„Ich bin überzeugt von der Sinnhaftigkeit meiner Kompositionen.“ – Thomas Wally im mica-Interview

Er gilt bei vielen als Komponist virtuoser und technisch anspruchsvoller Musik. In seinem Werk strebt Wally oft nach einer Balance zwischen streng aufgebauten Partituren und einem sich organisch entwickelnden Klangbild. Ona Jarmalavičiūtė hat THOMAS WALLY über die Musik in seinem Leben und über seine unterschiedlichen Rollen als Komponist und Interpret befragt.

Was ist der erste Schritt, wenn Sie Musik schreiben? Wie entstehen Ihre musikalischen Entwürfe und Skizzen, wie würden Sie Ihren schöpferischen Prozess beschreiben?

Thomas Wally: Ich kann nicht sagen, dass es einen bestimmten festgelegten Prozess gäbe, der in meinem Schaffen immer wiederkehrt. Was mich oft außerordentlich interessiert, ist die Möglichkeit, mathematische Ideen mit Musik auszudrücken, aber ebenso wichtig ist mir natürlich auch der Klang meiner Werke. Ich habe eine ganze Reihe sogenannter Capricen geschrieben. Beim Komponieren dieser Capricen verzichte ich fast vollständig auf Pläne und Skizzen, ich strebe nach größtmöglicher Freiheit.

Eine andere Art des Komponierens drückt sich in Zahlenkonstruktionen aus. Oft interessiert mich dabei eine bestimmte Verteilung von Harmonik im gesamten Werk. Ich versuche, eine Harmonik zu schaffen, in der die einzelnen Elemente in verschiedenen Variationen wiederkehren – eine Wiederkehr ohne Wiederholung. Bei solchen Stücken kann ich selbstverständlich nicht ohne Harmonieskizzen arbeiten.

Sie sprechen vom Doppelcharakter Ihrer Kompositionen – auf der einen Seite „konstruieren“ Sie gern Musik, auf der anderen Seite streben Sie bei Ihren Capricen nach vollständiger künstlerischer Freiheit. Das klingt nach gegensätzlichen Kompositionsarten, die untereinander fast unvereinbar erscheinen. Wie sind Sie dazu gekommen, Ihr Schaffen gerade auf diese beiden Prinzipien zu gründen?

Thomas Wally: Mir persönlich liegen die Capricen besonders am Herzen. Man verspürt beim Zuhören den Geist von Freiheit. Aber um Capricen zu schreiben, muss ich in einer besonders kreativen Phase sein. Es ist tatsächlich viel schwieriger, Musik ohne Skizzen zu schreiben; man muss alle kreativen Entscheidungen auf der Stelle treffen, auftretende Probleme sofort ohne Rückgriff auf Pläne lösen. Es gibt mehrere Gründe dafür, dass ich begonnen habe, Musik „in freyer Schreibart“ zu komponieren. Als Jugendlicher habe ich viel Popmusik gemacht. Damals komponierte ich einfach, was gut klang. Irgendwann dachte ich mir: Es wäre doch schön, auf dieselbe Art wiedermal zu komponieren.

Aber es gibt noch einen anderen Grund. 2008 habe ich ein Werk komponiert, das vom schwedischen Schriftsteller August Strindberg inspiriert ist. Als ich mich näher mit ihm beschäftigte, stieß ich auf eine Passage, in der Strindberg beschreibt, wie er in seinen Mußestunden malt. Dieser lockere, improvisierende Zugang zum Schaffen hat mich angespornt, ein Stück ohne tiefgehende Vorbereitung zu komponieren. So entstand das Werk meer, teich, schwefelquelle.

„Ich dachte, ich würde Filmkomponist werden.“

Was hat Sie in Ihrer Jugend am meisten bewogen, Komponist werden zu wollen? Warum drücken Sie in Ihrer Musik gerade mathematische Ideen aus?

Thomas Wally: Ich hatte schon immer Freude am Komponieren. Schon als Sechsjähriger habe ich Musik geschrieben, damals allerdings quasi im barocken und klassischen Stil, mit der Pubertät kam Pop und die Romantik hinzu. Ich erinnere mich noch über die aufregende Entdeckung der Mollsubdominante. Es hat sich also quasi die mitteleuropäische musikalische Phylogenese ansatzweise in meiner musikalischen Ontogenese nachvollzogen. Mit zwanzig studierte ich Geige, aber ich wusste, dass ich im Leben auch etwas anderes machen wollte. Es liegt sicher auch daran, dass mein Bruder bereits Komposition studierte und mein Großvater, den ich leider nicht mehr kennenlernen konnte, ebenfalls Komponist gewesen war. Allerdings hat mich zeitgenössische Musik damals überhaupt nicht interessiert. Ich dachte, ich würde Filmkomponist werden.

Außerdem waren Sie damals auch ein großer Jazz-Liebhaber, oder?

Thomas Wally: Ich mochte Jazz, aber ich empfand nie eine tiefgehende Verbindung zu dieser Musik. Ich studierte damals bei einem großartigen Lehrer, Professor Schermann, der mich anregte, neue kreative Wege auszuprobieren. So kam ich zur zeitgenössischen Musik – durchs Selbermachen. Aber ich kann nicht wirklich sagen, auf welche Art und Weise diese mathematischen Ideen in mir aufgekommen sind. Wahrscheinlich verfüge ich einfach über eine damit verwandte Denkart und eine Vorliebe für Analyse. Später wurden meine kompositorischen Vorstrukturen immer detaillierter und komplizierter. Ich begann Skizzen zu verwenden, die fast ausschließlich aus Tabellen und Zahlen bestanden, um möglichst viel Information auf möglichst kleinem Raum überblicken zu können.

Mich interessiert sehr, wie Sie in ihren Kompositionsstrukturen nicht nur Zahlen, sondern auch Farben als Ausdrucksmittel verwenden. Offenbar spielt in Ihrem Werk sowohl die logische als auch die emotionale Seite der Komposition eine große Rolle.

Thomas Wally: Ein Grund, warum ich manchmal diese Vorstrukturen aufstelle, ist der, dass ich nicht mehr über die zu verwendenden Töne und Harmonien nachdenken muss, wenn ich mit dem tatsächlichen Schreiben der Musik anfange. Dann verspüre ich auf diesem Gebiet mehr Freiheit und kann mich verstärkt anderen musikalischen Parametern widmen. Dass meine Skizzen allesamt farbig sind, hat damit zu tun, dass durch die Verwendung unterschiedlicher Farben noch eine weitere Differenzierungsmöglichkeiten gegeben ist. Sie haben natürlich Recht, manchmal gibt es zwischen der Farbe und der Emotion eine Verbindung.

Wie kommen Sie auf die ursprünglichen mathematischen Ideen, die Sie später in Ihren Werken auszudrücken suchen? Gibt es Inspirationen durch andere Menschen, vielleicht bestimmte Literatur?

Thomas Wally: Das ist eine sehr schwierige Frage … Wie kommt das alles zu mir? Ich glaube, für meine Art zu denken sind – unter anderem – Genauigkeit, Analyse und Struktur sehr wichtig. Auf gewisse Weise hat mein Schaffen tatsächlich einen stringenten logischen Sinn. Es mag merkwürdig klingen, aber ich bin zutiefst überzeugt von der Sinnhaftigkeit meiner Musik. Hier liegt aber auch eine große Gefahr. Genauigkeit und Pedanterie sind nicht weit voneinander entfernt. Und Pedanterie geht Hand in Hand mit Langeweile.

Als ich 25 Jahre alt war, habe ich ein Jahr in Helsinki studiert; mein Professor Paavo Heininen war ein ausgesprochen systematisch denkender Mensch. Von ihm habe ich gelernt, in meinem Werk systematisch darüber nachzudenken, wie ich Akkorde und so weiter konstruiere. Ich erinnere mich, dass er mir einmal die Aufgabe gab, eine ganz kurze Kompositionsübung für vier Stimmen auf der Grundlage einer Akkordstruktur zu schreiben, die nur die Intervalle Quart/Quint und Tritonus verwendet. Und da wurde mir zum ersten Mal klar, dass es eine ganz spezielle Anzahl von Akkorden gibt, die aus diesen Intervallen bestehen. Seitdem besteht ein erster Kompositionsschritt oft darin, mir einen Überblick über das zu verwendende Material zu verschaffen – auf systematische Art und Weise.

Wie arbeiten Sie eigentlich? Wie sieht Ihre Routine beim Komponieren aus?

Thomas Wally: Am liebsten würde ich jeden Tag komponieren, aber es gibt in meinem Leben noch andere Pflichten und Einschränkungen – und Wünsche. Neben meiner Lehrtätigkeit an der Universität spiele ich relativ viele Konzerte und Opernabende. Aber in meinem Tageslauf weiß und plane ich meistens sehr genau ein, wann – und wie viel – ich komponieren werde. Ich komponiere am liebsten am Morgen beziehungsweise am Vormittag. Die Zeit zwischen 9 und 13 Uhr ist für mich die beste Zeit.

„[…] die Vorstellung, dass ein Werk mehr als eine Idee verkörpern kann, gefällt mir sehr gut.“

Wie würden Sie selbst Ihr Werk und Ihre Musik im gegenwärtigen Kontext beschreiben?

Thomas Wally: Ich weiß nicht, wer das gesagt hat – wahrscheinlich nicht nur einer, sondern mehrere Leute: Es gibt diese Vorstellung, dass ein Kunstwerk einerseits aus der Idee besteht, in der sich die philosophische Seite des Phänomens manifestiert, und andererseits aus dem Handwerk, das zur Versinnlichung der Idee führt. Vereinfacht ausgedrückt: Idee ohne Handwerk ist nicht Kunst, sondern Philosophie; Handwerk ohne Idee ist nicht Kunst sondern Imitation, im schlechtesten Fall Kitsch. Bei einem Teil heutzutage komponierter Musik fehlt mir etwas. Erstens sehe ich keinen Grund, warum ein Werk nur aus einer Idee bestehen soll. Warum nicht aus 1001 Ideen? Eine andere Gefahr sehe ich in folgendem Punkt: Wenn man sich in erster Linie auf die philosophische oder ideelle Seite des Werks konzentriert, kann das zum Vernachlässigen des Komponierens als Handwerk – da dieses ja der Idee deutlich untergeordnet ist – führen. Ich versuche, als Komponist beiden Teilen gleichermaßen Aufmerksamkeit zu schenken. Dieses Herausstreichen der handwerklichen Seite – und hier geht es nicht nur um das Kompositorische, sondern auch um das Herstellen von Partituren und Stimmen, dem ich sehr viel Zeit widme – zähle ich als eine meiner Stärken. Und, wie gesagt, die Vorstellung, dass ein Werk mehr als eine Idee verkörpern kann, gefällt mir sehr gut.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Ona Jarmalavičiūtė

Thomas Wally: Der in Wien lebende und arbeitende österreichische Komponist, Geiger und Universitätsdozent Thomas Wally (geboren 1981) hat sein Leben von klein auf der Musik gewidmet. Heute blickt er bereits auf eine vielfältige und erfolgreiche Musikerkarriere zurück. Sein Schaffen ist auch international anerkannt und wird auf vielen Bühnen der Welt aufgeführt. Als erfolgreicher Geiger spielt Wally als Substitut bei den Wiener Philharmonikern und im Wiener Staatsopernorchester sowie im ensemble LUX. Darüber hinaus lehrt er an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

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Thomas Wally
Thomas Wally (music austria Datenbank)
Ensemble LUX
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