„Ich höre selbst ein Klavier elektronisch.“ – WOLFGANG SUPPAN im mica-Interview

WOLFGANG SUPPAN spricht mit Sylvia Wendrock über Zugänge zu seiner Intuition, indem er Wiederholungen vermeidet und Zusammenhänge riskiert. Als einer der beiden Festival Composer der diesjährigen Ausgabe des Festivals IMAGO DEI unter der Leitung von Nadja Kayali wird es neben dem Konzert in der Minoritenkirche in Krems noch einen Musiksalon mit drei Liedern aus dem Zyklus „Unverbesserliche Lippen“ und „Ulam“ von ihm geben.

Wie geht man nun an so eine Aufgabe heran, wenn man wie du auf deiner Website sagt, man schwimme durch den gesamten musikalischen Kanon hindurch mit dem Ziel, dadurch zu seinem Eigenen, zu „Welten…auseinander“ zu kommen?

Wolfgang Suppan: Ich reagiere zum Beispiel bewusst oder unbewusst auf die Auswahl der Stücke, die beim Konzert neben meinem Stück erklingen werden. Der Titel „Walking in the Limits“ von Heinz Reber hat auch Einfluss auf mein Stück gehabt. Ihn habe ich bei einem Abendessen einmal persönlich kennengelernt und weiß, dass er in dem Alter verstorben ist, in welchem ich selbst gerade bin. Das berührt mich natürlich. Man projiziert als Künstler mit seinen Ideen ja in die Unendlichkeit und weiß gleichzeitig, dass das Leben einen Anfang und ein Ende hat.

Was ist deine Methode?

Wolfgang Suppan: Bei mir ist das die CAC – Computer Assistant Composition. Der Computer spielt in der Materialentwicklung eine wesentliche Rolle, wobei das Rauschen als Klangphänomen bei mir auf eine mathematische Ebene zurückgeführt wird. Mit Zufallsgeneratoren lassen sich verschiedene Qualitäten von Rauschen generieren. Diese werden dann mithilfe des Computers vergrößert um dann harmonische Strukturen damit zu bauen – das ist zum einen mikroskopische Arbeit, zum anderen meine Interpretation, welche Ansätze sich als musikalisch interessant erweisen, und welche nicht. Was tief unten als Rauschen erklingt, wird oben zu einem Klavierakkord. Das Rauschen also nicht als Klangphänomen, sondern als theoretische Klammer für meine Arbeit zu begreifen.

Woran erkennst du dann die Potenziale eines Klanges und was genau leitest du daraus ab?

Wolfgang Suppan: Ich entwickle mein Material zuerst mit algorithmischen Verfahren. Beginnt dieser erste Ansatz sich in Richtung Partitur zu entwickeln, trau ich mir eine sehr intuitive Auswahl zu. Der Computer hilft mir also, auf meine Intuition zu vertrauen. Gegenüber der eigenen Intuition ist man ja immer sehr kritisch, weil sie ja oft manipuliert, also von Vorstellungen, wie etwas sein soll, überformt/beeinflusst ist. So gerinnen mir oft Anfangsideen in Langweiligkeiten, weil sie einem Klischee entsprechen. Dann wiederum kommt man in Bereiche, in denen man sich sehr spekulativ vorwagt, aber ein Knistern spürt.

Erklärt das, warum du nicht immer unbedingt Einfluss auf die Länge deiner Kompositionen hast? Entsteht die Länge deiner Stücke als eine notwendige Konsequenz aus deiner Arbeitsweise?

Wolfgang Suppan: Da gibt es mehrere Aspekte. Zum einen stehe ich zu kurzen Formen, die andere bei mir auch als Qualität erkennen. „Regenbild“ zum Beispiel dauert zweieinhalb Minuten, trägt den Titel eines Gedichts des deutschen Lyrikers Richard Anders und ist geschrieben für den Klavierinnenraum. Es hat aber unverhältnismäßig sehr viel Zeit und Energie gebraucht, dieses kurze Stück zu schreiben.

„Wenn man nichts will, entstehen tolle Sachen.“

… das Kurze, Pointierte ist ja das Hochanspruchsvolle wie der Witz. Es birgt das dichteste Maß an kompositorischer Leistung und Intellekt.

Wolfgang Suppan: Ja, aber das Kurze ist auch das Gänseblümchen, auf das jeder schnell mal drauftritt. Man wird dann nicht gesehen. Man kann nicht reüssieren, wenn keiner sieht, dass da ein kleines Blümchen ist, auf das man Obacht geben muss. Bei meinen Liederzyklus „Unverbesserliche Lippen“ ist das erste Lied ein längeres geworden, nach dessen Aufführung habe ich im Anschluss drei kürzere, quasi für die Schublade geschrieben, die jetzt bei Imago Dei uraufgeführt werden. Diese kleinen Formen sind für mich aber wie schöne Mosaiksteine. Klein aber kostbar. Wenn man nichts will, entstehen tolle Sachen.

Dich inspirieren aber auch Texte zu deinen Stücken, Sprache birgt ja auch eine Musikalität. Und wenn Musikalität eine Form des Zeitverständnisses darstellt, ist Literatur dann auch eine solche Strukturierung von Zeit? Wie wirkt sie in deine Arbeiten hinein?

Wolfgang Suppan: Lesen hat mich immer begleitet. Ich habe Phasen, in denen ich mich mehr mit Literatur beschäftige als mit Musik. Da versenke ich mich gern thematisch und bin auch mal längere Zeit mit einem thematischen Schwerpunkt beschäftigt, beispielsweise mit russischer Literatur des 19. Jahrhunderts von Dostojewski bis Turgenjew. Im Zusammenhang mit Musik bin ich eigentlich ständig auf der Suche nach Lyrik und Texten. Das Bassklarinettenstück „Ulam“ beispielsweise …

… das Stück, das wahrscheinlich am meisten aufgeführt wurde …

Wolfgang Suppan: … zumindest das am weitesten gereiste. Das Duo Stump-Linshalm hat es in die ganze Welt getragen, von der Mongolei bis nach New York. Der Ursprung des Stückes weist auf den Mathematiker Stanisław Ulam, der die Ulam-Spirale fand. Als ich 2008 diese Stück schrieb, wurde mir klar, dass ich so ein Phänomen nicht einfach in Musik umsetzen kann. Von Ulam blieben am Ende des Kompositionsprozesses nur noch der Klang der beiden Vokale U und A übrig. Häufig wiederholt ausgesprochen entsteht ein Mantra mit quasi bewusstseinsverändernder Komponente. Sprache ist für mich auch die Möglichkeit, Räume zu eröffnen, die wie bei Kafka, eigentlich nicht be-greifbar, aber doch gegenwärtig sind. Sprache als Medium, das uns ungeahnte Dinge offenbart.

Reicht dieses Wissen als Impuls oder Inspiration? Du hast Ausführungen von Galilei und Lovell hergenommen und die poetischen Überhängsel, die aus der Wissenschaftlichkeit des Textes herausfallen, bemerkt. Diese könnten ja auch ein Hinweis darauf sein, dass beiden der Rahmen der jeweils verwendeten Erklärungsmodelle nur ein Geländer war.

Wolfgang Suppan: Bei „Welten…auseinander“ streife ich natürlich nur die Zusammenhänge, weil ich kein Astronom oder Weltraumforscher bin. Mich haben die Leistungen und der Mut Galileos fasziniert, ein enormes astronomisches Wissen bereits zu haben und gleichzeitig in der Zeit der Inquisition zu leben, die ein Weiterdenken unter Strafen setzte. Trotzdem baute er ein Teleskop nach holländischem Vorbild und machte eine entscheidende sinnliche Erfahrung, als er den Mond so vergrößert und nahe sehen konnte, die ihn schließlich veranlasste, sein Buch „Siderus Nuncius“ zu veröffentlichen und damit sein Leben zu riskieren. Mit der technischen Unterstützung eines Teleskops kam er plötzlich zu Sinneseindrücken, die den Drang oder Mut erzeugten, über eine Schwelle zu gehen, die nicht ungefährlich war. Bei der Apollo-8-Mission haben mich die Aufzeichnungen Jim Lovells interessiert. Er zeichnete völlig unerwartete Bilder, die Oberfläche sehe aus „wie das Pflaster von Paris“. Die beiden verbindet offensichtlich das Interesse an der eigenen Existenz und die Erfahrung, beim In-die-Ferne-Schauen eigentlich den Blick auf sich selbst zu richten. Dieses Streben nach Erkenntnis zielt also gar nicht in die Ferne, sondern eigentlich wieder auf diesen Platz, wo ich auf der Erde stehe und in Richtung Sterne schaue.

Und neben Literatur gibt es auch noch Performance und Tanz, Installation und Skulptur in deinem Werkkanon …

Wolfgang Suppan: Zum Thema Tanz habe ich sehr viel mit Rose Breuss zusammengearbeitet. Sie nutzt die Labanotation, eine Notation für Tanz, welche bei klassischem Ballett angewendet wird und darstellt, wie man in einer Form von Abstraktion Bewegungen aufzeichnet. Für mich bildete das eine Brücke zur Musik. Meine Zeit als Stipendiat an der Solitude in Stuttgart hat für mich diesen Zugang eröffnet, dort kommen ja alle Kunstsparten zusammen: Theater, Film, Musik, bildende Kunst, Literatur. Ich fand es immer sehr interessant, wenn sich da Disziplinen durchdringen und miteinander in Kontakt treten. Das bringt natürlich die Tendenz mit sich, seine eigene Position ein wenig zu verlieren.

Hattest du Schwierigkeiten, dich zu positionieren?

Wolfgang Suppan: Eigentlich nicht, aber es gibt Konstellationen da muss man sich auch eingestehen, dass es nicht funktioniert. Mich interessiert zum Beispiel Film sehr und ich würde sehr gern Filmmusik komponieren. Aber im Regelfall wird der Musik eine Rolle zugewiesen, bei der ich nicht mitmachen kann. Es geht mir darum, dass die Musik im Film etwas bewirkt, doch oft gerät die Musik zur bloßen Bestätigung oder Versicherung des Bildes.

Ich glaube, dass Musik uns strukturell etwas mitteilt. Bei Bildern gerinnt sie oft zur Oberfläche, obwohl das Zusammenwirken der Disziplinen paritätischer passieren sollte, sodass jeder, der etwas beiträgt auch Teil des Ganzen ist.

Wolfgang Suppan (c) Peter Hallekalek
Wolfgang Suppan (c) Peter Hallekalek

„Ich sehe das Unterrichten weniger als einen Wissenstransfer als vielmehr als Beistand für Suchende.“

Du gehst in deinem Denken durch die Musikgeschichte, beschreibst dein Suchen nach theoretischen Anknüpfungspunkten im 20./21. Jahrhundert. Hat das eine Relevanz für deine Lehrtätigkeit an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien? Und gibt es da eine Verbindung für die beschriebene Suche nach uns selbst? Ist Kunstschaffen eine Ausdrucksform menschlichen Suchens?

Wolfgang Suppan: Schönbergs Aussage „Musik kommt nicht von Können, sondern vom Müssen“ würde bei mir „… von Wollen“ umformuliert lauten. Ich sehe das Unterrichten weniger als einen Wissenstransfer als vielmehr als Beistand für Suchende. Ich möchte sagen: „Ich bin schon so lange dabei und ich suche immer noch.“ Picasso meinte zwar: „Ich suche nicht, ich finde.“ und natürlich ist jedes Stück, das man schreibt, ein Finden. Aber mit dem nächsten Stück geht das Suchen weiter, das ist die stete Bewegung.

Vielleicht oder hoffentlich sagen ja spätere Generationen, dass es einer Denktradition des 21. Jahrhunderts entspräche, das Kreieren und Schöpfen als Seinserfahrung, auch als Daseinsberechtigung zu leben und für ausreichend zu empfinden. Wendet man als Gesellschaft den Blick dahin, fände man genug Aufgabe und Auftrag zur Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz. Ist das Vision, vorwärtsgerichtete Idee oder Ahnung oder nur Ideal und Wunsch? Interessierte dich dieser Gedanke bei der Bearbeitung von Rousseaus „Emile“?

Wolfgang Suppan: Mich hat dort die Ambivalenz der Figur Rousseaus in den Bann gezogen, die Widersprüchlichkeit seines Handelns. Aber mir ging es nicht darum, Rousseau zu verstehen, die Gedankenwelt heute ist eine andere als im 18. Jahrhunderts. Mich interessiert bei Rousseau nicht die philosophische Debatte, sondern die menschliche Komponente einer Biografie, die widersprüchlich, auch gescheitert ist.

Aber ironisch ist das nicht zu verstehen, dass du darauf eine Serie „Idyll“ schreibst?

Wolfgang Suppan: Das Wort „idyll“ kommt aus dem Griechischen und meint: kleines Bildchen. Es trägt etwas von der bukolischen, idealisierten Harmlosigkeit des 18. Jahrhunderts, was später Biedermeier geworden ist. Der Titel ist aber auch rückblickend als Kontrapunkt zu meinen oft sehr komplexen Kompositionsmethoden zu verstehen. Ich wollte dann nicht auch noch einen komplex klingenden Titel verwenden, sondern eher etwas Konterkarierendes oder sogar Provokatives.

Die Idee vom radikalen Abtrennen und Loslösen von historischen Verläufen war auch ein Movens für die Gründer der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik.

Wolfgang Suppan: Institutionen wie Darmstadt sehe ich als wichtige Plattform zur Vermittlung und zum Austausch. Man kann aber heute nicht erwarten, dass dort ständig das bahnbrechend Neue passiert, sondern muss eher dafür Sorge tragen, dass Strukturen, die Kunstproduktionen ermöglichen, nicht strukturell zerstört werden. Eine Gefahr, die im Raum steht, wenn man Orchester, Rundfunkanstalten und alles, was Neue Musik betrifft, infrage stellt. Ich denke da zum Beispiel an das Schließen des Studio für elektronische Musik in Köln. Da werden Brücken abgerissen, die unwiederbringlich verlorengehen. Institutionen sind einfach wichtig, auch für die Erhaltung von Individualität.

„Meine Stücke sind immer eine Form von Einladung eine Erfahrung machen zu können. Also seinen Sinnen vertrauen.“

Institutionen ermöglichen zudem die Wahrnehmung von Möglichem. Wahrnehmung ist auch ein Aspekt in deinem Werk, allerdings in einem anderen Zusammenhang: Du beschreibst die gegenteilige Wirkung von Musikerleben und Handykonsum. Untersuchst du die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit über akustische Reize?

Wolfgang Suppan: Meine Stücke sind immer eine Form von Einladung eine Erfahrung machen zu können. Also seinen Sinnen vertrauen. Was die Aufnahmefähigkeit unserer Sinnesorgane betrifft, sind wir heutzutage durch die technischen Möglichkeiten doch schon längst über das noch bewältigbare Maß hinausgeraten.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock (Sprechgold)

Termine:

Donnerstag, 17. März 2022
IMAGO DEI: Musiksalon im Palais Mollard / Wien
Auf dem Programm: „Ulam“, „Unverbesserliche Lippen“

Samstag, 26. März 2022
IMAGO DEI Krems: Walking In The Limits
Auf dem Programm: „Walking in the limits“, „Welten…auseinander“

Links:
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Wolfgang Suppan (music austria Datenbank)
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