Um seinem Unabhängigkeitswillen größtmöglichen Raum geben zu können, praktiziert THOMAS WAGENSOMMERER eine radikale Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und vermag Eigenschaften immer auch eine konstruktive Bedeutung abzugewinnen. Derzeit macht er mit seiner kontinuierlichen Radioechtzeitinstallation „~nowwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww~“ für das CTM Radio Lab von sich reden, die genau ein Jahr dauert (von 27.1.2020-27.1.2021) und im Livestream auf nowwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww.org, sowie im Ö1-Kunstradio und auf Deutschlandfunk Kultur zu hören ist. Das Interview führte Sylvia Wendrock.
Wie bist du auf die 24 gekommen?
Thomas Wagensommerer: Das Thema des CTM-Festivals 2020 war „liminal“, also Schwelle oder Grenzbereich, und das begegnete meiner eher privaten Auseinandersetzung mit dem Begriff und dem Verständnis von „Jetzt“, abseits seiner Verwendung als Kampfbegriff der Gegenwart. Es wird ja gerade während der Coronakrise gern von „Entschleunigung“ gesprochen, einem Begriff, den es in der Physik nicht gibt – da spräche man ja eher von negativer Beschleunigung – und der sofort eine esoterische Dimension eröffnet, die ich mit jeder Faser meines Körpers ablehne. Die Auseinandersetzung mit dem „Jetzt“ gerinnt außerdem zu einem Wohlstandsthema, weil sich ein Mensch in existenziellen Nöten wohl kaum mit dem Begriff Jetzt beschäftigen kann, weil ihn das Jetzt beschäftigt. Deswegen ist meine Arbeit ein Versuch, mich etwas spielerischer an dieses Thema anzunähern und die vielen erhobenen Zeigefinger der Achtsamkeitsdebatten auszuschließen. Meine Fragen waren also: Wie lange ist ein Jetzt, kann ich ein Jetzt ausdehnen, was passiert mit einem Jetzt, wenn es ein Jahr dauert? Ich erinnerte mich, dass ich vor langer Zeit mal über die „The Long Now Foundation“ gelesen hatte, die 1996 gegründet wurde und der unter anderem Stewart Brand, Danny Hillis und Brian Eno angehören und die sich lose an den Ideen der kybernetisch geprägten Counter- und Cyberculture der späten 1960er Jahre orientieren. Diese wollte sich unter anderem im damals wüsten Silicon Valley ansiedeln, um eine neue Form einer Gesellschaft auszutesten und aufzubauen. Im „Whole Earth Catalogue“ haben sie versucht, alles notwendige Wissen für eine neue Gesellschaft zu sammeln, weshalb er manchmal als eine Art Vorreiter Googles gilt: Darin sind unter anderem die Konstruktionen von Buckminster Fuller, aber auch die Vererbungsregeln von Erbsen, Kommunikationstheorien, die Bestellung von Nutzland, die grundlegende Thermodynamik und der Bau eines Holzhauses erklärt.
Die „The Long Now Foundation“ versuchte dann ab 1996 ähnlich utopische Zugänge – jedoch institutionalisiert und gut dotiert (Stewart Brand wurde mittlerweile zum Millionär) – durchzuführen, um am Weg dorthin wissenschaftliche Erkenntnisse mit gesellschaftlicher Relevanz zu generieren. Ein Beispiel dafür ist die „The 10,000 Year Clock“, ein Konzept für eine Uhr die 10000 Jahre absolut exakt und unbeschadet funktionieren und in 10000 Jahren noch verstanden und gehört werden soll. Dazu sind natürlich viele verschiedene Forschungszweige (Materialwissenschaft, Mechanik, Geologie, Akustik, Soziologie, Astronomie, etc.) notwendig. Mich beeindruckte dieser Vorgang: sich ein absurdes Ziel zu setzen und dabei Forschungsstränge zu keinen Antworten, aber zu lauter neuen Fragen zusammenzuführen.
Da ich ja auch so ein lang gedachtes Jetzt und ein ebenso absurdes Ziel bearbeiten wollte, machte ich mich auf die Suche nach einem „Jetzt“, das ungefähr gleichzeitig mit der „The Long Now Foundation“ zu existieren begann und dabei fand ich das gesungene Wort „now“ von Celine Dions Hit „It’s all coming back to me now“ (das „now“ bei Minute 5:07) aus 1996. Dieses ca. fünfsekündige „now“ dehne ich nun in Echtzeit auf genau ein Jahr als akustisches Ausgangsmaterial der Installation. Daneben arbeiten noch einige andere kleine Hard- und Softwareapplikationen, um diesen Stream aufrecht zu erhalten und zu modulieren. Zum Beispiel verändert sich die Modulation immer dann, wenn auf Twitter das Hashtag #now verwendet wird, weil dann für kurze Zeit der mechanische und elektromagnetische Klang des Rechners im Serverraum des Funkhauses Berlin, auf dem alle Applikationen laufen, als Modulationssignal in die Installation eingespeist wird. Dieses kybernetische Zusammenarbeiten von einigen, sehr einfachen, aber gleich wichtigen und sich gegenseitig unterstützenden Applikationen war inspiriert von einem Zugang, der noch einmal 24 Jahre vor 1996 zu existieren begann. In 1972 – dem astronomisch längsten Jahr der Menschheitsgeschichte – veröffentlichte der Club of Rome „The Limits to Growth“. In dieser Studie wird versucht, die Zukunft der Weltwirtschaft, ihrer Ressourcen und ihrer Auswirkung auf die Menschheit mittels einer der ersten berühmt gewordenen Computersimulation – „World3“ – zu prognostizieren. Sie ermittelte einen Wendepunkt des – nicht nur wirtschaftlichen – Wachstums um das Jahr 2044, also 24 Jahre nach jetzt (2020), wenn die stetig gestiegene Bevölkerungszahl zum explosionsartigen Ausbruch von Krankheiten führt. Die Geburtenrate fällt, während die Todesrate steil nach oben geht. Diese Studie erntet bis heute heftige Kritik, ich mag aber diese spielerischen, teilweise lächerlich-konspirativen Narrative sehr, die ja in Zeiten von Corona heftig hörbar werden, aber im künstlerischen Arbeiten natürlich strukturierendes und dramaturgisches Element sein können. Das Schöne am freien Arbeiten ist ja auch, sich eben solchen Narrativen hingeben zu können, ohne sich einem Allgemeingültigkeitsanspruch stellen zu müssen.
Ich habe so eine direkte Assoziation zu John Cages „Slow As Possible“ in Halberstadt, vergangenes Wochenende war gerade Tonwechsel. Hast du daran auch gedacht?
Thomas Wagensommerer: Das ist natürlich eine Arbeit, die ich immer schon großartig fand, und das gar nicht nur wegen ihrer Ausdehnung, sondern auch, weil die Orgel ja bislang noch von niemandem bespielt werden konnte. Eine Art subversiver Akt, als Veranstalter mit dem Image des Künstlers kokettieren zu wollen und dann aber die Bühne/das Instrument damit quasi zu blockieren.
Entgegen Cage fragst du aber nach dem Gegenwärtigen, indem du es mit dem Unendlichen auszufüllen bzw. dessen Grenzen aufzuspüren versuchst.
Thomas Wagensommerer: Seit ich dieses Stück wahrgenommen habe, ist es mir natürlich nie wieder aus dem Kopf gegangen. Mich interessiert das Resultat letztendlich nicht sonderlich, aber es ist spannend zu beobachten, welche Fetische da auftauchen und sich Menschen an der Orgel einfinden, um zuzuschauen, wie der Ton wechselt. Das Publikum ist begeistert vom Konzept, will aber trotzdem diese physische Erscheinung der Orgel als Anker im Raum und in der Zeit.
Was wiederum die Notwendigkeit des Konzeptes bestätigt … Wie baust du die Brücke zwischen Konzept, Gedanke, Theorie, Modell, Frage zur Umsetzung? Brauchst du das Ergebnis als Substanz gegenüber der Lust am Denken? Wie muss das Ergebnis dann aussehen?
Thomas Wagensommerer: Das ist abhängig vom Zugang zu einer Arbeit, der sich meistens schon entscheidet, bevor überhaupt irgendetwas passiert. Wenn ich so etwas wie „wildes Denken“, für mich also das lustvolle Nach-Vorne-Denken, ein Nicht-Wissen-Müssen, ansetze, dann ist das Resultat ähnlich einem Bumerang, der ins Konzept zurückschleudert, ein Ort der visuellen, akustischen oder haptischen Verhandlung, eine Art Schatulle, ein Gefäß. Andererseits nähere ich mich unterschiedlichen Projekten doch oft auch von einer sehr praktischen Seite, weil ich das Arbeiten mit dem Material sehr gerne mag und mich auch als ein in der Kunst Arbeitender verstehe. Wie eine Bildhauerin baue ich mir zuerst mal mein Material ab, recherchiere, sammle und lege dann erst Hand an, vielleicht eher prothetische Hände, die über Codes und technische Erweiterungen funktionieren. Mir geht es um das Eingreifen in und das Resonieren mit dem Material und ich möchte dessen Auswirkungen spüren, so etwas wie einen vibrierenden Draht aufbauen, das heißt, ich muss mich einlassen und mich einige Zeit in das Material vergraben, mit ihm leben. Das ist natürlich auch eine Selbstvergewisserung meines physischen und emotionalen Empfindens.
„Meine eher kindliche Herangehensweise erzeugt wahnsinnig viele Fehler und lässt mich auch auf positive Art und Weise den Respekt vor den Vorgängen verlieren.”
Und die Software, die Programmiersprache ist dein Werkzeug …
Thomas Wagensommerer: Genau, obwohl ich kein guter Programmierer bin. Meine eher kindliche Herangehensweise erzeugt wahnsinnig viele Fehler und lässt mich auch auf positive Art und Weise den Respekt vor den Vorgängen verlieren. Ich verwende Material immer gerne von einem leicht außenstehenden Standpunkt aus, weil ich dadurch das Scheitern ausschließen kann.
Und wie gehst du da ran?
Thomas Wagensommerer: Ich habe diesen sehr ineffizienten Zugang, immer wieder von vorne beginnen zu wollen und erinnere mich da gerne an Aphex Twin, der angeblich alle Patches löscht, wenn ein Track fertig ist, um immer wieder von vorne beginnen zu müssen.
Vor Jahren hätte ich dich eher im elektroakustischen Feld aufgesucht, jetzt sind es mehr Videos, die dein Output dominieren – ist es egal, womit du arbeitest?
Thomas Wagensommerer: Ja, es ist egal. Ich muss mich ja nicht einer Tradition verpflichten, sondern stehe gerne lieber für mich allein. Ich arbeite nur mit Freundinnen und Freunden und lebe in einer Generation, in der solche medialen Unterscheidungen gar nicht mehr so stark stattfinden. Wir nehmen einfach das, was kommt und be- und verarbeiten es.
Wie läuft dann die Zuordnung in gemeinsamen Projekten?
Thomas Wagensommerer: Abhängig von den Konstellationen ergibt sich das meist sehr schnell von selbst. In Projekten mit dem Ensemble andother stage (von Brigitte Wilfing und Jorge Sanchez-Chiong) wird zum Beispiel versucht Zustände und Situationen zu entwickeln, um dann zu schauen, wer welchen Zugang dazu liefern könnte. Der Versuch ist der, dass sich die Choreografie, die Musik, die mediale Umgebung, die Performance und die Performenden sich entsprechend dieser Zuordnungen verändern. Zusammen mit meiner Partnerin Louise Linsenbolz sind wir als TE-R, neben David Panzl und Samuel Toro-Pérez, auch Teil des Ensembles. Je nach Projekt ändern sich die Konstellationen und somit auch die Funktionen. Vieles passiert also tatsächlich vor Ort durch das Zusammenkommen und Zusammensein.
Das ist eigentlich Improvisation.
Thomas Wagensommerer: Genau, ich improvisiere eigentlich die ganze Zeit, auch weil ich nichts so wirklich kann. Das meinte auch mit dem Außenstehen beim Programmieren. Ich lerne in Tutorials, setze das dann meist sehr fehlerhaft um und verwende diese Fehler weiter, wenn sie mich überraschen und mir gefallen. Ich kuratiere eigentlich meine eigenen Fehler.
Trotzdem ist eine Aufmerksamkeit gegenüber Details feststellbar, die dann von dir wie bei „Morpheme“ mikroskopisch betrachtet und in Bewegung versetzt werden…
Thomas Wagensommerer: Bei diesem Projekt mit Electric Indigo hatte Susanne [Kirchmayr, Anm.] genau diesen mikroskopisch-konzeptionellen Zugang vorgeschlagen. Die gesamte Arbeit basiert auf dem Satz „To let noise into the system is a kind of fine art in both cybernetic terms and in terms of making music, too.“ von Sadie Plant, den Susanne bei dem CTM panel “sound, gender, technology” 2014 aufgenommen hat. Ich habe dann versucht, diesem Konzept folgend, aus dieser Reduktion gemäß dem Imperativ Robert Henkes „Give me limits!“ das größtmögliche Potenzial dieser Limitierung auszuschöpfen.
Warum arbeitest du wissenschaftlich?
Thomas Wagensommerer: Ich arbeite an unterschiedlichen Forschungsprojekten an unterschiedlichen Universitäten, weil es sich einerseits so ergeben hat und ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, ich aber die wissenschaftliche Auseinandersetzung auch immer schon gesucht habe, um den Zugang zu und die Möglichkeit für Erkenntnisse zu ebnen, um auch etwas zu tun, das nicht nur mir hilft. Ich bin und bleibe ein unbedingter Vertreter von open access und finde nichts schlimmer, als gesperrte Zugänge zu Wissen sowohl im künstlerischen als auch im wissenschaftlichen Kontext. Ökonomische Gründe stellen für mich dabei keine legitime Begründung dar, es darf in einer Wissensgesellschaft einfach keine Sperrungen solcher Art geben. Mediale Inhalte, die virtuell bereits existieren, müssen frei zugänglich sein und bleiben, weil deren Kopie keine Ressourcen außer Speicherplatz und Strom aufbrauchen. Aber das sind andere Diskussionen.
Wie hältst du es dann mit dem Begriff des geistigen Eigentums?
Thomas Wagensommerer: Den verstehe ich ganz grundsätzlich nicht. Wieso kann die Idee der einen nicht auch zur Idee der anderen werden? Die gesamte Kulturgeschichte des Menschen ist auf der Weitergabe und der Transformation von Ideen aufgebaut. Sobald Kosten in der Generierung und Produktion dieser Ideen entstehen, müssen diese gesamtgesellschaftlich und bestenfalls syndikalistisch getragen werden, um so kulturelles Allgemeingut zu erzeugen, dass im Allgemeinbesitz ist und bleibt und somit jeder einzelnen zugänglich ist und bleibt. Der Besitz darf weder auf Künstlerinnen, noch auf juristische oder gar Privatpersonen übertragen werden.
Warum Virtualisierung und Game Arts? Lockt dich die Möglichkeit, eine andere Welt zu entwerfen?
Thomas Wagensommerer: Mich lockt nicht so sehr eine andere Welt zu entwerfen, als meine Welt, als eine andere, eine virtuelle Realität. In der physischen Realität, wo wir uns gewissen physikalischen Gesetzmäßigkeiten unbestreitbar ausgesetzt wissen, besteht aber auch die Möglichkeit, eine Realität im Virtuellen auszugestalten, die Simulationen ermöglicht, welche sich dann wieder auf die physikalische Realität rückbeziehen und anwenden lassen.
In virtuellen Realitäten und deren Simulationen sind Erkenntnisgewinne, also auch emotionale Erfahrungen möglich, wobei die Gesetzmäßigkeiten der Rahmenbedingungen von mir ja erst erfunden und festgelegt werden. Hierin liegt auch der Unterschied zwischen Game und Play: beim Play wird durch den spielerischen, prozessualen Zugang die Welt und deren Gesetze überhaupt erst beschrieben. Sie ist nie vollendet, sondern wird immer wieder um eine neue Beschreibung erweitert. Mir gefällt, dass in dieser virtuellen Realität auch Beziehungen aufgebaut werden können, ohne eindeutig wissen zu müssen/können, wer oder was sich hinter den jeweiligen Bezugspunkten verbirgt. Hier bietet sich auch eine Möglichkeit, sich selbst mit verschiedenen Charakterzügen zu modellieren und auszuprobieren, also auch eine Art sich seiner Selbst zu ermächtigen. Daraus lässt sich auch die Nähe einer virtuellen Welt zum Theater ableiten, weil diese Konzepte sehr wesensverwandt erscheinen. Mein Zugang zur Welt ist der, dass man durch Technik, also in Prothesen überführte Technologie, Arbeit vermeiden kann. Das wohnt ja auch jedem Organismus inne, um Ressourcen zu schonen. So können wir auch endlich dahin kommen, Lohnarbeit überflüssig zu machen, sofern das zum gesamtgesellschaftlichen gewollten Ziel erklärt wird.
„[…] ich möchte eigentlich genau diese prozessuale und zustandslose Körperlichkeit im Virtuellen erspüren.”
Deine Videos spielen auffallend mit Plastizität, sie entsteht und verschwindet. Geht es dir da um die Körperlichkeit im Virtuellen oder darum, den menschlichen Körper zu animieren?
Thomas Wagensommerer: Ja, ich möchte eigentlich genau diese prozessuale und zustandslose Körperlichkeit im Virtuellen erspüren. Ich will nicht etwas Physisches im Virtuellen ab- oder nachbilden – nichts ist langweiliger und erkenntnisloser als Photorealismus – sondern ich möchte genuin virtuelle Plastizitäten und Körperlichkeiten und deren Übergänge herausbilden. Manchmal, vor allem in der Arbeit mit Louise [Linsenbolz, Anm.] als TE-R, beschäftige ich mich bzw. wir uns auch mit der Virtualisierung menschlicher Körper und deren Bewegungen und physikalischen Limitierungen, die ja im Virtuellen aufgehoben werden, in der Rezeption aber immer noch eine Rolle spielen. Wie denkt und spürt man als Rezipientin die Bewegungen, die im physischen Raum gar nicht möglich wären? Wann und wie beginnt der Mensch mit dem Virtuellen zu resonieren?
Du gibst dir die Freiheit, mit Virtualitäten zu spielen – läufst du da nicht Gefahr, manchmal den Gegenwartsbezug zu verlieren?
Thomas Wagensommerer: Ich habe transdisziplinäre Kunst (TransArts) studiert, als sich dieser Studiengang gerade im Übergang vom Bildhauerstudium befand, wo es üblich war, zu Semesterbeginn Material zu bestellen und dann zu bearbeiten, um nach Missglücken wieder Material zu bestellen. Das kostet Geld und noch mehr Zeit und dafür bin ich eindeutig zu ungeduldig. Deswegen auch meine Arbeit mit Sound: da ist sofort ein Resultat da. Ich möchte den Moment von Inspiration zur Befriedigung nutzen und spüre auch den Drang, ihn sofort zu nutzen, weil ich nicht weiß, ob er morgen noch da ist. Ich bin mir jeden Tag aufs Neue unsicher, ob ich tatsächlich auch wieder künstlerisch arbeiten kann. Das ist gut und begründet meinen kindlichen Zugang, aber ich bin auch froh, dass ich daran nicht verzweifle. Deshalb ist das Arbeiten im Virtuellen, speziell im Realtime-Virtuellen, für mich großartig. Im 3D-Raum arbeite ich nicht mit 3D-Modellierungsprogrammen, wie das meine Partnerin Louise Linsenbolz wie eine Bildhauerin tut. Ich muss in Echtzeit arbeiten. Das ist schon beim Rendern von Videos ein großes Problem für mich. Mittlerweile arbeite ich fast nur noch Realtime, wo es kein Rendern mehr, dafür aber bei der Ausführung zufällige Abweichungen gibt.
Ist da Zufall mit eingeplant oder Echtzeit, die in jedem Moment andere Abbilder erzeugt?
Thomas Wagensommerer: Manchmal ist es „programmierter Zufall“, also ein Pseudo-Zufall: es taucht in einem bestimmten Rahmen eine gewisse Variation auf. Das bringt auch Spannung in die Vorführsituation, weil ich nie genau weiß, ob diese Variationen gut funktionieren werden. Für die Betrachterin ist es natürlich oft nicht erkennbar, ob das Video gerade realtime oder vorgerendert ist. Ich kann so aber einen Prozess statt nur ein Produkt abbilden, was meiner Idee einer Aufführsituation eher entspricht.
Improvisierst du auch manchmal komplett live auf der Bühne zur gegebenen Atmosphäre und Musik?
Thomas Wagensommerer: Manchmal geht es sehr konzeptionell zu. Aber wenn ich beispielsweise mit Louise [Linsenbolz, Anm.] und Jorge [Sanchez-Chiong, Anm.] arbeite, sind das meistens von Jorge komponierte Stücke, die erst durch die Aufführung fertiggestellt werden. Wir tauschen uns zwar im Vorhinein viel und lange über das, was da kommen und produziert werden wird, aus, aber was es dann genau geworden ist, sehen wir oft erst nach der Aufführung. Natürlich gibt es auch komplett improvisatorische Zugänge, bei denen ich nicht weiß, was kommen wird und es en detail auch gar nicht wissen will, weil ich mich sehr gern solchen Situationen aussetze, wo ich darauf vertrauen muss, dass ich durch meine improvisatorische Praxis die richtigen Lösungen, den richtigen Zugang finden werde.
Du hast ein Philosophiestudium ohne Abschluss und jede Menge gestalterische Abschlüsse mit Auszeichnung in der Tasche. Brauchst du Material und Konstruktionen aus der Philosophie oder suchst du da nach Erklärungen?
Thomas Wagensommerer: Das Denken ist das Grundgerüst meiner Arbeiten, denke aber jetzt wohl nicht mehr als andere Künstlerinnen. Illustrative Kunst lehne ich jedoch ab. Das Illustrieren von Philosophie war und wäre nie mein Ansinnen und ich finde das auch meist nur lächerlich. Ich bin kein Philosoph und auch froh, den Anforderungen, die so ein Beruf mit sich bringt, nicht folgen zu müssen. Ich greife mir nur heraus, was ich möchte. Genauso wie ich „respektlos“ im musikalischen, visuellen Arbeiten bin, bin ich es auch in der Philosophie, wohlgemerkt gegenüber der Philosophie, nicht gegenüber den Philosophinnen. Ich lasse mich inspirieren und weil ich oft nicht verstehe, was ich da lese oder dabei einschlafe, spekuliere ich über mögliche Fortgänge der Handlungen und Gedanken. Mich interessiert dieses „Worldbuilding“ eines Zustands, die Beschreibungen von Vernetzungsverhältnissen und meine möglichen Aktionen darin. „Ich bin meine Welt.“ Auch interessiert mich der – im besten Sinne des Wortes – naive Zugang zu vielen andern Fachbereichen. Ich verabscheue und vermeide aber jede Form von Konkurrenz oder Wettbewerb, was mich davon abhält, Experte auf irgendeinem Gebiet zu sein, zu werden oder werden zu wollen.
In einem Interview von 2011 sagtest du, du wünschst dir für die Zukunft, dir deine Begeisterung bewahren zu können. Das ist eingetreten, oder?
Thomas Wagensommerer: Ich denke sogar noch eindeutiger als ich es mir damals hätte denken können. Die positiven Auswirkungen, die die künstlerische Praxis auf meinen Körper und mein Wohlbefinden hat, zeigt, dass ich den richtigen Zugang gewählt habe. Ich habe die Bereiche, in denen ich mich wohl und kompetent fühle, nun viel klarer definiert, und bin zufrieden, in einem Feld zu arbeiten, in dem ich meinen Ein- und Ansatz immer selbst entscheiden kann. Außerdem habe ich den Eindruck, in mehreren Persönlichkeiten nebeneinander existieren zu können und somit variabel und nicht wirklich greifbar zu bleiben. Und ich bin auch sehr gerne der Ausführende in der zweiten Reihe.
… und die Anstellungen an den Unis verhindern, dass du existenzielle Zweifel an deiner künstlerischen Arbeit haben musst.
Thomas Wagensommerer: Genau. Diese Absicherung macht meinen Satz für freien Zugang zu geistigem Eigentum oberflächlich auch zu einer eher elitären Aussage. Dieser Modus verpflichtet ja nicht nur nachzudenken über die Zustände und Zusammenhänge der Welt, sondern in seinem unmittelbaren Umfeld, mit seinen Fähigkeiten auch zumindest zu versuchen, Anfänge zu machen, zu erfahren, wie es sein könnte. Vor allem beim Unterrichten habe ich Möglichkeiten dazu: Meine Begeisterung zu teilen und den Studierenden ihr Potenzial zur Selbstermächtigung aufzuzeigen. Oft sind die Studierenden wahnsinnig gut, wissen aber noch nichts davon und befinden sich in Strukturen, die ihnen nur Begrenzungen auferlegen und abgedroschene Rollenbilder vorzeigen. Mein Ziel ist, ihnen dieses Selbstbewusstsein mitzugeben, dass ihre Begeisterung zu dem maßgeblichen Indikator für ihr Handeln wird. Das Selbstverständnis, zu dem ich hinführen will, ist: Es gibt über Dir keinen Herren und unter Dir keinen Knecht. Auch wenn Strukturen das anders vorgeben. Es braucht ein Selbstverständnis vom eigenen Wollen und Können und deren Wichtigkeit für die Gesellschaft, weshalb die Gesellschaft auch gut daran tut, Personen mit ihren Fähigkeiten, die sie mit Umsicht, Bedacht, Durchhaltevermögen und immer mit Begeisterung ausüben, entsprechend eingebunden zu halten.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Sylvia Wendrock
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