„ICH FINDE, DASS MAN VON SOCIAL MEDIA ETWAS WEGKOMMEN UND DAFÜR WIEDER MEHR WIRKLICH MITEINANDER SPRECHEN SOLLTE“ – ANJA OM IM MICA-INTERVIEW

Wie wichtig Selbstreflexion ist, zeigt Anja Obermayer alias ANJA OM in ihrem Debütalbum, das vor allem von Mehrstimmigkeit – ihrer großen Leidenschaft – geprägt ist. Aus diesem Grund hat die gebürtige Steirerin in den letzten Jahren nicht nur ein Soloprojekt aufgezogen, sondern tritt regelmäßig auch mit anderen Sängerinnen als ANJA OM PLUS oder als ANJA OM PLUS CHOR auf. Wie all diese Projekte gestartet haben und weshalb sie sich selbst eine gewisse Egozentrik zuschreiben würde, hat die Musikerin im Gespräch mit Katharina Reiffenstuhl verraten.

Dein Album trägt den Titel „Egocentric Vision“. Würdest du dich als Egozentrikerin beschreiben?

Anja Obermayer: Das ist eine sehr gute Frage, weil ich mir genau darüber Gedanken gemacht habe. Ich bin dann zu dem Schluss gekommen … ja, immer wieder. [lacht] Es ist einfach wichtig, das zu realisieren. Ich habe die Songs für das Album geschrieben, lange bevor ich überhaupt an ein Album gedacht habe. Diese Geschichten sind einfach meine Wahrnehmung, also wie ICH eine Geschichte erzählen will. Manchmal betrifft das auch andere Menschen. Ich schreibe die Songs aber nur aus meiner Sichtweise, deshalb “Egocentric Vision”. Im ersten Moment ist man ja oft in Rage und die Gefühle gehen über, da ist man dann sehr in einer Egozentrik drin, finde ich. Dagegen kann man meistens auch gar nicht viel tun und muss das erst einmal verdauen. Dann kann man erst andere Sichtweisen zu gewissen Standpunkten oder Themen sehen. Die Songs sind alle in irgendeinem Moment entstanden, wo ich aus meiner sehr egozentrischen Wahrnehmung Dinge beschrieben habe. Aber ich beschäftige mich viel damit, andere Sichtweise zu erlernen und zu akzeptieren. Man kommt mittlerweile so selten mit Menschen ins Gespräch, die andere Sichtweisen haben. Man ist so verwachsen in seiner eigenen Social Media – Bubble, dass man immer nur empört darüber ist, wenn Menschen bei gewissen Dingen anderer Meinung sind und blendet das dann gerne auch aus. Ich finde, dass man von Social Media etwas wegkommen und dafür wieder mehr wirklich miteinander sprechen sollte. Es ist einfach wichtig, zu versuchen, eine Gesprächsbasis mit Menschen zu finden, die anders denken oder auch einen anderen Background oder eine andere Geschichte haben. Man muss nur herausfinden, warum sie so denken.

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Meine Geschichten sind teilweise sehr persönlich und betreffen teilweise auch meine Familie und für mich ist das irgendwie heilend. Das klingt jetzt sehr esoterisch, aber es heilt mich und bringt dafür anderen Personen eigentlich nicht so viel. Das macht es auch irgendwie ein bisschen egozentrisch. Aber ich finde es schön, in meiner Kunst meinen Emotionen freien Lauf zu lassen.

Besonders interessant ist der zweite Song auf deinem Album, „For You“. Es ist kein Gesang, sondern mehr gesprochene Poesie mit mediativer Klanguntermalung. Wie ist das entstanden?

Anja Obermayer: Das war einmal ein kompletter Song, den ich vor 12 Jahren geschrieben habe. Die Geschichte dazu hat sich mittlerweile so stark verändert, dass ich auch die Musik dazu verändern und zusätzlich auch den Text ein bisschen runterbrechen wollte. Das war eigentlich einmal eine Melodie mit Klavierbegleitung und mittlerweile ist meine Sichtweise aber einfach anders. Der Song führt hin zum darauffolgenden Song, der “Further” heißt. Mit dem schließe ich diese alte Geschichte ein bisschen ab – oder versuche zumindest, sie abzuschließen. Deswegen ist “For You” auch so kurz, ich möchte mich mehr auf dieses “move further” konzentrieren. Die Stimme ist die Melodie vom ehemaligen Stück, die singe ich im Hintergrund, aber jeweils dreistimmig in Quarten. Das Gesprochene hat für mich in gewisser Weise einfach “Pureness”. Da geht es dezidiert um eine Freundin von mir, die vor einigen Jahren beschlossen hat, dass sie den Kontakt zu ihrer Familie und ihren Freunden abbricht. Zu der hat momentan eigentlich niemand wirklich Kontakt. Ich habe sie auch einmal zufällig getroffen, da ist aber eigentlich nichts miteinander gesprochen worden. Wir waren Studienkolleginnen und haben mal sehr viel Zeit miteinander verbracht. Dieses Lied ist ein Versuch, irgendwie zu ihr hinzukommen und sie mit diesem direkten Sprechen vielleicht zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich das anhört, ist klein, aber wer weiß. 

Du machst eine ganz spannende Mischung aus zeitgenössischer, improvisierter und Pop-Musik. Woher kommen all diese Einflüsse?

Anja Obermayer: Ich bin aufgewachsen mit Vokalmusik und Chormusik. Meine Mama hat in einem Vokalquartett gesungen, als ich ein kleines Kind war, und dadurch war ich auch oft bei den Proben mit. In dem kleinen Dorf, aus dem ich bin, habe ich dann in der Musikschule bei den Chören mitgesungen, etc. Mit 14 bin ich zum Landesjugendchor „Cantanima“ gekommen und habe dort auch zeitgenössische Chormusik kennengelernt. Das war eine sehr einflussreiche Zeit für mich als junger Mensch. Ich bin da von meinem kleinen Kaff in die große Stadt Graz gezogen, um dort gemeinsam mit genauso begeisterten Jugendlichen Musik zu machen. Andererseits habe ich auch klassischen Klavier- und Gesangsunterricht gehabt, seitdem ich klein bin. Ich habe dann auch Klassikgesang studiert, neben meinem Jazzstudium. Dadurch ist das alles eine große Mischung an verschiedenen Stilrichtungen. Ich bin auch sehr froh darüber, ich liebe klassische Musik, ich liebe die Mehrstimmigkeit.

Was fasziniert dich so an der Mehrstimmigkeit? Die zieht sich ja tatsächlich durch dein komplettes Album.

Anja Obermayer: Auf meinem Album sind ja so gut wie alle Stimmen ich selbst. Wir haben das bewusst so produziert, dass es teilweise sehr chorisch klingt. Mich fasziniert es, wenn Akkorde im gemeinsamen Singen einrasten, das hat etwas total Erhebendes. Ich bin auch der Meinung, jeder Mensch kann eigentlich singen – oder es zumindest lernen. Ich finde es immer beeindruckend, wenn Menschen gemeinsam an einem Platz sind und etwas Gemeinsames machen. Ob das jetzt Applaus ist oder Menschen gemeinsam auf einer Demo stehen, dann hat das eine ganz besondere Magie. Das ist beim Singen eben auch so.

Bild Anja Ohm & Chor
Anja Om & Chor (c) Simon Reithofer

„ICH ALS SOLISTIN, MEINE VIER SÄNGERINNEN UND DER CHOR, DAS IST EIGENTLICH GENAU DAS, WIE ICH MIR MEINE MUSIK VORSTELLE“

Live ist das mit der Mehrstimmigkeit sicher nicht ganz so einfach. Wie machst du das bei Auftritten?

Anja Obermayer: Das stimmt. Ich habe theoretisch mehrere Möglichkeiten, aufzutreten. Entweder solo mit Klavier, Gitarre und manchmal Loop-Station, oder ich habe vier wunderbare Sängerinnen dabei, das macht das mehrstimmige Singen dann um einiges leichter. [lacht] Das sind auch Sängerinnen aus Österreich, Mira Perusich, Veronika Sterrer, Ricarda Oberneder und Ursula Reicher. Die haben auch alle selbst großartige Projekte, umso mehr freut es mich, dass sie trotzdem mit mir gemeinsam singen. Aber zu den Präsentationskonzerten habe ich einen klassischen Chor, der mit dabei sein wird. Da sind wir dann 30 Stimmen auf der Bühne. Der Chor heißt “Camerata Styria” unter der Leitung von Sebastian Meixner, die sind aus Graz. Einige davon haben damals mit mir schon im Landesjugendchor gesungen und stehen jetzt wieder mit mir auf der Bühne und machen meine Musik, das freut mich sehr. Ich als Solistin, meine vier Sängerinnen und der Chor, das ist eigentlich genau das, wie ich mir meine Musik vorstelle.

Wie sind diese Gruppierungen entstanden?

Anja Obermayer: Mit einigen habe ich schon in anderen Projekten gemeinsam gesungen, manche habe ich auf der mdw kennengelernt bzw. kennt man sich als Sängerinnen in Wien natürlich ein bisschen untereinander. Ich habe die alle super gefunden und einfach gefragt, ob sie mitmachen wollen. Beim Chor habe ich vor allem den Chorleiter schon gekannt, weil er mit mir gemeinsam in Graz studiert hat. Ich schätze seine Arbeit sehr – und seine Passion für die Mehrstimmigkeit. 

„ICH FINDE ES AUCH SCHÖN, WENN DIE SONGS AUF DIE ESSENZ REDUZIERT SIND“

Und wie sieht das dann aus, wenn du als Solistin auftrittst?

Anja Obermayer: Mager. [lacht] Nein, es gibt strip-down-Versionen. Ich finde es auch schön, wenn die Songs auf die Essenz reduziert sind. Ich spiele hauptsächlich Klavier und ein wenig Gitarre, eigentlich aber nur bei zwei Stücken, die auf dem Album gar nicht drauf sind. Einige Songs funktionieren mit Loop-Station sehr gut, wo ich dann alle Stimmen einsinge, so gut es geht.

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Wie bist du überhaupt zum Singen selbst gekommen?

Anja Obermayer: Ich glaube tatsächlich durch meine Mutter – oder meine Familie an sich. Meine damalige Tagesmutter war gleichzeitig auch meine Klavierlehrerin und Chorleiterin an der Musikschule, dadurch habe ich auch angefangen zu singen. Zuerst hauptsächlich im Chor und dann mit 15 habe ich meine erste Band gegründet, wo wir mehrstimmig gesungen haben. 

Was ist aus dieser Band geworden?

Anja Obermayer: Die hat es eigentlich sehr lange gegeben, 10 Jahre lang. Wir haben damals zu dritt angefangen und Volkslieder und Gospel gesungen. Irgendwann haben wir uns dann erweitert und einen Akkordeonisten dazu genommen, Alexander Christoph, der jetzt mittlerweile der Akkordeonist von GRANADA ist. Da haben wir einige Konzerte gemeinsam gehabt und auch viel in Deutschland gespielt. Wir haben auch 2015 bei “Der großen Chance der Chöre” mitgemacht, das ist aber auch schon lange her. Es war eine äußerst spannende Zeit und wir haben auch während dem Studium noch versucht, diese Band aufrecht zu erhalten. Aber mittlerweile gibt es sie nicht mehr. Damals haben wir auch hauptsächlich gecovert und jetzt bin ich froh, auch eigene Musik machen zu können.

„ES GAB ALLE AUF UND AB’S, DIE MAN SICH IN EINER BAND VORSTELLEN KANN“

Was hast du aus dieser Band-Zeit von damals mitgenommen?

Anja Obermayer: Ganz, ganz viel. Erstens wunderbare Konzertmomente. Wir waren auch freundschaftlich sehr verbunden. Es gab alle Auf und Ab’s, die man sich in einer Band vorstellen kann. Wir waren sehr viel unterwegs im deutschsprachigen Raum, manchmal in der Schweiz und haben dort viele Erfahrungen gesammelt. Abgesehen von der Bühnenerfahrung hat mir das einfach immer schon die Möglichkeit gegeben, irgendwie aufzutreten, auch wenn ich noch sehr jung war.

Ab wann hattest du dann das Gefühl, dass du gerne mal alleine Musik machen möchtest?

Anja Obermayer: Tatsächlich eigentlich sehr früh, ich glaube auch schon während dem Studium in Graz. Ich habe es eh immer wieder mal gemacht, aber keine eigene Musik. Es hat dann doch ein bisschen gedauert, bis ich vermehrt eigene Sachen geschrieben habe. Ich habe auch von der Uni Abstand gebraucht und wollte musikalisch ein bisschen ankommen. Da habe ich dann erst rausgefunden, was meine Stärken sind, wie ich mich ausdrücken möchte und wo ich eigentlich hingehöre. Ich war immer sehr ungeduldig mit mir und habe mir gedacht “Mach’ jetzt endlich mal was!”. Mittlerweile denke ich mir, dass es einfach seine Zeit gebraucht hat – und jetzt bin ich dort, wo ich sein möchte und mache die Musik, die mich freut. Es stresst einen manchmal einfach alles, man wird älter, die Zeit vergeht. Aber ich glaube, dass es egal ist, wie alt man ist – man kann jederzeit beginnen, das zu machen, was man will. 

Das war ein wunderschöner Schlusssatz – vielen Dank für das Interview!

Katharina Reiffenstuhl

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Termine CD-Präsentation – Anja Om plus Chor:
12.05.2022, Graz, Schutzengelkirche
13.05.2022, Maria Hof
14.05.2022, Wien, Lorely-Saal

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