„Ich möchte an sämtlichen Realitäten kratzen“ – Manuela Kerer im mica-Interview

Fast hätten wir uns für dieses Gespräch in meiner Geburtsstadt Dresden getroffen, doch Chaos und Verspätungen infolge des Bahnstreiks haben das verhindert. Verlagerten wir unser Gespräch also wieder in den virtuellen Raum, um MANUELA KERERs musikalische Begegnung mit der Welt und das bevorstehendes Porträtkonzert im Rahmen Jeunesse-Zyklus „fast forward“ am Samstag, 20. Mai 2023 im ORF Radiokulturhaus zu besprechen. Zusammen mit Katrin Beck wird sie ab 2026 die Münchener Biennale für zeitgenössisches Musiktheater leiten und weiten.

Was gab es denn in Dresden für dich zu tun?

Manuela Kerer: Ich war da zusammen mit Katrin Beck für die Münchener Biennale einer Einladung vom Netzwerk Freies Musiktheater gefolgt. Oft finden in diesem Rahmen Treffen für Künstler:innen statt; dieses Mal war es eine Begegnung von Produzent:innen und Festivalbetreiber:innen zu Kooperationsmöglichkeiten usw.

Woraus schöpft man als Komponistin, wenn man zur Kuratorin und Intendantin wird?

Manuela Kerer: Gerade in der Findungsphase stellen wir uns sehr viele Fragen, zum Beispiel, warum wir nicht auch den Osten Europas mit einbeziehen oder nach Übersee (in jeglicher Hinsicht) schauen sollten. Darüber hinaus konnten wir in Dresden wunderbar die Gesichter nationaler Festivals und Aufführungsstätten kennenlernen. Es besteht ja ein riesiger Unterschied zwischen festen Spielhäusern mit starren Strukturen und Festivals mit zwar flexibleren Vorgängen, aber auch viel größeren Unsicherheiten bezüglich des möglichen Budgets. Beides hat Vor- und Nachteile und in beiden Welten/Realitäten möchten wir gern spielen und kooperieren.

Die Münchener Biennale trägt einen Uraufführungscharakter für Musiktheater …

Manuela Kerer: … für musiktheatrale Formen. Hans Werner Henze hat die Biennale 1988 gegründet, um junge Komponist:innen zum Genre der Oper zu bringen. Ein paar Jahre vorher hatte Pierre Boulez gesagt: „Sprengt die Opernhäuser in die Luft, wir brauchen keine Oper mehr.“ Dagegen wehrte sich Hans Werner Henze und wir sind angehalten, auch auf die Wurzeln dieses Festivals zu schauen. Jedenfalls werden wir uns auf musiktheatrale Formen im weitesten Sinn konzentrieren.

Neues Leitungsteam der Münchener Biennale: Manuela Kerer und Katrin Beck
Neues Leitungsteam der Münchener Biennale: Manuela Kerer und Katrin Beck (c) Astrid Ackermann

„Gemeinsam eine Idee zu träumen, ist ein sehr aussichtsreiches Ideal.“

Deine Hingabe an die Gattung Oper lässt diese Intendanz recht folgerichtig erscheinen. Wir sprachen vor Jahren über die Entstehung von „Toteis“. Dort hebst du dieses Genre einerseits in zeitgenössische Atmosphäre, andererseits betonst du den kollaborativen Aspekt von Musiktheaterschaffen. Wo geht dein Blick bezüglich der Biennale?

Manuela Kerer: Der Mensch ist ein mehrsinnliches Wesen, deswegen spielen bei einem Streichquartettkonzert beispielsweise die Atmosphäre des Konzertsaals, der Geruch des Sitznachbarn, die Bewegungen der Musiker:innen und so viele andere Eindrücke eine Rolle – es könnte also auch eine Auffassung von Musiktheater darstellen. Wenn sich dann auf der Bühne – was auch immer die Bühne ist – alles trifft, ist das einfach wunderbar. Zusammenarbeiten wie für „Toteis“ mit dem Autor Martin Plattner und der Regisseurin Mirella Weingarten sind ein Traum, bergen aber natürlich auch ein gewisses Risiko. Da sehe ich meine Aufgabe als künstlerische Leiterin darin, Menschen miteinander ins Werken zu bringen, die auch wirklich miteinander können, sich aber auch aneinander reiben, um genügend Energie freizusetzen. Es ist andererseits mühsam, nur an den Problemen schrauben zu müssen und dabei die Kunst aus den Augen zu verlieren. Im genreübergreifenden Arbeiten steckt so viel unentdecktes Potenzial. Gemeinsam eine Idee zu träumen, ist ein sehr aussichtsreiches Ideal. Oper oder Musiktheater ist für mich schon etwas vom Schönsten, wo sich das alles trifft, was für mich Musik ist.

Was magnetisiert dich, abgesehen von der Liebe zum zeitgenössischen Musiktheater, an deiner neuen Aufgabe bei der Münchener Biennale? Du bist ja in kuratorischen Kontexten schon länger unterwegs …

Manuela Kerer: In dieser Dichte ist die Aufgabe total neu. In einer Jury befasst man sich für eine gewisse Zeit mit bestimmten Werken, beim Ensemble Reconsil bin ich zum Beispiel auch im künstlerischen Leitungsteam, aber da sind wir mehrere und die Zusammenarbeit ist zeitlich begrenzter. Die Doppelspitze ist auch eine Herausforderung, weil viel mehr Kommunikation notwendig ist, um einander an laufenden Prozessen teilhaben zu lassen. Katrin Beck und ich kannten uns zwar schon und wussten, dass wir sehr gut miteinander umgehen können, aber zusammen zu arbeiten, birgt auch ein gewisses Risiko. Uns beide eint, dass wir uns gern ins kalte Wasser werfen lassen, weil nur dann auch etwas entstehen kann, wenn du dich darauf einlässt. Ich weiß, dass wir diese große Aufgabe sehr gut meistern werden, weil wir beide überhaupt keine Kompromisse zulassen. Bestehende Bedenken werden diskutiert, denn wir müssen beide von unseren Entscheidungen überzeugt sein. Ich könnte mir einen Alleingang in dieser Aufgabe gar nicht vorstellen. Ich mag es, im Team zu arbeiten, weil ich allein schon durchs Reden über meine Gedanken weiterkomme. Und jeder Konflikt, jede Reibung, die in unserer Zusammenarbeit unweigerlich auftreten werden, lassen uns zusammen und jede für sich wachsen.

Als Christof Dienz und Clara Iannotta kurzzeitig in Doppelspitze die Klangspuren Schwaz leiteten, sprachen sie davon, sich gegenseitig ihre professionellen Felder zuzugestehen. Gibt es bei euch auch eine Art Arbeitsteilung?

Manuela Kerer: Nein, das ist bei uns komplett anders, obwohl es vielleicht auf den ersten Blick naheliegend wäre. Da Katrin Beck aus dem Musikmanagement kommt, ist ihre Expertise eine andere als meine, die ich aus dem kompositorischen Feld komme. Sie sagt immer: „Ich kann keine Partitur schreiben, aber ich kann sie lesen“, das finde ich ganz wunderbar, außerdem kann sie noch so viel mehr. Es war immer klar, dass wir alle künstlerischen und operativen Entscheidungen gemeinsam treffen wollen. Das finde ich sehr gut. Daniel Ott und Manos Tsangaris haben diese doppelte Führung ja bereits voll ausgefüllt und bewiesen, dass man eine Sache gemeinsam und in ständiger Übereinkunft par excellence ausführen kann. Uns zeichnet nun aus, dass Katrin Beck auf die zeitgenössische Musiktheaterlandschaft von innen und außen schauen kann, und dadurch eine noch größere Chance entsteht, die zeitgenössische Blase zu dehnen, zu öffnen, zu platzen.

Gibt es auch Avancen, politisch einzuwirken?

Manuela Kerer: Wir bezahlen gleich, der arrivierte Regisseur bekommt nicht mehr als die Komponierenden. Es ist in der Kulturwelt über die Jahre eine Unart entstanden, dass das Renommée über die Honorierung entscheidet. In unserer Gesellschaft wird Wertschätzung aber nun einmal sehr oft mit Geld ausgedrückt Wir schätzen vor allem die Qualität und nicht nur große Namen. Außerdem ist die Nachhaltigkeit im kulturellen Schaffen eines unserer ganz wichtigen Anliegen. Wir wollen und müssen uns dieser Thematik substanziell stellen.

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„Man gibt den Menschen einen Schuhlöffel, mit dessen Hilfe sie selbst den Schuh anprobieren und hineinrutschen können.“

Die Motivation des Kunstschaffenden, Inneres nach außen zu tragen, wird bei dir immer von einem Vermittlungsaspekt begleitet, also nicht nur die Geburt des Eigenen, mehr die Einladung zur Bereicherung der Wahrnehmung.

Wie können denn Schienen zu Rezipient:innen gelegt werden, ohne das eigene Werk zu verraten, sich selbst zu verraten oder den Rezipient:innen aus der Augenhöhe zu verlieren?

Manuela Kerer: Und auch ohne von oben herab zu erklären. Viele versuchen Vermittlungsarbeit im Bereich der zeitgenössischen Musik, indem sie auch die Kunst annähern, also simplifizieren. Ich bin entschieden dagegen. Musik braucht nie einen Beipackzettel, wo die Ingredienzien erklärt werden. Katrin Beck und ich sprechen daher auch von Übersetzungen im Sinne des Übersetzens von einem Ufer an das andere (gegenüberliegende), den Rezipierenden etwas zum Erkennen an die Hand zu geben. Bei Kindern sind die Synapsen dafür noch viel freier, im jugendlichen Alter nimmt diese Fähigkeit ab, weil dort die Abgrenzung von den Alten quasi Lebensaufgabe ist, das muss man im Hinterkopf behalten, wenn man sie erreichen will. Aber auch die Vermittlungsarbeit für ältere Menschen ist uns außerordentlich wichtig. Da geht es nicht zuletzt auch um soziale Aspekte wie eine Konzertbegleitung. Man gibt den Menschen einen Schuhlöffel, mit dessen Hilfe sie selbst den Schuh anprobieren und hineinrutschen können.

Die Biennale soll ja auch mehr in die Stadt getragen werden – schweben euch da schon Bewegungen vor, die die Öffnung des Festivals unterstützen können?

Manuela Kerer: Die Biennale ist ein Festival der Stadt München und soll auch ein Spezifikum dieser Stadt sein, womit Münchner:innen sich verbinden (können). Das Aufsuchende und Hineingehen in die Gesellschaft ist also ein vorderstes Kriterium unserer Arbeit.

Gab es einen Gedanken zu dem Umstand, dass jetzt von einer männlichen zu einer weiblichen Doppelspitze gewechselt wird?

Manuela Kerer: Von uns nicht. Natürlich wissen wir, dass wir Frauen sind, und vielleicht gab es diesbezüglich auch Gedanken bei denjenigen, die uns eingesetzt haben. Aber wenn Katrin Beck und ich über Künstler:innen sprechen, kommt es nie in irgendeiner Form zur Sprache, welchen Geschlechts die Künstler:innen sind. Es gibt einen hohen Frauenanteil in unseren Köpfen aufgrund der Qualität ihrer Arbeit. Deshalb brauchen wir auch keine Quote, solange da nichts schiefläuft. Ich finde es gut, wenn alles vorhanden ist. Wir können uns ohnehin nicht nur in zwei auf- oder einteilen. Daher ist es zu wenig, wenn wir nur vom Geschlecht reden. Gleichzeitig schaffen wir den Sprung zum noch Diverseren besser, wenn wir nicht nur davon reden.

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„In der Volksmusik stecken meine Wurzeln und nach Neuem strecke ich ständig meine Fühler aus.“

Am 20. Mai wird es ein Porträtkonzert von dir im ORF Radiokulturhaus mit ganz anderen Werken geben – wie bist du zu diesem Line-up gekommen?

Manuela Kerer: Ute Pinter von der Jeunesse bat mich um ein neues Werk nebst Programmierung meiner Werke für einen Porträtabend. Eine frühere Uraufführung mit der Company of Music ergab eine ungeheuer schöne Begegnung mit beglückendem Austausch. Johannes Hiemetsberger hatte ich kurz zuvor zufällig in München auf der Straße getroffen, alle Zeichen standen also auf GO. Mit Martin Mallaun verbindet mich schon ewig sehr viel, sowohl künstlerisch als auch freundschaftlich. Und an so einem Porträtabend darf ja eine leise Ahnung meiner musikalischen Welt spürbar werden. In der Volksmusik stecken meine Wurzeln und nach Neuem strecke ich ständig meine Fühler aus. Also musste die Zither dabei sein, auch ein Streichquartett: das Gletscherquartett finde ich unheimlich gelungen und die Thematik ist mir sowieso außerordentlich wichtig. Zudem schätze und mag ich das Koehne Quartett einfach total. Die Uraufführung bringt dann alle zusammen: fünf Stimmen, Zither und Streichquartett. 

Was führte dich zum „Seelenblitz“?

Manuela Kerer: Das war ein Auftrag vom Österreichischen Kulturforum New York, gespielt vom Hugo Wolf Quartett. Streichquartette sind die Königsdisziplin und ich habe lange überlegt, was es werden wird. Im Grunde geht es um das Lachen, ganz verschiedene Aspekte des Lachens: rhythmisch, gehirntechnisch, sogar mit Lachkrampf, also mit szenischen Elementen, die auch witzig sind. Bei der österreichischen Erstaufführung wurde es gerahmt von Mozart und Mendelssohn aufgeführt, Mozarts Stück war wohl in der Nacht der Geburt seines Kindes geschrieben worden und ich scherzte beim Publikumsgespräch, dass ich in der Nacht der Geburt meines Kindes wohl nicht werde komponieren können. Betretene Stille war leider die Folge, aber das Stück selbst hat dann heftige Ovationen ausgelöst. Wieder einmal ein Beweis, dass man das Publikum nicht unterschätzen darf. Das hatte vorher einfach nur leise in sich hinein geschmunzelt.

Radio machst du und schriebst in den vergangenen zehn Jahren regelmäßig Kolumnen, von denen eine Auswahl 2020 im Buch „Kerers Saiten“ erschienen sind – welche Saite spricht dabei in dir?

Manuela Kerer: Ich war als Studentin Konzertrezensentin, weil ich mir die Eintrittskarten niemals hätte leisten können. Aber ich bin keine Kritikerin und finde es auch nicht gut, dass Zeitungen Ungelernte ausbeuten und professionellen Journalist:innen die Arbeit wegnehmen. Als ich meinen Dienst quittieren wollte, bat mich die Kultur-Redaktionsleiterin der Südtiroler Tageszeitung Dolomiten, monatlich Kolumnen über Musik zu schreiben – zehn Jahre immer freitags blieb es dabei, wenngleich ich immer wieder aussteigen wollte, aber dann hätte es auch keine Musikkolumne mehr gegeben. Hier hatte mich wahrscheinlich doch auch der musikvermittlerische Drang gepackt, denn Kolumnen-Themen waren immer Komponist:innen, Musik in Verbindung mit tagespolitischen Themen, in kleinen Dosen zeitgenössische Musik. Irgendwann wollte ich endgültig nicht mehr, dann entstand zum Glück die Idee zu dem Buch. Bei der Radiosendung Querschnitte auf RAI Südtirolwar ich anfangs alleine, später kamen noch drei Südtiroler dazu, bis der damalige Intendant meinte, diese Musik sei zu brutal und interessiere niemanden. Jetzt nach einem Führungswechsel bin ich zu vier Sendungen im Jahr eingeladen und bin froh, auf diese Weise den kleinen Platz für die zeitgenössische Musik im Lokalradio erhalten zu können.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock (Sprechgold)

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Termin:
Jeunesse Porträtkonzert | Manuela Kerer
Samstag, 20. Mai 2023, 20:00 Uhr
ORF RadioKulturhaus
Argentinierstraße 30a, 1040 Wien

Links:
Manuela Kerer
Manuela Kerer (Musikdatenbank)
Münchener Biennale