„ICH ERLAUBE MIR, MEINEN PROJEKTEN NICHTS MEHR ZU VERBIETEN” – MARION LUDWIG IM MICA-INTERVIEW

MARION LUDWIG weiß, was sie nicht will: sich selbst negieren. Mit RIO OBSKUR und ihrer EP „Baby, zieh die Samthandschuhe an” zeigt die Wiener Künstlerin einmal mehr, was es zwischen Eigenregie und Kollektiv an Grauabstufungen gibt. Nach zwei Alben als NELLA LENOIR betritt LUDWIG damit ein neues Spielfeld und hat sich dem Verknüpfen von Künsten verschrieben: Zwischen Surrealistic Synthie Sound und Coldwave erzählt die Musikerin von Zerrissenheit und Kontrolle. Warum wir alles in Spektren betrachten sollten und weshalb sie ihre Alter Egos gleichermaßen braucht, bleibt zwischen NELLA LENOIR und RIO OBSKUR einleuchtend ambivalent, erklärt sie Ania Gleich und Christoph Benkeser.

Deine Projekte verbinden: Bilder, Gedanken, Musik … als was definierst du dich?

Marion Ludwig: Ich weiß, als was ich mich nicht definiere: als reine Musikerin. Meine Projekte basieren auf unterschiedlichen Facetten, weil ich unterschiedliche Kräfte in mir habe. Manchmal lasse ich die einen stärker zu als die anderen, dann wieder umgekehrt. Egal ob ich also mit Gedanken, Poesie oder Musik arbeite – mein approach ist das Verbinden von Künsten. Wenn es am Ende in eine Richtung geht, zum Beispiel zu einem Song, stecken in diesem Prozess bereits viele andere Anteile. 

Deine ultimative Kraft ist also das Verbinden von Künsten?

Marion Ludwig: Ja, aber diese Kraft passiert unbewusst, sie ist da. 

Eine Superkraft!

Bild (c) Marion Ludwig
Soundporträt (c) Marion Ludwig

Marion Ludwig: Alles andere wäre mir zu fad! Ich kann nicht sagen, ich mach jetzt einen Song oder so. Das wäre mir zu unphilosophisch.

Du lässt die inneren Anteile zu.

Marion Ludwig: Voll. Ich merke dann, dass es nichts Ganzes gibt. In dir nicht, in mir nicht. Nirgends. Vielleicht sind diese inneren Teile also Kräfte, die dazu werden können. Früher ist mir das schwer gefallen zu akzeptieren. Inzwischen habe ich eine Grundakzeptanz, die weiß, was in mir steckt.

Du sagst, du weißt, dass du keine Musikerin bist. Wie bist du trotzdem zu einer geworden?

Marion Ludwig: Eigentlich wollte ich nie eine sein, also im konkreten Sinne, sondern eher bildende Künstlerin. Diese Vorstellung hat mich lange blockiert, weil die Musik ja trotzdem immer da war. Von frühester Kindheit an. Ich konnte irgendwie singen, Leute um mich haben musiziert. Es war leicht und deshalb nichts Besonderes.

Warst du ein lustiges Kind?

Marion Ludwig: Ich war ein stilles Kind. Meine westrumänische Familie hat mir aber immer eine Musikalität nachgesagt. Dort war Musik ein Teil des Lebens, mein Onkel hatte zum Beispiel immer ein Akkordeon dabei. Wir haben gesungen und getanzt. Fasziniert hat mich das Musikmachen trotzdem nie wirklich. Viel später hab ich Theaterwissenschaft studiert und bin mit anderen Künsten in Berührung gekommen. Plötzlich hab ich gecheckt: Ich bin eine Verknüpferin. Ich will, dass sich alles gegenseitig nährt, damit aus allem alles entstehen kann. So kam ich zur Musik – auch wenn es das Leichteste war, was ich mir vorstellen konnte.

Mit deiner Musik verbinden sich trotzdem mehrere Ansätze. 

Marion Ludwig: Weil die Grenzen für mich fließend sind. Eine einzelne Sache wird in mir immer einen Ausweg suchen, um etwas anderes zu schaffen.

So entstand Nella Lenoir, dein erstes Soloprojekt.

Marion Ludwig: Das war während meiner Zeit in Leipzig, ja. Davor hatte ich in Berlin gelebt, wo ich Kunst eher rezipiert, als gemacht habe, aber vermutlich gerade dadurch auch viel Inspiration aufgeschnappt. Und ich wusste schon da: Ich hab was Individualistisches in mir. Ich mag Eigenregie. Und brauch die Kontrolle, bis ich mich mit einem Konzept identifizieren kann.

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Spannend, dass du Kontrolle sagst. Das Projekt führt mich eher in eine Offenheit, die Ambivalenz zulässt.

Marion Ludwig: Die Kontrolle ist eine Entscheidung, die gar nicht einfach ist, denn: Mit einer Entscheidung könnten sich ja Türen schließen.

Oder öffnen.

Marion Ludwig: Deshalb braucht es die Entscheidung, ja!

Mit welcher Musik bist du groß geworden?

Marion Ludwig: Meine erste CD war von No Doubt: „Don’t Speak”, da war ich sechs. Mein Papa und ich standen in einem Wuselgeschäft, ich hatte riesengroße Kopfhörer auf und dann kam dieses Lied. Womit ich räsoniere, wusste ich schon davor. Der Song war dann genau das.

Du wusstest, das könnte ich auch?

Marion Ludwig: Nein, gar nicht. Ich hatte Schwierigkeiten mich in einem Kontext zu sehen, der sich richtig anfühlt, weil ich davor die Entscheidung dafür getroffen habe. Weißt du, was ich meine? Na ja, in mir war lange Wischiwaschi. Aber ich wusste, was mir gefällt. Und noch wichtiger: wovon ich mich entfernen sollte. 

„ICH HATTE WEDER BOCK, KRASS DROGEN ZU NEHMEN, NOCH ALLE CODES ZU BEDIENEN.”

Zwischenzeitlich hast du Theatersound gemacht. Vor Kurzem hast du mit RIO OBSKUR ein weiteres Projekt gestartet.

Marion Ludwig: Damit springen wir gedanklich vom sechsjährigen, No-Doubt-hörenden, individualistischen, stillen und zurückgezogenen Kind, das in seiner eigenen Welt lebt und dort auch glücklich ist …

In deiner eigenen Welt?

Marion Ludwig: Ja, ich hab mich immer weird unter Menschen gefühlt und teilweise echt alienated wahrgenommen. Da war immer ein Zwiespalt in mir. Ich wusste, ich sollte etwas wollen, hatte aber nicht die Akzeptanz, dass ich es auch nicht wollen darf.

Wann hast du es akzeptiert?

Marion Ludwig: In Berlin. Dort war ich mit so vielen Szenen konfrontiert, dass ich mir irgendwann gedacht hab: Scheiß drauf! Ich hatte weder Bock, krass Drogen zu nehmen noch alle Codes zu bedienen. Ich wollte mich also nie negieren. Das bleibt bis heute ein harscher Prozess. 

Wie zeigt sich das in deinen Projekten?

Marion Ludwig: Nella Lenoir ist individualistisch. Sie hat es sich fast schon verboten, Einflüsse von außen zuzulassen, weil: Sie sollte nicht klingen wie jemand anders. RIO OBSKUR geht in die andere Richtung. Sie soll mit anderem verbunden werden. Das sind zwei Entscheidungen und zwei unterschiedliche Türen.

Bild Marion Ludwig
Soundporträt (c) Marion Ludwig

Davor wolltest du keine Copycat sein …

Marion Ludwig: Genau, es sollte was anderes sein, was eigenes.

Weil sonst jeder sagt, mein Gott, wer hat denn das noch mal gebraucht?

Marion Ludwig:Vielleicht, ja. Das hätte ich vermeiden wollen. Mit RIO OBSKUR kann ich selbstbewusst sagen: Ich mag Boy Harsher, ich feier Lebanon Hanover. Das sind Einflüsse. Und das ist okay!

Wir haben vorhin kurz das Theater angesprochen. Du hast die Erfahrung dort als Brücke bezeichnet. Wofür?

Marion Ludwig: Das Theater war das Sprungbrett zu RIO OBSKUR. In dem Setting fühlte ich mich wie ein Fisch im Wasser. Das war interessant, weil ich gemerkt hab: Mit den anderen, in diesem Kontext, passiert wirklich eine Verflechtung der Künste.

Da hattest du Schauspielkunst, Bildende Kunst, Bühnenarchitektur, sowie philosophische und literarische Fragmente: Alle Künste haben Untergliederungen, die sich ergänzen können. Andererseits liebte ich es, mit Menschen zu arbeiten und gleichzeitig alleine Ideen zu entwickeln. Diese gegenseitige Inspiration war wahnsinnig schön. Plötzlich wurde mir bewusst: Das will ich!

Bei RIO OBSKUR und Nella Lenoir produzierst du alles alleine. Wie geht das mit deiner kollektiven Theatererfahrung zusammen? 

Marion Ludwig: Das hab ich mich auch gefragt! Es geht aber zusammen, weil ich weiß, dass ich ein Teil innerhalb eines Ganzen bin. Mit dem Bewusstsein, offen zu sein und zu bemerken: Da wächst was! Man kann dem Wachsen richtig zuschauen.

„ALLES, WO ETWAS ZUSAMMEN PASSIEREN KANN, IST WUNDERSCHÖN”

Ein Wachsen im Kollektiv?



Marion Ludwig: Genau. Die Theatererfahrung war wie ein level up. In meiner gesamten einunddreißigjährigen Lebenslauferei habe ich mich in vielen Punkten blockiert, war unsicher und bin zu nichts gekommen. Deswegen wollte ich bei Nella Lenoir damals auch alles alleine machen, um keine Kompromisse mehr eingehen zu müssen. Durch das Theater ist mir dann aber aufgefallen: Ok, geil – es gibt so viele andere Möglichkeiten. Alles, wo etwas zusammen passieren kann, ist wunderschön! 



Wie hast du dir das Produzieren deiner Musik beigebracht? 



Marion Ludwig: Ich hab einfach gemacht! Früher habe ich Klavier gespielt, aber nie gut im klassischen Kontext, denn mir lag schon damals mehr das intuitive Spielen. Deswegen spielte ich immer nach Gehör! Und für dieses Gehör bin ich auf jeden Fall dankbar. Dadurch fällt mir das Probieren heute viel leichter!

Das Probieren ist eine Frage von Geduld, nicht?

Marion Ludwig: Weil es so intuitiv passiert, war das nie ein Problem. Man kommt einfach von einem zum nächsten und es passt, wenn es mir gefällt. Der aktive Produktionsprozess ist meist sehr schnell und auf den letzten Drücker. Ich setze mir dann eine Deadline, um nicht mehr Ewigkeiten dran rumzubasteln. Die Idee- oder Konzeptionsphase dauert dafür wirklich lange. Da vergehen schnell einmal ein paar Wochen und Monate. Aus der Produktion mache ich dann fast eine gamification: Wie kann ich in kurzer Zeit so viel wie möglich schaffen?

Und was ist, wenn du es nicht schaffst? 



Marion Ludwig: Dann kommt der Blick ins Leere, haha — die reine Resignation. Da kommt meine Zerrissenheit wieder durch.

Das erinnert an die falsche Annahme, Künstler:innen würden prinzipiell nur in zerrissenen, depressiven Zuständen arbeiten.

Marion Ludwig: Genau! Ich bin ja auch mit Nirvana sozialisiert worden. Dieser Irrglaube, dass du nur Kunst produzieren kannst, wenn du in einer fetten Depression bist, ist komplett abstrus. Aber ich will auch weg von diesem ständigen Pathologisieren! Manchmal bist du blockiert. Manchmal bist du im Fluss. Das ist ein viel besseres Framing für mich. Es gibt bei allen Dingen ein Spektrum. 

Im Vergleich zur „zerrissenen” Nella Lenoir ist RIO OBSKUR aber ziemlich direkt.

Marion Ludwig: Da bin ich immer noch in einem Prozess. Alles ist sehr neu und frisch. Es gibt zwar Ideen, wie ich RIO OBSKUR auf der Bühne darstellen will, aber das ist alles noch offen. Vielleicht inkludiert es mehr Theater-Elemente, Bewegung oder andere Instrumente. Gleichzeitig möchte ich die Codes des Coldwave auch nicht ganz verlassen.

Also geht es hier doch wirklich ums Genre?

Marion Ludwig: Ja, schon. Nella Lenoir hat mehr Spielraum. Sie macht surrealistic synthie-sound of Viennese underground. Da ist viel Theatralik drinnen. RIO OBSKUR ist da irgendwie cooler. Und sie arbeitet mehr mit Nebel! Oder Rauch!

Im Vergleich zu den Nella Lenoir Alben ist RIO OBSKUR allein mit der EP direkter.

Marion Ludwig: Ich habe bewusst die Entscheidung getroffen, ganz viele EPs zu machen. Nella Lenoir hat immer eher längere Tracks und lange Alben produziert. RIO OBSKUR wird kürzer. Die EPs werden nie länger als vier oder fünf Tracks. Das hat auch eine ganz eigene Dramaturgie. Außerdem will ich bei RIO OBSKUR mehr mit Visuals arbeiten. Ich habe ja auch angefangen, surrealistische Collagen zu machen.

Bild Marion Ludwig
Soundporträt (c) Marion Ludwig

Deine Soundporträts?

Marion Ludwig: Ja! Ich trau mich einfach mehr zurzeit. Durch die Theater-Experience habe ich gelernt, wie man verschiedene Künste kombinieren kann. Und jetzt habe ich realisiert: Hey, das kann ich auch für mich selbst machen! Außerdem fand ich surrealistische Fotografie schon immer cool. Die Soundporträts sind dann einfach aus mir herausgekommen. So als würde etwas aus mir wachsen, das ich noch gar nicht kenne!

Also wirst du doch zur bildenden Künstlerin?

Marion Ludwig: Nein, ich glaube nicht. Oder wer weiß? Der Sound wird jedenfalls immer integriert bleiben. Ich erlaube mir, meinen Projekten nichts mehr zu verbieten. Übrig bleibt der Mut und die Attitude: Probier’s einfach aus!

Danke dir für das Gespräch! 



Ania Gleich, Christoph Benkeser

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Links:

Instagram (Nella Lenoir & RIO OBSKUR)
Youtube (Nella Lenoir)
Bandcamp (Nella Lenoir)
Bandcamp (RIO OBSKUR) 
Bandcamp (Theatre Sound)