„ICH FINDE ES IMMER SUPERSPANNEND, WENN ELEMENTE DER POPMUSIK IN EINEM GRENZENLOSEN KONTEXT ANGEWANDT WERDEN“ – KENJI ARAKI IM MICA-INTERVIEW

Mit „Leidenzwang“ (Affine Records) veröffentlicht der Digital Artist KENJI ARAKI wohl eines der zwingendsten Statements zum Stand avancierter elektronischer Musik zwischen dystopischer Post-Club-Exploration, auralem Body-Horror, verbeulten Retro-Fragmenten und extravaganten Breakcore-Elementen. Dass dahinter eine spezifische Pop-Sensibilität steht, macht die Musik trotz aller Komplexität und Vertracktheit zu einem spannenden Future-Entwurf jenseits herkömmlicher Experimental- und Pop-Welten. Didi Neidhart traf sich zum ausführlichen Gespräch mit KENJI ARAKI.

Los geht das Album mit dem Track „Avant“. Übersetzt kann das unter anderem „vorher“, „davor“, „zuvor“, im Sport auch „Stürmer*in bedeuten. Wobei mich die düstere Atmosphäre mit den Jungle-Beats dann auch ein wenig an eine Art Alien-Geburt erinnert hat. Was war da deine Inspiration?

Kenji Araki: Ich war schon immer ein Fan explosiver Album-Intros. Die konkrete Inspiration war in diesem Fall Kanye Wests „On Sight” von seinem Industrial-Album „Yeezus”. Tracks wie dieser zeigen, dass ein Album kein langatmiges Intro braucht. Dieser Ansatz verkörpert gleichzeitig die Direktheit und Konfrontationslust des Albums. Außerdem signalisiert es hoffentlich die Kompromisslosigkeit des Albums von Anfang an. Die Idee der Alien-Geburt finde ich tatsächlich sehr spannend. Man kann auf jeden Fall argumentieren, dass „Avant” die Geburt der Klangwelt von „Leidenzwang” darstellt.

Woher kommen bei dir diese tiefen Jungle-Bässe? Die klingen eher nach Darkcore/Techstep, wie etwa in den 1990er-Jahren von Labels wie „No U-Turn Records“, „Metalheadz“ und Acts wie Ed Rush und Goldie fabriziert, und weniger bis gar nicht nach aktuellen Dub- bzw. Brostep-Bässen.

Kenji Araki: Meine erste große Liebe in der Welt der elektronischen Musik waren UK-Dubstep-Acts wie Benga, Coki, Burial, Skream etc. Ich hatte immer eine Affinität für düstere, schwere Klänge. Als ehemaliger fast exklusiver Rock- und Metal-Hörer bot mir die Welt der UK-Bass-Music-Szene all diese Facetten in einem Paket, das auch mit meiner Vorliebe für Technologie vereint wurde. Aktuelle Dubstep-Acts sind jedoch auch seit etlichen Jahren Teil meiner musikalischen Diät. Diese Einflüsse sind vielleicht nicht ganz so konkret in meinem Sound-Design hörbar, aber sie beeinflussen absolut die Aggression und die Klimaxe meiner Musik.

Bei „Matter“ gibt es auch nebelige Dub-Sirenen, die durchaus an Burial erinnern. Auch zieht sich durch das Album eine gewisse Art von Melancholie, bei der ich immer wieder an Burial denken musste. Darüber hinaus sind die Tracks ähnlich fragmentiert strukturiert und haben diese dunkle, auch sehr filmische Dauerregen-Atmosphäre. Stimmst du dieser Vermutung zu?

Kenji Araki: Wie so viele bin auch ich ein Riesen-Fan von Burials Musik. Die kinematische Energie, die Textualität und Atmosphäre seiner Musik haben mein Verständnis von Musik unmissverständlich geprägt. Zudem ist die Emotionalität seiner Musik etwas, was sie so gut macht. Es ist keine Tech-Demo wie so viele veröffentlichte Club-Tracks. Es ist eine emotionale, empathische, menschliche Erfahrung.

Dieses Video auf YouTube ansehen.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.

„KONKRET SIND HAUTE-COUTURE-RUNWAYS EIN GROSSER EINFLUSS AUF MEIN VERSTÄNDNIS VON VISUELLER DARSTELLUNG UND INSTALLATION.“

Im Promotext steht zu „Matter“ auch noch, dass es sich dabei quasi um den Soundtrack eines „düsteren Fashion- Films“ handelt. Wie kommt man auf so eine Idee? Ist Fashion für dich wichtig oder geht es hier eher um die dunkle Seite der damit verbundenen Glamour-Welt?

Kenji Araki: Fashion ist für mich einfach ein weiteres Medium für künstlerischen und persönlichen Ausdruck. Konkret sind Haute-Couture-Runways ein großer Einfluss auf mein Verständnis von visueller Darstellung und Installation. Ich sehe tatsächlich sehr viele Parallelen zwischen Haute-Couture-Designer*innen und modernen elektronischen Musiker*innen. Die Designs, die auf diesen Runways zu sehen sind, werden uns so bald nicht in einer Kleinstadt auf der Straße begegnen. Die Entwicklungen, die dadurch entstehen, werden jedoch ein paar Jahre später in der Alltagsmode widergespiegelt werden.

„Leidenzwang“ ist so gesehen mein Haute-Couture-Statement-Piece. Es ist nicht für jede*n. Es versucht nicht, massentauglich zu sein. Es versucht gezielt, in die Zukunft zu blicken, um quasi Vorschläge oder Voraussagen zu bieten. Ich kann es auf jeden Fall kaum erwarten, meine Idee von Post-Leidenzwang-Popmusik der Welt vorzustellen. Die will dann tatsächlich auch Menschen in ihrem Alltag begleiten.

Welchen Stellenwert haben bei dir eigentlich Vocals? Sind das echte Stimmen, also solche, die einen Körper haben oder zumindest einen suchen, oder sind das eher digitale Dateien, die dann wie etwa bei Burial oder vor allem bei Footwork/Juke als Klangmaterial verarbeitet werden?

Kenji Araki: Die menschliche Stimme ist und bleibt mein Lieblingsinstrument. Sie ist für mich der komplexeste, ausdruckstärkste Synthesizer aller Zeiten. Ihre zeit- und frequenzbasierten Modulationsmöglichkeiten sind sehr breit gefächert. Zudem kommt natürlich die empathische Komponente. Wenn man hauptsächlich elektronisch arbeitet, finde ich es wichtig, einen Hauch Menschlichkeit durchscheinen zu lassen. Ansonsten fehlt die Verbindung. So technisch meine Musik teilweise klingen mag, im Endeffekt sollte es eine menschliche, empathische Erfahrung bleiben.

Die vorkommenden Stimmen sind eine Melange aus tatsächlichen Recordings meiner eigenen Stimme, anderen Sänger*innen und Samples mit einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen, die bei genauem Hinhören einen Ort oder eine Szene illustrieren.

Bei „Nabelschnurtanz“ gibt es am Anfang diese Frauen-Vocals, die einem scheinbar direkt ins Ohr kriechen und dabei auch ein wenig an Billie Eilish erinnern, aber recht schnell wird klar, dass die Ansätze zu einem Pop-Song auch hier eher eine Falle darstellen. Denn das, was folgt, ist eher eine Achterbahnfahrt durch metallische Fleischwölfe. Dabei musste ich aber nicht nur an Horrorfilme wie Dario Argentos „Suspiria“ oder den Body-Horror von „Hellraiser”“ denken, sondern vor allem an japanische Horrorklassiker wie „Ju-on: The Grudge“ mit dem 1998 die sogenannten dead wet girls in die moderne Horror-Film-Ikonografie eingeführt worden sind. Spielen solche Referenzen für dich eine Rolle oder sind das Japan-Klischees, die ich mir da zusammenfantasiere?

Kenji Araki: Ich finde es immer superspannend, wenn Elemente der Popmusik in einem grenzenlosen Kontext angewandt werden. Die Direktheit und Auslegung auf maximierte Effektivität bilden einen sehr wirksamen Kontrast zu der Freiheit und Neugier experimenteller Musik. Pop-Strukturen an sich sind ein Paradebeispiel von effektivem Experience-Design. Als Hörer*innen haben wir den Rhythmus und das Pacing eines Pop-Songs schon so stark in unser kollektives Bewusstsein aufgenommen, dass wir bei unerwarteten Abweichungen die Ohren sofort spitzen. Das funktioniert jedoch nur, wenn man mit den Erwartungen des Publikums spielt. Man präsentiert ein gewöhntes Konzept und lässt die Hörer*innen akklimatisieren, bevor man, wie du so schön ausgedrückt hast, die Achterbahnfahrt durch metallische Fleischwölfe schickt. „Nabelschnurtanz“ spezifisch ist meiner Meinung nach jedoch durch und durch ein Pop-Song. Die ausgewählten Sounds und Rhythmen sind zwar untypisch für das Genre, die Struktur und Intention bezeugen jedoch diese. Außerdem definiere ich Popmusik nicht durch etwaige Genre-Tropen wie gewisse Klänge, Rhythmen und Lyrik, sondern durch ihr Ziel. Popmusik versucht definitionsgemäß populär zu sein. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass jeder Pop-Song in gewissen Charts landen soll, aber Popmusik ist immer dafür designt, von Endkonsument*innen als Unterhaltungsmedium gebraucht zu werden. Das trifft auf jeden Fall auf „Nabelschnurtanz“ zu.

Bild Kenji Araki
Kenji Araki (c) David Prokop

„ICH BIN ÜBERZEUGT, DASS MAN DIE OHREN VOR KEINEM GENRE UND KEINER MUSIKALISCHEN EPOCHE VERSCHLIESSEN SOLLTE.“

Wie hältst du es eigentlich mit der Vergangenheit? Bei „Gel & Gewalt“ gibt es Grunge-Samples, denen aber auch irgendwie die Lebensenergie auszugehen scheint, und bei „Monomythz“ wird die 2000er-Eurodance-Ästhetik“ auch eher in die Mangel genommen bzw. quasi einem Elchtest unterzogen. Ist die Vergangenheit für dich ein „Stranger Things“-Retro-Raum oder gibt es da noch was zu holen – wenn auch fast nur noch in verbeulter Form?

Kenji Araki: Ich bin wie viele mit einer variierten Diät unterschiedlicher Gitarren-Musik aufgewachsen. Spielte in einigen Bands, keine davon sonderlich erfolgreich, aber lehrreich. Ich bin überzeugt, dass man die Ohren vor keinem Genre und keiner musikalischen Epoche verschließen sollte. Ich habe wenig Interesse daran, Genre-Revitalist zu sein, dafür gibt es genug Acts, die das machen. Jedoch ziehe ich ständig bewusst oder unbewusst Elemente aus Musiken der Vergangenheit. Wenn diese Elemente dann in verbeulter Form auftauchen, liegt das einzig und allein an meiner Neugier und meinem Drang, ständig neue musikalische Territorien zu finden. Das gelingt manchmal besser, manchmal weniger gut. Das ist jedoch der Kern experimenteller Arbeit. Man muss sich nur trauen, was Furchtbares zu machen. Sobald man sich von dem Druck löst, ständig was Gutes machen zu wollen, passiert es mit etwas Geduld in der Regel automatisch.

Wie wichtig sind dir Sound-Transformationen bzw. -Mutationen – etwa bei „SINEW“, wo ich z. B. den verzerrten Kontrabass fast nur anhand des Promotextes ausmachen kann, und was ist dabei die Herausforderung?

Kenji Araki: Im Gegensatz zu vielen anderen Musiker*innen ist mir der Ursprung eines Sounds eigentlich relativ egal. Fakten, wie der, dass die Bass-Sounds von „SINEW“ manipulierte Kontrabässe sind, können spannend für Hörer*innen sein, darum wird es erwähnt. Mir geht es jedoch stets um das finale Produkt. Der Prozess ändert sich ständig und die Häufigkeit von Sound-Transformationen und -Mutationen können, wie schon bei der letzten Frage beantwortet, auf Neugier und das Verlangen nach auditiver Entwicklung zurückgeführt werden. Um die Frage jedoch zu beantworten, in gewissen Situationen ist Sound-Manipulation essenziell, in anderen spricht die Nacktheit eines unbearbeiteten Sounds jedoch für sich.

Du bezeichnest dich selbst als Digital Artist. Wieso ist diese Bezeichnung so wichtig für dich? Mittlerweile wird die meiste elektronische Musik digital gemacht.

Kenji Araki: Ich mag den Begriff Digital Artist gern, weil er keine Grenzen zwischen unterschiedlichen digitalen Schaffungsprozessen zieht. Meine Arbeitsweise ist in 3-D-Programmen wie Blender sehr ähnlich wie die in Audio-Programmen wie Ableton Live. Es geht mir also weniger um die Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Arbeit – ich verwende auch regelmäßig analoges Equipment wie akustische Instrumente, analoge Synthesizer etc. –, sondern um die interdisziplinären Möglichkeiten, die Digitalität bieten. Heutzutage kann jede*r mit einem Laptop und ein paar Programmen in eine Vielzahl kreativer Disziplinen eintauchen. Sobald man ein Gefühl für UI/UX-Design entwickelt, ist es nicht schwierig, zwischen Medien zu springen und die zu vereinen.

Wie würdest du eigentlich bei deinen Tracks das Verhältnis zwischen den Beats und den Sounds bezeichnen? Du hast auffällig viele Beats, die zwar loslegen wollen, aber dann so schwer anspringen wie alte bzw. defekte Traktormotoren. Es gibt Breaks, Drop, aber dann keine „Erlösung“. Die Electronic-Künstlerin Fatima Al Qadiri hat das Dystopische ihrer Musik einmal anhand des Fehlens utopisch gedachter Beats beschrieben. Finden deine Beats eventuell auch nicht mehr zu einem Dancefloor oder nur noch zu „Haunted Dancefloors“?

Kenji Araki: Ich liebe Beats! Es ist wahrscheinlich auch der kompositorische Teil, der mir am leichtesten fällt. Darum langweilen sie mich jedoch schnell. Durchgehende 4/4-Rhythmen verlieren durch ihre Vorhersehbarkeit und Repetition in meinen Ohren oft Spannung. Wenn man Rhythmen jedoch nur andeutet, zerbrechen lässt oder teilweise ganz aussetzen lässt, füllt das Hirn die Lücken und diese Augenblicke der Kreativität im Publikum machen es für mich spannend. Außerdem hilft es mir dabei, einen Track mehr als Reise mit Abbiegungen und Überraschungen und Kehrtwenden zu designen. Ein durchgehender Dance-Rhythmus jedoch verlangt fast nach Struktur und Ordnung. Ein Vergleich dazu wären gewisse Sounds, die im Film verwendet werden. Ein Schwert muss erwartungsgemäß diesen typischen „Swisch“-Sound machen, ansonsten würde es sich nicht mehr „richtig“ anfühlen. Wir wurden durch Wiederholung also alle kollektiv konditioniert. Ähnlich verhält es sich mit Genre-Erwartungen, insbesondere wenn ein Beat vorkommt. Das ist aber in keiner Weise wertend gemeint, die Loslösung von Erwartungen war einfach die treibende Kraft hinter dem Album.

Dein Label umschreibt deine Musik sehr schön als „Post-Club-Exploration mit Pop-Sensibilität“ und zum Track „lluviácida“ heißt es auch, dass er „inspiriert von der aus der Ferne beobachteten Rave-Szene“ ist. Wie sehr hängen solche Gefühle, also dass etwas nicht mehr ist oder dass etwas nur aus der Distanz bzw. distanziert betrachtet werden kann, mit grundsätzlichen Einstellungen zusammen und wie sehr mit Corona und den Folgen? Ich denke dabei an Lockdowns, keine Clubs und Partys, quasi eine ganze Teenager*innen-Generation ohne derartige Erfahrungen.

Kenji Araki: Ich bin fernab jeglicher Club-Szenen am Land aufgewachsen. Club-Musik, mit Ausnahme viertklassiger Drum-and-Bass-Scheiben und David Guetta-Remixes in der Dorfdisco, konnte ich also nur durch das Internet und durch Hörensagen erfahren. Ich bin überzeugt, dass ich das Ganze als Teenager idealisiert und romantisiert habe. Diese Gefühle sind aber seit langer Zeit Teil meiner Identität. Darüber hinaus habe ich natürlich auch über die Jahre die Legenden gewisser Rave-Szenen wie die im Vereinigten Königreich und in Berlin aufgeschnappt und Tagträume gehabt, eines Tages Teil davon zu sein. Es bot für mich zu einer prägenden Zeit einen imaginären Zufluchtsort und ein Ziel, welches sich immer mehr als wunderschöne Sisyphos-Aufgabe entpuppt. Die Lockdowns haben diese Gefühle wieder zurückgebracht, diesmal jedoch in einem anderen Kontext. Zu der Zeit habe ich in Wien gelebt, also an einem Ort, der mir zumindest mit guten Ansätzen das hätte bieten können, von dem ich so lange geträumt hatte. Stattdessen saß ich einfach täglich an meinem Computer und hab dasselbe gemacht wie mit 16. Ironischerweise hat sich dadurch wohl ein roter Faden gebildet. Ich war wieder Tagträumer und voyeur on the outside looking in.

Wie kommst du eigentlich auf Tracktitel wie „Nabelschnurtanz“, „Gel & Gewalt“ oder „Leidenzwang“?

Kenji Araki: Ich finde Wortschöpfungen super, weil sie so viel Interpretationsraum bieten. „Leidenzwang“ ist beispielsweise eine Kombination aus den Wörtern „Leidenschaft“ und „Leinenzwang“. Der künstlerische Schaffensprozess kann oft einer der Selbstgeißelung sein. Die deutsche Sprache und das Wort Leidenschaft (Leiden schafft) sind dabei nicht sonderlich subtil. Zeitgleich ist es jedoch fast wie eine Sucht. Man jagt ständig nach dem nächsten High, das künstlerische Erfüllung bietet, man ist also an eine Leine gezwungen. „Nabelschnurtanz“ ist für mich ein Synonym für Leben. Man wird geboren, trennt sich von der Nabelschnur und dann wird getanzt, bis es vorbei ist. Den Titel „Gel & Gewalt“ lass ich jetzt erst mal bewusst das Publikum entziffern.

Dieses Video auf YouTube ansehen.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.

„KONFRONTATION IST FÜR MICH DIE GEGENTHESE ZU ESKAPISMUS.“

Im Promotext ist viel die Rede von Obsessionen, von Leidenschaften und von Konfrontationen, aber auch wortwörtlich von „Selbstgeißelung“ und einer damit verbundenen reinigenden Katharsis. Wie lässt sich all dies in elektronische Musik umsetzen? Oder gehst du da ähnlich expressiv ran wie z. B. bei diversen Metal-Spielarten?

Kenji Araki: Konfrontation ist für mich die Gegenthese zu Eskapismus. Darum sind viele der Melodien und Rhythmen auf dem Album bewusst unzugänglich. Ich versuche, die Hörer*innen nicht an der Leine zu nehmen. Ich versuche, sie mit auditiven Grenzphänomenen zu konfrontieren, um möglicherweise neue Synapsen bilden zu lassen. In meiner Musik sind der Selbstgeißlungsprozess und die verbundene Katharsis weniger auf Spielarten wie bei Metal oder performativer Noise-Musik zurückzuführen, sie sind mehr auf den langwierigen Prozess der künstlerischen Selbstfindung und des ewigem Experimentierens und Probierens bezogen. Meine Finger bluten nicht, weil ich zu viel Schlagzeug spiele, aber mein Hirn tut es, weil ich ständig auf der Suche nach Entwicklung bin, und diese findet man eben nur durch Beständigkeit, Obsession und Geduld.

Jetzt hat das Album aber zwölf Tracks bei 50 Minuten Spielzeit, und da stellt sich gerade wegen der erwähnten Obsessionen schon eine nicht unwichtige Frage: Wie lässt man sich da nicht nur von seinem Obsessionen leiten und strukturiert die Tracks bzw. bestimmt, wie lange die jeweils sind? Du könnest dich auch darin verlieren und mit dementsprechend langen Tracks eher Richtung Ambient, Noise, Drone gehen. Wie kommt es zu diesen Verdichtungen?

Kenji Araki: Zwölf Tracks, 50 Minuten war von Anfang das Ziel. Hier spürt man deutlich wieder den Einfluss der Popmusik. Ich bin einfach ein großer Fan von kompakter, effektiver Musik. Natürlich könnte ich auch 30 Minuten Drone-Pieces machen. Das passt jedoch einerseits nicht zu meiner Persönlichkeit, dafür bin ich zu umtriebig, andererseits bietet es eine Challenge, Elemente der Ambient-, Noise-, Drone- und Experimental-Szene in ein Pop-Kleid zu stecken. Diese Kombinationen sind es, die mich schon immer hellhörig gemacht haben. Außerdem finde ich, dass gewisse Formate besser für Live-Settings geeignet sind. Ich wollte jedoch von Anfang an, dass „Leidenzwang“ ein Album ist, das man genauso gut in einem Club wie bei einer Zugfahrt genießen kann.

Im Jahr 2021 warst du unter den Prämierten des Salzburger „Elektronikland“- Preises. Was hat das für dich gebracht?

Kenji Araki: Es war eine absolute Ehre, Teil der Prämierten zu sein. Neben dem offensichtlichen Vorteil des Geldpreises war es für mich auch ein schönes Zeichen, dass das Land Salzburg doch offene Ohren für Musik haben kann, die versucht, fortschrittlich zu sein, und nicht auf der Suche nach direktem Erfolg ist. Darüber hinaus ist es immer schön, wenn man den Eltern einen Preis überreichen kann, den sie dann mit Stolz aufhängen!

Wird es zum Album eine Tour geben?

Kenji Araki: Absolut! Diesen Sommer kann man „Leidenzwang“ unter anderem beim Heart of Noise, bei der Album-Release-Party, die am 5. Juni in der fluc_wanne gemeinsam mit Zanshin stattfindet, beim Sonic Territories in Wien, beim Dawn Festival in Salzburg und beim Popfest in Wien live sehen. Je nach Event dann auch mit der vollen A/V-Show.

Live wird deine Musik von atmosphärisch sehr stimmigen Videos unterstützt. Da gibt es neben vielen Body-Horror-Anklängen auch solche zu gewissen Anime-Stilistiken, aber auch zu geradezu dunklen psychedelischen Elementen und alptraumhaften Begegnungen mit Puppen. Wie wichtig sind diese Visuals und gibt es da vielleicht auch ein gewisses Zusammenspiel zwischen ihnen und den Sounds?

Kenji Araki: Ich war schon immer ein Fan von guten audiovisuellen Performances. Die angesprochenen Body-Horror-Anklänge, psychedelischen Elemente und Anime-Stilistiken entstehen dabei fast automatisch durch die Kollaborationen, die ich über die Jahre gestartet habe. Ich gravitiere einfach natürlich zu einer gewissen Ästhetik, wodurch hoffentlich ein visueller roter Faden entsteht. Spezifische Elemente wie die alptraumhaften Begegnungen mit Puppen finde ich beispielhaft durch die gegebene Dichotomie zwischen kindlicher Unschuld und Horror spannend. Grundsätzlich sind diese Wechselwirkungen immer Teil meiner Arbeit.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Didi Neidhart

++++

Kenji Araki live
04.06.2022: Heart of Noise, Innsbruck
05.06.2022: Album-Release-Party, feat. Zanshin, Fluc Wanne, Wien
24.06.2022: Rockhouse, Salzburg
01. oder 02.06.2022 : Sonic Territories, Wien
23.07.2022: ImPulsTanz Festival, Wien
30.07.2022: Popfest, Wien
05.08. – 22.08.2022: Residency am Yppenplatz (Der Goldene Shit Agency), Wien

++++

Links:
Kenji Araki
Kenji Araki (Facebook)
Kenji Araki (Instagram)
Kenji Araki (bandcamp)
Affine Records