrrad sei gestohlen worden, hast du vorhin am Telefon gesagt.
Anna Mabo: Es ist urtraurig, weil es ein Ikea-Fahrrad war, das meiner Oma gehörte.
Oje, dabei hast du doch – wie du im „Fahrradschloss“ singst – gerade erst den Code für das Schloss gewechselt!
Anna Mabo: Das war eine absichtliche Irreführung! Der Code ist der Geburtstag meiner Mutter. Das sag ich im Lied aber nicht. Trotzdem habe ich mir überlegt, ob das Lied auch für meine Mutter funktioniert.
Und?
Anna Mabo: Es funktioniert – bis auf das Ende. Sich anzutrinken und bis Mittag zu schlafen, das funktioniert mit meiner Mutter nicht.
Nein?
Anna Mabo: Sie ist Jus-Professorin.
Das heißt ja nichts.
Anna Mabo: In ihrem Fall schon … na ja, jedenfalls war es das erste Fahrrad, das man mir gestohlen hat.
Ab dem dritten wird’s anstrengend!
Anna Mabo: Ja, es war naiv. Früher habe ich mein Fahrrad nie abgesperrt. Alle glaubten, das sei ein Trick, weil niemand einfach so sein Fahrrad stehen lässt.
Ohne Schloss – und ohne Code! Dabei hast du auch deine Handynummer auf dem Song „Apokalypse“ ausgeplaudert.
Anna Mabo: Da habe ich mir gedacht, ich werde eh nie so berühmt, dass ich tatsächlich von Leuten angerufen werde, die nicht mit mir verwandt sind. Außerdem hat man mir gesagt, ich nuschle so, dass man nichts versteht. Lustig wäre es aber gewesen, die Handynummer meines Bruders anzugeben.
Der Spider-Murphy-Gang-Schmäh!
Anna Mabo: Unter Zweiundreißigsechzehnacht …
Da riefen die Leute übrigens wirklich dauernd an.
Anna Mabo: Das habe ich mal im Fernsehen gesehen. Die haben da auch zum Spaß angerufen – und landeten bei einem Seniorinnen- und Seniorenheim.
Hat bei dir schon jemand angerufen?
Anna Mabo: Ich heb bei Nummern, die ich nicht kenn, ganz selten ab – außer es ist der Lieferdienst. Deshalb weiß ich es gar nicht. Aber ich habe eine WhatsApp-Nachricht von einem älteren Herren bekommen. Auf seinem Profilbild sieht man ihn auf seiner Harley sitzen. Er schrieb, er habe gerade das Album gehört, sei sehr berührt und komme nun der Aufforderung nach, die ich im Song mache.
Ja, du formulierst es als Einladung dich anzurufen.
Anna Mabo: Nach der Apokalypse! Deshalb ist es eine Einladung, die noch gar nicht gilt. Aber wenn es gilt, will ich nicht Gefahr laufen, die falsche Handynummer angegeben zu haben.
Wobei man sich fragen kann, ob es nach der Apokalypse überhaupt noch etwas gibt.
Anna Mabo: Zumindest die Hoffnung! Es ist dasselbe Prinzip wie damals, als man die Schallplatte ins All geschossen hat. Die Chance, dass sie irgendjemand abspielen kann, ist gering. Trotzdem weiß man es nie ganz.
„NACH DER APOKALYPSE WÜRDE ICH SCHON ANS HANDY GEHEN.“
In deinem Fall kann es aber auch schön sein, dass dir Leute – wie der angesprochene Herr – schreiben und sich für deine Musik bedanken.
Anna Mabo: Dabei könnte man mir ja auch auf Instagram schreiben. Früher war das anders. Die eigene Handynummer herzugeben, das war ein Ding. Heute macht das niemand mehr, weil man eh weiß, dass man alle jederzeit auf irgendeine Weise erreichen kann.
Vielleicht ist es nahbarer …
Anna Mabo: Übrigens, auf Instagram hat mir auch eine ältere Frau aus Salzburg geschrieben. Sie hat mich eingeladen – auf Tee oder Eierlikör.
Die Rahmenplanung für den nächsten Gig in Salzburg ist fixiert! Aber das war Insta, das ist schon nochmal was anderes, als jemanden anzurufen.
Anna Mabo: Dabei telefoniere ich gar nicht gern. Auf meiner Mailbox habe ich sogar meine E-Mail-Adresse hinterlegt, weil ich lieber schreibe. Außerdem weiß man doch nie, in welcher Situation man jemanden stört, wenn man anruft. Nach der Apokalypse würde ich allerdings schon abheben.
Im Notfall, immerhin!
Anna Mabo: Ja weißt, Telefonieren ist immer so ein Commitment.
Weil es Gleichzeitigkeit voraussetzt.
Anna Mabo: Deshalb ist es intimer, eine Handynummer herzugeben … wobei man via Facebook auch anrufen kann, aber das ist wirklich weird.
Das geht schon in die Stalking-Richtung.
Anna Mabo: Ja, genau. Dann lieber SMS, das ist auch so ein Retro-Ding.
Das macht auch niemand mehr.
Anna Mabo: Der einzige Mensch, mit dem ich noch SMS schreibe, ist mein Vater. Das hat dann eine gewisse Ernsthaftigkeit – und kommt gleich nach der E-Mail und dem Brief!
Ja!
Anna Mabo: Früher – das klingt jetzt, als wäre ich schon so alt! – waren Ketten-SMS noch ein Ding!
Du meinst Kettenbriefe als SMS?
Anna Mabo: Ja, genau. Das war doch mal richtig …
Ja, das Verschicken hat auch noch gekostet. Außerdem hatte man ein Limit von 1000 SMS im Monat.
Anna Mabo: Das verbrauchten aber nur die coolen Kids!
Hast du die alle aufgebraucht?
Anna Mabo: Ja, aber ich hatte nur 100 oder so. Deshalb schrieb ich immer gerne längere Nachrichten. Das war aber nicht einfach, weil man manchmal Nachrichten löschen musste, um neue empfangen zu können!
Das waren Probleme!
Anna Mabo: Ich war wahrscheinlich Teil der letzten Generation, die noch eine halbwegs analoge Kindheit hatte. Facebook hatte ich erst mit 19 – da war ich in den USA, dort hatte niemand ein Handy, aber alle Facebook.
Wo warst du da?
Anna Mabo: Im Silicon Valley bei Palo Alto. Meine Mutter unterrichtete dort an der Uni. Ich war gerade mit der Schule fertig. Also kam ich mit – und verlernte das Englisch, das ich davor konnte.
Wieso?
Anna Mabo: In Kalifornien kommt einfach niemand aus den USA! Ich hatte dauernd Kontakt mit Leuten aus dem Irak, aus Brasilien und so weiter. Die hatten alle einen verrückten Akzent. Deshalb konnte ich nur mein Arnold-Schwarzenegger-Englisch ausbauen.
So ein bisserl wie Werner Herzog zu reden, ist doch charmant.
Anna Mabo: Es hat leider auch den Nazi-Touch, den Christoph Waltz in „Inglorious Basterds“ gesprochen hat. Aber apropos Werner Herzog, hast du schon seinen neuen Film auf Netflix gesehen?
Family Romance meinst du?
Anna Mabo: Nein, Into the Inferno! Aber es gibt einen ganz neuen?
Ja, den habe ich auf Mubi gesehen.
Anna Mabo: Das wurde mir schon oft empfohlen. Allerdings bin ich entscheidungsschwach und oft schon mit Netflix urüberfordert.
Mubi ist immerhin konzentriert kuratiert.
Anna Mabo: Ja, und man findet dort gute Sachen, oder? Auf Netflix ist es eher so … die Gehirnzellen schmelzen, während man sich die Chicken McNuggets reinstellt. Das ist auch so ein Ding, das wirklich an Wert verloren hat im letzten Jahr: Früher hieß es, lass uns einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher verbringen. Inzwischen kann ich das fast nicht mehr.
Es kommt der Punkt, an dem es einfach zu viel ist …
Anna Mabo: Und man nicht mehr weiß, ob man da gerade einen guten Film gesehen hat oder nicht! Einfach weil man danach noch einen sieht. Und vielleicht noch einen.
Das hat ein bisserl was von Viennale, aber ausgedehnt auf …
Anna Mabo: Eineinhalb Jahre zu Hause im Lockdown! Die Sache ist: Ich kann Filme nicht nicht fertigschauen. Ich reg mich dann auch nachhaltig auf. Zum Beispiel über diesen Steve-Jobs-Film, der war wirklich schlecht!
Ashton Kutcher wird es dir verzeihen.
Anna Mabo: Den Film habe ich mir übrigens nur angesehen, weil ich Statistin war. Zumindest glaubte ich das. Dabei war ich Statistin im anderen Film über Steve Jobs mit Michael Fassbender.
Wie?
Anna Mabo: Ja, das hat sich ergeben, als ich damals in den USA war. Wir saßen im Auditorium, wo Steve Jobs den ersten Mac präsentierte und applaudierten. Aber man sieht mich nicht. Ich war zu auffällig angezogen!
Du wolltest es zu sehr!
Anna Mabo: Stimmt! Die sagten, es bräuchte Kleidung aus den 80ern. Ich fand das ursuper und kreuzte auf wie ein Zebra. Deshalb haben sie mich in die letzte Reihe versetzt.
Und du hast Michael Fassbender nie kennengelernt?
Anna Mabo: Der war gar nicht da, sondern nur ein Animator, der uns zum Klatschen aufforderte. Das Foto ging sich also nicht aus!
Schon schade.
Anna Mabo: Dafür wurde ich schon oft fotografiert. Nicht, weil man mich als Anna Mabo erkennt. Sondern weil mich asiatische Touristinnen- und Touristengruppen in Kalifornien manchmal für Taylor Swift gehalten haben. Die kamen auf mich zu und meinten: „You’re Taylor Swift!“ Und ich so: „No, I’m not Taylor Swift!“ Und sie so: „Ah okay, but can we take a picture anyway?“
Auf wie vielen asiatischen Diashows du schon als Taylor Swift verkauft wurdest!
Anna Mabo: Ja, man merkt, es ist echt egal. Da fällt mir ein: Mit Michael Häupl konnte ich auch mal ein Foto machen. Da war ich sehr klein und wurde später rausgeschnitten. Jetzt ist nur noch Jakob, mein Bruder, auf dem Foto!
(Anna zeigt das Foto auf ihrem Handy her.)
Das könntest aber auch du sein.
Anna Mabo: Ja, mein Bruder und ich wurden oft verwechselt.
Das Foto ist aber super: Michael Häupl wie er leibt und lebt!
Anna Mabo: Wegen ihm weiß ich, wie man Spritzer macht!
Tatsächlich?
Anna Mabo: Na, zuerst das Wasser und dann den Wein! Mein Wein haut ma nix am Schädl, hat er gesagt. Das ist aber eher eine Philosophie als eine tatsächlich Mischanleitung.
„THOMAS BREZINA HAT MIR GUTE BESSERUNG GEWÜNSCHT. UND ICH HABE AUFGELEGT.“
Da kommen bei dir schon ein paar gute Promi-Geschichten zusammen.
Anna Mabo: Ja, wart, ich habe auch immer bei Tom Turbo angerufen, weil ich den Jahresvorrat Salami gewinnen wollte. Mein Vater war zu dieser Zeit Kulturstadtrat und telefonierte wegen irgendwas mit Thomas Brezina. Ich bekam das mit, weil ich krank zuhause war – und bin noch blasser geworden. Das ist ja der von Tom Turbo, dachte ich mir. Auf einmal reichte mir mein Vater das Telefon. Ich brachte kein Wort raus, habe nur genickt. Aber das konnte er ja nichtsehen! Also hat mir Thomas Brezina gute Besserung gewünscht. Und ich habe aufgelegt.
Die Geschichte solltest du ihm mal erzählen. Ich beneide ihn ja um seinen Drive, irgendwo zwischen 500. und 600. Buch!
Anna Mabo: Die Bücher habe ich auch immer gelesen! Vor allem die mit Bronti, dem Brontosaurus!
Mit dem Dinosaurier?
Anna Mabo: Ja, das sind meine Lieblingstiere. Der Brontosaurus war super, weil in Kinderbüchern für Mädchen immer nur Pferde vorkamen. Pferde habe ich aber nie verstanden.
Gender-Marketing oje …
Anna Mabo: Ja, ich wollte als Kind immer ein Bub sein. Lustigerweise hatte mein Bruder immer lange Haare. Dabei waren meine Eltern schon eher konservativ – das würden sie sicher auch über sich selbst sagen – aber im Gender-Bezug hatten sie eine hippieske Einstellung! Wir durften anziehen, was wir wollten. Ich lief zum Beispiel eine Woche mit einem Shirt rum, auf dem stand: Schule gefährdet die Gesundheit. Mit sieben wünschte ich mir einen rosafarbenen Ski-Overall. Den bekam ich aber nicht, weil meine Mutter wusste, dass ich ihn im nächsten Jahr nicht mehr gut gefunden hätte.
Die Mama!
Anna Mabo: Ja! Sie hat mir auch Bücher von Christine Nöstlinger gegeben. Die Geschichten vom Franz fand ich toll. Gretchen Sackmaier auch. Das sind Geschichten über ein Mädchen, aber es ging um den Umgang als Frau und nicht um die Voraussetzung, die das ganze Leben als Frau beeinflusst.
Das fand ich bei Christine Nöstlinger auch immer schön. Heute gibt’s sogar Überraschungseier in Pink und Blau.
Anna Mabo: Ja! Aber schau, ich habe mir letzthin eins gekauft. Weißt du was drin war? Ein QR-Code?
Echt?
Anna Mabo: Das ist jetzt der Gag! Du bekommst kein Plastikspielzeug mehr, sondern einen Code, den du mit deinem Handy scannen kannst, um ein Spiel zu spielen. Das ist zwar genderneutral aber trotzdem scheiße!
Verrückt!
Anna Mabo: Über so etwas könnt ich mich ewig aufregen. Wie auch immer … Ich wollt zwar immer ein Bub sein, aber nur, weil ich anders sein wollte. Als ich akzeptiert habe, dass ich eine Frau bin oder zu einer gemacht werde, habe ich begonnen, mich anders zu verkleiden. Nicht mehr als Bub, sondern als Freak. Als Kind war ich eine Zeitlang bei den Pfadfindern, da gab es zwar gemischtes Programm, aber oft auch getrenntes. Die Buben durften im Wald rumspielen, die Mädchen einen Obstsalat machen und über ihre Gefühle sprechen. Da denkst du dir schon, wie soll so jemals ein weibliches Staatsoberhaupt rauskommen?
Aber du wolltest es immer schon anders.
Anna Mabo: Dafür brauchst du aber urviel Selbstvertrauen. Zum Glück hatte ich das als Kind. Inzwischen kann ich das alles reflektieren, in Gießen habe ich sogar ein Semester Gender Studies und Philosophie studiert, viel in die Richtung gelesen. Da habe ich gemerkt, dass der Diskurs sehr akademisch ist. Das ist auch nicht alles super. Es geht um die Einstellung. Aber ich frage mich oft selbst, ob ich den eigenen Standpunkt klar genug äußere …, weil, in der Kunst ist dieser Standpunkt sicher nicht immer das Wichtigste.
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Der Standpunkt muss einem liegen.
Anna Mabo: Ja, manche können das so gut in ihren Texten. Aber die Frage ist: Inwiefern muss man sich in der Kunst äußern und inwiefern muss man sich als Künstlerin oder Künstler äußern? Reicht es, wenn ein Josef Hader bei der Demo für die Aufnahme von Flüchtlingskindern spricht – oder muss er ein Programm darüber machen? Das ist der Punkt, oder? Der Klimawandel ist auch so ein Thema. Wenn man nur über Bäume singt, muss das schon sehr gut sein, dass es nicht …
Cheesy klingt?
Anna Mabo: Oder erzieherisch! Das sind Fragen, die ich für mich selbst noch nicht beantwortet habe. Gleichzeitig kann die Kunst andere Welten aufmachen. Welten, die anders sind als die echte. Man verwendet nicht nur Wörter, zeigt Bilder und spielt Theaterstücke, die die Realität abbilden, sondern erfindet etwas.
Kunst kann Fiktion sein, die vorgreift. Quasi spekulative Fiktion, die eine Zukunft abbildet, die erst kommt.
Anna Mabo: Das ist so ein bisserl wie beim Tatort … war das der Kölner? Egal! Es gab jedenfalls eine große Aufregung, weil dort fast alle Polizistinnen und Polizisten im Revier Migrationshintergrund hatten. Die Leute sagten, das sei doch gar nicht wahr. Aber natürlich: Es könnte eines Tages so sein – durch die Repräsentation, die eine Realität schafft. Mit dem Thema Klimawandel lässt sich das trotzdem schwer vergleichen. Man fühlt sich manchmal machtlos …
Dein Song „Kirche“ nimmt sich dem Thema nicht direkt an. Er verhandelt trotzdem unfassbar viel – und ist – hands down – einer der besten österreichischen Popsongs der letzten Jahre.
Anna Mabo: Ja, das ist einer, bei dem man zuhören muss, oder? Für einen Popsong ist das normalerweise schwierig. Es fängt mit Notre Dame an und es geht über drei Strophen, die sich mit den kleinen und großen Katastrophen auseinandersetzen. Erst in der dritten Strophe sage ich, mit manchen Veränderungen, die das Leben interessant machen, müsse man leben. Wenn das Kind aufhört, sich in die Windel zu kacken, ist das eine Veränderung. Es ist alles anders – und man darf der Vergangenheit nicht nachtrauern. Die Veränderung ist kein Verlust, sondern ein Fortschritt. Das ist natürlich eine zweischneidige Sache. Wenn Donald Trump als US-Präsident permanent fürchterliche Sachen gesagt hat, hat sich auch eine Gewohnheit eingestellt. Es waren multiple Einzelfälle, bei denen viele gar nicht mehr zugehört haben.
Zuerst die Gewohnheit, dann der Verdruss.
Anna Mabo: Und mit jedem Einzelfall verschiebt sich die Grenze des Sagbaren! Kannst du dich an das Foto von Strache bei seinen sogenannten Wehrsportübungen erinnern? Da dachte man auch, dass er dafür zurücktreten müsste. Hat er nicht getan. Und schon hat sich die Grenze verschoben.
Das kann man aktuell auch ganz gut beobachten.
Anna Mabo: Man fragt sich, wieso diese Dinge auf einmal normal erscheinen. Vor Kurzem gab es doch das Böhmermann-Video über Kurz. Wenn man sich das von außen ansieht, denkt man sich schon: That’s pretty fucked up! Wir hören jeden Tag, dass irgendwas geschreddert wurde, jemand mit seinem Laptop spazieren geht, dort ein Freund einen Posten bekommen hat – und man denkt sich kaum mehr was dabei! Im Gegenteil: Man glaubt, dass das alles nicht so krass sei, wie die Kronen-Zeitung an eine Oligarchin zu verscherbeln. Trotzdem ist das nicht normal!
„ICH VERTRAUE DARAUF, DASS SICH EIN DEMOKRATISCHES SYSTEM GEGENSEITIG STÜTZT.“
Man bräuchte öfter diesen Blick von außen, um sich all die multiplen Einzelfälle vor Augen zu führen, oder?
Anna Mabo: Ich setze mich gern mit Innenpolitik auseinander, aber ich verstehe, dass es manche Leute nicht mehr verstehen. Diese Politikverdrossenheit gibt es ja nicht erst seit Corona. Momentan fällt sie nur stärker auf. Wenn man nicht mehr nachvollziehen kann, warum jemand in der Regierung angeklagt wird, entsteht eine Wurschtigkeit. Und das ist demokratiegefährdend!
Der Verdruss führt zum demokratischen Stillstand, ja.
Anna Mabo: Ich vertraue darauf, dass sich ein demokratisches System wie unseres gegenseitig stützt. Zumindest hoffe ich, dass es hält. Die Frage ist: Wenn diese Hoffnung ins Wanken gerät – was bleibt dann?
Das ist ein bisserl wie mit dem Fahrrad: Wenn man es dir einmal stiehlt, denkt man sich: OK. Aber nach dem zweiten oder dritten Diebstahl fängt man an, einen Grant zu bekommen, bis man es ganz bleiben lässt.
Anna Mabo: Man glaubt, dass es immer nur einem selbst passiere; dass alle gegen dich seien; dass man immer das Opfer sei. Und man beginnt, allen zu misstrauen!
Genau, das naive Grundvertrauen verschwindet.
Anna Mabo: Ja, die Entdeckerfreude leidet. Als Kind ist alles, was man macht, toll – weil man keine Angst hat, dass man an etwas scheitert. Man besitzt ein angeborenes Vertrauen in die Welt. Je älter man wird, desto kritischer ist das Umfeld …
Und desto stärker wird abweichendes Verhalten sanktioniert.
Anna Mabo: Schau, ich bin 24. Es ist nicht mehr so, dass man für alles, was man versucht, Applaus bekommt. Mit 18 war das anders. Und mit 30 wird aus dem Rückenwind ein Gegenwind werden, weil die Erwartungen steigen und die Leute immer weniger zurückbekommen. Plötzlich ist man kein Kind mehr, das Unterstützung erfährt, sondern als Konkurrenz in der Erwachsenenwelt wahrgenommen wird.
Und in dieser Veränderung geht das naive Vertrauen verloren.
Anna Mabo: Na ja, wenn ich eine 40-jährige Sängerin treffe, ist es doch egal, ob sie seit zwei oder 20 Jahren singt – vor allem, wenn sie es gut und gerne macht. Wo ist der Unterschied zu einer Zwanzigjährigen, die es auch gut und gerne macht? Warum muss es so gekoppelt sein an die Zeit auf der Erde, die ohnehin alle anders verbringen. Am Alter gemessen zu werden, ist keine Qualität, für die man etwas kann. Ich mein, ich finde auch Billie Eilish gut. Trotzdem heißt es immer: Krass, sie ist ein Weltstar – und erst 18!
Dazu kommt das gut zu verkaufende Narrativ des Bedroom-Genies, das den Erfolg ganz alleine – aus dem Wohnzimmer – feiert.
Anna Mabo: Aber was wäre schlechter daran, wenn Billie Eilish 30 wäre? Dieses Wunderkind-Denken hat man wahrscheinlich noch aus Mozarts Zeiten, der mit sechs Jahren komponierte, während andere in seinem Alter Brot stahlen. Das heißt aber nicht, dass die anderen weniger genial waren.
Ich versteh deinen Punkt, du sprichst den Jugendkult an.
Anna Mabo: Das klingt blöd, weil ich selber jung bin, aber ja: Es gibt die Vorstellung, dass alles besser sei, wenn es junge Leute machen. Obwohl Erfahrung doch was Urcooles ist! Amanda Palmer ist für mich das Beispiel! Sie hat ein Lied, „A Mother’s Confession“, in dem sie zwölf Minuten singt, wie es ist, Mutter zu sein. Bei aller Fantasie, das könnte ich nie erfinden! Man braucht die Lebenserfahrung, um so etwas zu schreiben.
Ich denke auch, dass man Erfahrung eher konservieren als ablehnen müsste. Dass man sie an sich heranlassen sollte – nicht als Ideal, das man verfolgt, sondern als Input aus der eigenen Umwelt.
Anna Mabo: In gewissen Bereichen ist Alter etwas Cooles. Gerade dort, wo es um Erfahrung und Wissen geht. Ich seh das zum Beispiel auch in der Literatur. Eine 21-Jährige kann nicht so schreiben wie Sibylle Berg. Das mag ein blödes Vorurteil sein, aber man verknüpft Wissen mit Weisheit – und Weisheit ist verknüpft mit Alter. In der Musik oder im Schauspiel empfinde ich das anders. Es ist ein Business, in dem man von Künstlerinnen und Künstlern erwartet, dass sie etwas erfinden, was noch nicht da war. Bei älteren Leuten geht man davon aus, dass sie auf etwas zurückblicken, von dem man lernen kann.
Das ist ein interessanter Punkt.
Anna Mabo: Bei älteren Musikerinnen und Musikern ist es doch auch so. Man fragt dann, ob sie sich gut entwickelt haben oder ob sie sich treu geblieben sind. Ich erwähne Judith Holofernes, weil ich Wir Sind Helden in meiner Jugend geliebt habe. Jetzt kommt das neue Album und ich denk mir, das ist einfach nicht mehr so cool. Gleichzeitig find ich es blöd, dass ich so kritisch werde.
Ich kenn das Gefühl. Man erwartet den Stil, an den man sich gewöhnt hat, findet sich für den Gedanken aber selbst furchtbar.
Anna Mabo: Wenn eine Band jahrzehntelang die gleiche Musik macht, denkt man sich: Na, die machen eh immer dasselbe! Wenn sie sich verändern, meinen alle: Aber das erste Album war schon besser!
Genau! Man verliert selbst den Mut, sich neu zu erfinden.
Anna Mabo: Dabei gibt es Leute, die etwas gefunden haben, das ihnen taugt. Gleichzeitig wird der Druck an sie herangetragen, dass sie es ganz oft ganz anders machen sollten. Das ist doch urschwierig, oder würdest du vom Nino aus Wien erwarten, dass er eine Electro-Pop-Platte rausbringt? Natürlich nicht! Er macht sein Ding, und das ist gut so, weil er eine Lücke füllt, die es noch nicht gab.
Stimmt, der Zwang zum Neuen ist auch ganz schlimm. Es wird bei vielen eher ein Zwang zum Selbstzwang.
Anna Mabo: Beim Voodoo [Jürgens, Anm.] war die zweite Platte anders, aber immer noch total seins! Er wollte sich nicht neu erfinden, sondern weitergehen auf dem Weg, den er selbst erfunden hat.
Bei dir klingt „Notre Dame“ auch anders als das erste Album – trotzdem ist es unverkennbar Anna Mabo.
Anna Mabo: Taylor Swift auf Deutsch zu machen, wäre auch nie mein Ziel gewesen. Trotzdem ist es schwer, sich selbst zuzuordnen. Es passiert einfach, ohne, dass ich ein Ziel habe, das ich bewusst verfolge.
Es ist das, was lustige Journalistinnen und Journalisten als „organische Entwicklung“ bezeichnen würden.
Anna Mabo: Kontrollieren kann man das aber nicht. Musik ist das demokratischste Medium, das es gibt. Die Leute hören es oder nicht. Natürlich könnte man sich auch auf Instagram exhibitionieren und viele Videos online stellen, um das eigene Profil zu pushen. In meinem Feed sind lauter Singer-Songwriterinnen aus Deutschland mit 50.000 Followerinnen und Followern. Die posten jeden Tag ein neues Lied, erzählen alles aus ihrem Leben. Das sind Influencerinnen mit Musik, von denen ich nicht mal weiß, ob sie irgendwo live auftreten.
Oder ob es sie überhaupt gibt.
Anna Mabo: Genau! Es zeigt aber, dass es zwei Konzepte gibt. Man verfolgt ein Ziel oder man schaut, wo es hingeht. Bei mir ist es eher Letzteres.
Ich kling jetzt sicher urkulturpessimistisch. Aber auf Insta geht’s oft nur noch um die Symbolik. Man verkauft ein Bild von sich, das man irgendwann zum Ideal kürt und verzweifelt verfolgt.
Anna Mabo: Es ist wie die Matrix in der Matrix! Theoretisch hat man 50.000 Leute, die einem zuhören. Aber ist das wirklich so? Wobei ich Influencerinnen und Influencer nicht mit Musikerinnen und Musikern verwechseln will, die ein Ziel verfolgen. DJ Ötzi wurde auch gecastet – man hat ihn angerufen und gefragt, ob er sich vorstellen könne, den „Anton aus Tirol“ zu machen. Das ist das Musikbusiness, von dem ich nichts verstehe. Leute, die Songs für gewisse Zwecke schreiben und dadurch einem Schema folgen, das funktioniert. Das finde ich gar nicht schlecht. Letztendlich muss es darum gehen, ob der Song einem was gibt. Wenn ihn ein Algorithmus schreiben sollte, ist das auch in Ordnung. Es darf halt nicht nur so sein!
Bei deinen Songs würde sich der Algorithmus eher schwer tun.
Anna Mabo: Ja, beim ersten Album ging es vor allem darum, Geschichten mit Musik zu erzählen. Das erfordert ein Zuhören, die Platte kann nicht einfach im Hintergrund laufen. Bei „Notre Dame“ funktioniert es – auch mit der Band – auf einer ganz anderen Ebene. Das Album folgt trotzdem keinem Schema, das sich gut verkaufen ließe. Was die Frage zulässt, was Kunst ist, wenn sie sich nicht verkauft.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.
Jetzt wird’s metaphysisch!
Anna Mabo: Wie sind wir hier gelandet?
Wir haben einfach zu viel geplaudert. Und dabei wohl über die Musik gesprochen, ohne über die Musik zu sprechen.
Anna Mabo: Dabei könnte es so einfach sein. Das Album entstand in Litschau in einem Container.
Das ist eine gute Geschichte, ja.
Anna Mabo: Ich könnte auch jedes Mal was Anderes erzählen.
Das sich schlussendlich total widerspricht, bis sich die Spuren verwischen.
Anna Mabo: Vielleicht bin ich ja verwandt mit dem Ernst. Oder er war mein Religionslehrer – und wir fingen irgendwann an Musik zu spielen und nahmen eine wienerische Übersetzung von „When The Saints Go Marching In“ auf.
Und dann wechselst du einzelne Variablen, die sich verschränken und gleichzeitig widersprechen.
Anna Mabo: Das könnte sehr lustig sein. Und ein bisserl den Stress rausnehmen aus Interviews. Bei mir gibt es ja noch kein vorgefertigtes Bild, in das mich Medien drängen wollen. Ich kann es selbst formen, ohne es zu kontrollieren, weil man von sich selbst ohnehin immer am wenigsten weiß.
Man kann es vielleicht bis zu einem gewissen Punkt steuern.
Anna Mabo: Ich habe letztens einen Persönlichkeitstest gemacht. Es kam raus, dass ich introvertiert sei. Mein Freund fand das lustig. Aber so seh ich mich. Als meine Mutter denselben Test für mich gemacht hat, stand da: Ich bin immer laut und muss auf die Bühne. Total anders! Der Test sagt also gar nichts über einen selbst aus, sondern wie andere Leute einen sehen.
Die Fremdzuschreibung kann auch erden, oder?
Anna Mabo: Mir sagte mal jemand, dass ich mich auf der Bühne wie Otto Waalkes bewege. Und ich glaub, es stimmt!
Ich muss mir gleich ein Video von deinen Auftritten ansehen.
Anna Mabo: Am Anfang wackelte ich auf der Bühne immer ein bisserl vom rechten aufs linke Bein, ohne die Knie anzuwinkeln. Das macht der Otto natürlich auch. Deshalb versteh ich es. Aber ich seh mich nicht drin.
Aber so etwas zu kritisieren sagt doch mehr über den Kritiker aus als über die Person, an die die Kritik gerichtet ist, oder?
Anna Mabo: Es zeigt, wie alle ein bisschen in ihrer eigenen Welt leben und Dinge anders wahrnehmen. Beim ersten Album haben auch manche gemeint, dass es zu humorig geraten sei. Das kann man schon so sehen, wenn man will. Aber so bin ich halt. Ich muss mich über mich lustig machen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Christoph Benkeser
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