„Four Roses“, seine erste Platte mit der damaligen Band LUBRIC FLOW, brachte LORENZ RAAB 2004 den HANS-KOLLER-PREIS in der Kategorie „Newcomer des Jahres“ ein. Unzählige Bands und sechzehn Jahre später hat sich Bestehendes von Flüchtigem getrennt, Jubiläen stehen an, doch sein Œuvre bleibt überwältigend. Wie er seine Rolle als Bandleader interpretiert und was ihn mit Miles Davis verbindet, erzählte er Sylvia Wendrock.
Ab wann ist eine Formation eine Formation, die einen Namen bekommt?
Lorenz Raab: Es gibt auf jeden Fall eine Vielzahl von Gangarten, die ich gepflegt habe. Bleu hat sich gefunden, weil Rainer [Deixler; Anm.] und ich uns dachten, dass es doch gut wäre, mit Ali [Angerer; Anm.] etwas zu dritt zu machen: Tuba, Trompete, Schlagzeug, Ali zusätzlich noch mit seinem Hackbrett. Sehr schnell erkannten wir, dass wir doch einen recht speziellen, eindeutigen Klang erzeugen. Mittlerweile haben wir fünf Alben herausgebracht und feiern dieses Jahr unser zwanzigjähriges Bestehen. Etwa fünf Jahre später kam dann die :xy Band, mit der ich mehr Improvisierendes nach der ersten klassischen Jazzquintett-Platte machen wollte. Aber auch da war der junge Herbert Pirker am Schlagzeug, der gerade in die Szene kam und mich für einen Gig zu viert mit Bernd Satzinger und Philipp Jagschitz fragte. Das war die absolut schärfste Drum-’n’-Bass-Abteilung, die ich jemals erlebt habe! Und wir haben nur gejammt … Oliver Steger hatte damals schon im Café Drechsler begonnen, mit ihm hatte ich bereits in einer anderen Band, Forms of Plasticity, Kontakt gehabt. Und so wurde mir klar: Oliver, Herbert und ich. Abgeleitet vom Jazzquintett suchte ich noch nach einem Frontman, das ging von Bläser in Richtung Streicher und irgendwann war ich so beeindruckt, wie Matthias Pichler seinen Bass spielt, dass er mein innerlicher Frontman wurde.
Und wie kamst du zu Christof Dienz und der Zither?
Lorenz Raab: Ich begegnete ihm, der eigentlich klassisch ausgebildeter Fagottist und Komponist ist, 2004, als er sein Stück für Zither selber spielen musste, weil der Zitherspieler mit seinen Noten nichts anfangen konnte. Dort hat er die Liebe zu diesem Instrument und zu dem, was man darauf machen kann, entdeckt. Er hat also autodidaktisch und richtig von innen heraus das Zitherspiel erlernt. Er gab mir seine Zither-Solo-CD „Dienz zithert“, was völlig schräg war, weil ich ihn als Fagottist kannte, und ich lud ihn zur :xy Band ein.
„So wird aus meiner Musik dann auch unsere Musik.“
Das muss ein gutes Gespür für das Zusammenspiel der Musiker sein, damit die Bands so lange zusammenbleiben.
Lorenz Raab: So finden sich alle Projekte, die ich gestaltet habe. Es ist jetzt zum Beispiel auch eine „vorläufige“ Eintagsfliege dabei, das Duo mit Sylvie Courvoisier, das in Saalfelden gespielt hat, wird punktuell bleiben, weil sie keine Zeit hat. Da erfinde ich als Solist Konzepte und biete sie Veranstalterinnen und Veranstaltern an, die dann je nach Interesse, Wohlwollen oder Budget eben angenommen werden oder nicht. Davon kann dann auch zum Teil das Überleben der Formationen abhängen. Anders war es im letzten Jahr, als ich von Kunst & Kultur Raab für deren 40-Jahr-Feier angefragt und gebeten wurde, eine Band zusammenzustellen. Zeitgleich ist Philipp Nykrin aus der Band von Ö1 für die Radiosessions zu „In a Silent Way“ angefragt worden, sodass diese neu gegründete Band gleich noch einen Auftrag bekam. Und jetzt habe ich diese Band. Und die Nachfrage ist ungebremst, bis in den Herbst haben wir Gigs, obwohl diese Band noch keine Platte hat. Sie stützt sich natürlich auf den wahnsinnig berühmten Namen Miles Davis. Ein paar Stücke habe ich für die Band auch geschrieben. Obwohl … es ist eine Mischung. Ich komponiere eigentlich nie etwas komplett Neues und immer für die Musikerinnen und Musiker, die das Stück dann ausführen. Ich teile also nicht Miles Davis’ Vorstellung von einem Bandleader, der vorgibt und zehnmal so viel abcasht wie seine Musikerinnen und Musiker. Hier verdienen alle gleich und ich sage nicht, was zu tun ist, sondern schaue, was beim Spielen herauskommt. So wird aus meiner Musik dann auch unsere Musik. Kompositionen bleiben oft auch fragmentarisch, sind die Idee einer Person und werden dann bei der Ausführung durch die anderen Bandmitglieder zu etwas anderem hingeführt.
Was macht man mit so einem großen Namen wie Miles Davis? Stört das nicht irgendwann auch?
Lorenz Raab: Da fragst du genau das, was ich immer vermieden habe zu tun. Ich bin Interviewerinnen und Interviewern bei dieser Frage bislang aus dem Weg gegangen und habe gesagt: „Vorbilder kann ich keine nennen.“ Und jetzt ist diese Tür aufgegangen und diese Überschrift plötzlich da: „In a Silent Way“. Sie kam übrigens von der Ö1-Ankündigung und wurde eins zu eins übernommen, weil alles so schnell zueinander kam und das Interesse der Veranstalterinnen und Veranstalter uns quasi überrollte. Auch das Feedback ist ja ungebremst super, wie zuletzt in Saalfelden und im Porgy & Bess. Vor Kurzem saß ich mit einem Veranstalter zusammen, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass die meisten wahrscheinlich denken, der Titel sei von Miles Davis, derweil ist er ja von Joe Zawinul und wir beziehen uns lediglich auf fünfzig Jahre dieses gleichnamigen Albums von Miles Davis.
Denkst du daran, noch mehr von Miles Davis’ Musik zu bearbeiten?
Lorenz Raab: Mein Hauptaugenmerk liegt jetzt eigentlich auf dem Trio Bleu. Die Platte mit RaaDie ist gerade mal ein Jahr alt, damit versuchen wir momentan einen Fuß nach Deutschland zu setzen und weitere Kreise ins Ausland zu ziehen. Also haben die Sachen zu Miles Davis keinen vordergründigen Stellenwert, aber es kommen die Veranstalterinnen und Veranstalter zu mir und mir macht die Zusammenarbeit mit dieser Band auch wahnsinnigen Spaß, also warum nicht auch mehr Miles Davis? Ich verfolge mittlerweile auch mehr als früher begonnene Pfade, konzentriere mich mehr auf das Duo RaaDie. Christof Dienz wird dafür komponieren, er ist der schnellere von uns beiden. Und das ist eine Entwicklung, die sich abzeichnet: Wir komponieren Stücke mehr aus, lernen uns nach diesen zwanzig gemeinsamen Jahren doch noch einmal neu kennen, indem wir Stücke füreinander schreiben, während früher in der :xy Band beispielsweise relativ frei gespielt wurde, Themen und Harmonien waren sehr offen, aber es gab keine Cues, man musste nicht wahnsinnig viel wissen.
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Wie komponierst du sonst?
Lorenz Raab: Ich habe es meist eiliger als Christof. Er nimmt sich Tage und Wochen Zeit, um eine Idee auszuarbeiten und zu komponieren. Bei mir fliegen sie eher herum und werden nur kurz festgehalten, um bald wieder fliegen zu können. Diese verschiedenen Ansätze sind auch sehr spannend. Womit wir wieder bei Miles Davis wären: Er hat eine ganze Platte unter seinem Namen rausgebracht, aber die Musik ist von Wayne Shorter, vom ersten bis zum letzten Stück.
Die Improvisation ist ja wesentlich für das Funktionieren einiger Bands. Wie organisierst du das, einerseits Bandleader zu sein und Vorgaben zu machen, andererseits gleichberechtigtes Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung der Songs zu ermöglichen?
Lorenz Raab: Die Richtung definiert sich in meinem Fall dadurch, dass ich die Musik für meine Mitmusiker schreibe. Das heißt, ich such mir die Musiker aus, habe einen Plan für sie und dann fügt sich alles zusammen. Ich komponiere bereits in der Auswahl der Musiker, die ich für die :xy Band beispielsweise zusammengestellt habe. Oder die Platte „Liwanzen“: ein Geburtstagsevent zu meinem Vierzigsten, für das ich bei verschiedenen Musikern angefragt habe und für das wir nach kurzem Proben und Zusammenspiel urschöne Musik aufgenommen haben, die wir der Welt zeigen wollten. Jetzt hab ich wieder so eine siebenköpfige Band mit teilweise den gleichen Musikern für die Miles-Davis-Bearbeitungen, aber die suche ich mir, nehme dann die Stücke und schau, was passen könnte. Ich bin zwar schon ein bisschen Mastermind, verlass mich aber trotzdem ganz auf meine Mitmusiker, weil ich sie ja bewusst ausgesucht habe und meine Kompositionen auch sehr weit anlege. Es kann deshalb nicht entgleiten.
Eng ist es nur im Duo …
Lorenz Raab: … weil wir da wahnsinnig viel geprobt haben vorher. Sehr viel gemeinsam ausprobiert, einstudiert und dann aufgeführt haben. Es sind total verschiedene Zugangsweisen, die ich da verwende. Zusammenzukommen und frei oder mit Vorlage zu improvisieren verlangt aus meiner Sicht unbedingt nach einer genau überlegten Auswahl der Musiker. Im Duo hat man sich schon gefunden. Christof Dienz hat sich eh immer wieder Partner auf der Bühne gesucht, viel mit Matthias Pichler [Bass; Anm.] gespielt, und so auch mich immer wieder gefragt. Als ich ihn 2015 für ein gemeinsames Konzert im Mozartsaal im Wiener Konzerthaus gefragt habe, war das der Beginn eines festen Zusammenspiels. Und so entstehen neue Projekte und Bands.
Du wirst ja aber auch angefragt – wie wechselst du dann zwischen der Funktion als Bandleader und als Bandmitglied?
Lorenz Raab: Ich gehe wahrscheinlich sehr naiv heran und lass mich einfach von den Ideen reizen. Zum Beispiel hat mir Gina Schwarz ihr Projekt „Pannonica“ vorgestellt und mich nach meiner Teilnahme gefragt. Für mich war die Antwort sofort klar. Junge, neue Leute in der Szene, super Frauenanteil, viele Musikerinnen und Musiker, mit denen ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gespielt hatte – wieso sollte ich ablehnen? Ich bin ja klassisch ausgebildeter Trompeter und Musiker, habe nie Jazz studiert, sondern bin da einfach aus Herzensgrund immer mehr reingeraten, bis es für ein Studium zu spät, ich zu alt und meine Erfahrungen auch schon zu ausgereift waren. Ich bin es also gewohnt, im Ensemble zu spielen. Da liegen Noten vor dir auf einem Pult und vorne steht einer und sagt dir, was zu tun ist. Etwas freier wird es in kleineren Formationen wie Brass-Quintetts und wirklich viel wird dann in einem Ensemble möglich, wenn es um Improvisation und Jazz und Klangvielfalt geht. Spannend war das bei Gina Schwarz. Sie hat zwar konkrete Kompositionen, auch mit freien Improvisationen, aber die Ideen kamen alle von ihr. Da bin ich dann derjenige, der im besten Sinne erfüllt, weil abhängig davon, wie ich bei der Probe, beim Gig bin, wo ich hinziehe, kann ich auch mitgestalten und bin ein bisschen Bandleader.
Kann das die Trompete gut? Sie ist doch eher ein durchdringendes, sich darstellendes, dominantes Instrument. Aber du spielst es nicht dominant. Geschieht das unbewusst?
Lorenz Raab: Ja. Über solches Feedback erfahre ich überhaupt erst, wie ich eigentlich spiele. Ich möchte einfach diesem schulischen Spielen entkommen. Ich weiß zwar, wie ich welche Richtungen bedienen oder wie ich mir was aneignen kann, aber ich war an der Stelle immer sehr stur darauf aus, meinen eigenen Sound zu finden. Und das gelingt nur mit den richtigen Leuten, damit hat auch alles begonnen. Natürlich hab ich mich mit den Anfängen und den Legenden auseinandergesetzt, alles angehört und mir Gedanken macht, mein eigenes Puzzle zusammengesetzt und daraus gelernt, wie man in der Wiener und der österreichischen Szene das Beste daraus machen kann. Das ist ja nicht so einfach, weil schon sehr viel da ist.
„Ich lass mich gern auf der Bühne einhüllen.“
Wie haben die Parameter Klang, Raum und Atmosphäre auf dein Spiel Einfluss genommen? Wie sich Einzelklänge zusammenfügen, was das für einen Raum aufmacht, wie die Atmosphäre dieses Raumes dann ausgekleidet oder geformt wird, was schwer in Worte zu fassen ist, aber letztendlich die Wirkung ausmacht.
Lorenz Raab: Ich lass mich gern auf der Bühne einhüllen. Da gibt es einen Moment, wenn man auf der Bühne in der Kurve des Flügels und in ganz viel Klang dieses Klaviers steht. Das verbindet sich dann mit meinem Spiel. Oder die ersten Takte von „In a Silent Way“ sind für mich auch so ein Erlebnis geworden, weil erstaunlich simpel ist, was da getan wird, was die fixen Parameter dieses Einstiegs sind: die Snares, dann die Gitarre und du landest in einem Netz. Und dann komme ich so gern aus dem Nichts und wir laufen gemeinsam weiter in die Spitze. Das habe ich beim Trio Bleu auch mit dem Hackbrett von Ali [Angerer, Anm.] und dem Flügelhorn, das ja auch einen sehr speziellen Klang hat. Das Material dafür hat mich eigentlich gefunden, ich muss es nur festhalten. Ich bin nicht der, der alles Mögliche spielt, und das immer lauter und schneller und nach fünf Minuten wird’s langweilig. Ich mag es, Räume zu sammeln, auf die ich reagieren kann. Und je mehr Räume, desto mehr Erfahrungen, desto größer der Schatz, der sich in mir anhäuft.
Welchen Bezug hast du zur Elektronik?
Lorenz Raab: Ganz rudimentär verwende ich zwar jetzt Elektronik bei RaaDie, habe es eigentlich aber immer vermieden, das zu tun. Ich wollte einfach durch mein Instrument ohne Hilfsmittel sprechen können. Bei der :xy Band haben wir ein bisschen mit Mikrofonen im Trichter experimentiert, um herauszufinden, welche Musik sich ergibt, und um elektronischen Sound zu imitieren. Das war die Zeit damals, der Drum ’n’ Bass von Herbert [Pirker, Anm.] war ein Teil davon. Aber Musikerinnen und Musiker ändern sich so wahnsinnig schnell, man kann sagen jährlich. Mein Weg war es jedenfalls nicht, an so einem Impuls verbissen festzuhalten.
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„Das ist nicht verschiedene Musik, sondern das bin einfach ich.“
Es ist wahrscheinlich die Leidenschaft für etwas, die dich so überirdisch aktiv sein lässt.
Lorenz Raab: Mir erscheint das Spielen im Orchester der Volksoper nicht getrennt vom Ensemblespiel. Das ist nicht verschiedene Musik, sondern das bin einfach ich. In der Volksoper bin ich ein Teil von einem ganz großen Ganzen, im Trio bin ich halt ein Drittel oder im Nonett ein Neuntel vom Ganzen. Ich bin immer ein Teil von etwas Größerem.
Aber das erzeugt eine unglaubliche Fülle an Output.
Lorenz Raab: Ich bin in der glücklichen Lage, dass mich sehr interessante Menschen für neue Projekte ansprechen, Christian Muthspiel zum Beispiel. Und dann ist es meist schwieriger, Nein zu sagen als Ja. Aber ich musste auch lernen, die Dinge gleich anzufassen und nicht so sehr in die Länge zu ziehen. Mit meiner Anstellung in der Volksoper bin ich einer ganz normalen Arbeitnehmerposition mit demselben Arbeitsumfang und vor allem einem geregelten Einkommen, sodass ich auch für meine Familie sorgen kann. Und das es mir erlaubt, nur zu mir passende Projekte freischaffend zu machen.
Du hast auch bei „Connections for Trumpet & Band“ mitgewirkt, dieser Titel passt so genial zu dir …
Lorenz Raab: Lois Aichberger, deswegen heißt sie auch L.A. Bigband, hatte früher eine Trompetenband, bei der ich mitgespielt habe, und seit mindestens fünfzehn Jahren nun auch diese Bigband. Er wollte nun als letztes ein durchkomponiertes Werk realisieren, mit mehreren Sätzen, es sind neun an der Zahl. Josef Wagner, der als Komponist sehr aussagekräftige Sachen macht, wurde damit beauftragt. Nachdem wir es vier-, fünfmal gespielt hatten, wurde es auf Platte aufgenommen und jetzt wird es hoffentlich noch ein paar Auftritte geben. Ich bin quasi der Solist, der immer wieder vorkommt. Jeder Solist dieser Band hat sozusagen einen Spot auf diesem Album bekommen, es ist ein sehr schön durchdachtes Album mit fast klassischen Anmutungen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Sylvia Wendrock
Nachtrag Lorenz Raab:
Dieses Interview durfte ich kurz vor dem Corona-Shutdown am 10. März 2020 in Österreich geben. Heute ist der 23. April und ich habe so wie viele meiner Kollegen*innen keinen einzigen Ton vor Publikum gespielt. Ich versuche an mir und an meiner Musik zu arbeiten. Da das aber ein Work in progress ist, brauche ich dringend Publikum!
Sämtliche Termine wurden aufgrund der Corona-Krise abgesagt.
Link:
Lorenz Raab
RaaDie