„ICH BESCHREIBE MUSIK EINFACH GERNE ÜBER GESCHMACKSRICHTUNGEN“ – FLORA GEISSELBRECHT IM MICA-INTERVIEW

FLORA GEISSELBRECHT ist eine österreichische Komponistin, Interpretin, Performerin und Texterin. In ihren eigenen Worten klingt das interdisziplinäre Interesse der Bratschistin und Harfenistin so: „Sie bewegt sich in und wird bewegt durch die Musik unserer Zeit.“ Wen man mit selbstgebackenem Kuchen bestechen kann, welchem Instrument die weiche Konsistenz von Hummus entsprechen könnte und wo Granatäpfel so richtig gut schmecken, hat sie Michael Franz Woels beim Brunchen verraten …

Du bist Teil des Trios Alpine Dweller, das sich durch eine verträumte, „imaginäre Folklore“ auszeichnet. Wie bist du als klassisch ausgebildete Bratschistin zu diesem Projekt gekommen?

Flora Geißelbrecht: Dieses ursprünglich aus einem Freundschafts-Projekt gewachsene Trio gibt es schon sieben Jahre lang. Anfangs spielt man zum Spaß in Bars, es wuchs organisch zu etwas immer Größerem. Vor kurzem hatten wir einen wunderschönen Gig im Radiokulturhaus in Wien.

Habt ihr im Radiokulturhaus zum ersten Mal mit Chor performt?

Flora Geißelbrecht: Den Refrains wurde durch den Chor mehr Körper verliehen, aber auch Geräusche, Flüstern oder lautes Atmen haben wir eingefügt. Das war schon länger ein Wunsch und eine Idee von Matthias [Anm.: Schinnerl]. Der Subchor und der Chor X gemeinsam – das waren in der ersten Probe im Vronihof um die vierzig Leute. Coronabedingt wurde der Chor beim Auftritt durch große Ausfälle dann auf zwanzig Beteiligte dezimiert.

Flora Geißelbrecht mit Bratsche
Flora Geißelbrecht (c) Camilla Geißelbrecht

„DIE UNTERSCHIEDLICHEN STADIEN EINER KOMPOSITION ENTSTEHEN TATSÄCHLICH IN UNTERSCHIEDLICHEN BEWEGUNGSFORMEN.“

Du komponierst ja selber sehr fleißig auch für verschiedenste Formate Stücke. Eine vielleicht etwas ungewöhnliche Frage, aber in welcher Haltung komponierst du eher, als Bratschistin spielst du ja meist stehend, als Harfenistin im Sitzen?

Flora Geißelbrecht: Das ist eine sehr lustige Frage, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Die unterschiedlichen Stadien einer Komposition entstehen tatsächlich in unterschiedlichen Bewegungsformen. Die Konzepte, die ersten Ideen entstehen beim Spazierengehen. Beim Komponieren, und noch häufiger beim Schreiben von Texten, nehme ich mir oft eine grobe Idee für einen Auftrag auf einen langen Spaziergang mit – und mein Handy bleibt zu Hause. Beim Wandern, mit einem Notizbuch ausgestattet, lasse ich dann auch meine Ideen wandern. Die weitere Schreibarbeit passiert dann aber doch im Sitzen am Schreibtisch oder auf dem Boden.

Wenn ich Solo-Stücke schreibe, dann probiere ich mit der Bratsche und mit meiner Stimme. Diese beiden Instrumente verbinde ich zurzeit auch verstärkt, mir gefällt die Unmittelbarkeit, die sich sofort ergibt, wenn ich als Bratschistin zu singen beginne. Beim Komponieren kann ich mit der Stimme etwas andeuten, das später vielleicht einmal ein Trompeten- oder Schlagwerk-Part wird. Wenn es um Akkorde geht, dann brauche ich doch immer wieder einmal auch ein Klavier, vor allem in den tieferen und höheren Registern.

Du arbeitest gerne mit Texten, setzt deine Stimme auch immer wieder sehr lautmalerisch – teilweise wie ein Instrument – ein. Du hast dich auch der „Ursonate“ von Kurt Schwitters angenommen, und diesen wichtigen transdisziplinären Dadaisten mit seiner MERZ genannten Kunstpraxis neu interpretiert. Was hat dich an diesem Künstler interessiert?

Flora Geißelbrecht: Am Anfang habe ich nur die „Ursonate“ von ihm gekannt. Um ehrlich zu sein, macht mir das Stück einfach einen Riesenspaß, und seitdem ich es kenne, habe ich im Hinterkopf, etwas damit zu machen. Mittlerweile ist es ein Herzensprojekt geworden, und den 3. Satz der „Ursonate“ für Bratsche und Stimme habe ich vor kurzem aufgenommen. Mit einem anderen Solo-Programm von mir, „Viola and Voice – Sibyls and Syllables“, in dem dieser 3. Satz auch enthalten ist, habe ich bei einem Wettbewerb mit dem Namen Berlin Prize for Young Artists, der vom deutschen VAN Magazin ausgeht, das Finale erreicht und konnte ein professionelles Video-Shooting im kleinen Saal der Elbphilharmonie machen.

Ich bin auch ein großer Ernst-Jandl-Fan, seine Lautpoesie und die Wortspielereien haben mich immer sehr begeistert. Mir gefällt, wie sich diese Kunst an der Grenze zwischen Sprache und Musik bewegt, weil es diese zwei Kunstrichtungen sind, in denen ich mich selber ausdrücke. Die anderen Kunstwerke von Kurt Schwitters habe ich erst viel später entdeckt. Erst durch die Recherche habe ich entdeckt, wie er zum Beispiel mit Collagen gearbeitet hat und wie einflussreich seine Innovationen oder die Innovationen seiner Zeit waren und sind. Man findet diesen Collagen-Stil in diversen Magazinen wieder, er ist einem mittlerweile sehr vertraut. Für die Uraufführung designt die Kostümbildnerin Lilli Hartmann übrigens gerade ein Kostüm für mich, das wiederum von diesen Collagen inspiriert ist.

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Ist dein Solo-Stück „Im Schatten verweilen“ eigentlich vor oder nach der Beschäftigung mit Kurt Schwitters entstanden?

Flora Geißelbrecht: „Im Schatten verweilen“ war eines der ersteren Stück für Bratsche und Stimme von mir, es ist im ersten Lockdown entstanden. Das Video dazu habe ich in Frankfurt gedreht, in der Internationalen Ensemble Modern Akademie IEMA für Zeitgenössische Musik. Ich habe den Klangregisseur, der mit uns die Ausbildung gemacht hat, mit einem selbstgebackenen Kuchen bestochen, mir dabei zu helfen. Meine Schwitters-Komposition ist gerade noch im Entstehen, die Uraufführung von „Ur die Sonate!“ findet im Juli im Kulturcafé Max statt.

Wie geht es dir eigentlich gerade in deinem Musikerinnen-Dasein? Hast du Zeit zum Verweilen oder eilst du gerade eher durch die Zeit?

Flora Geißelbrecht: Momentan ist es eindeutig ein Eilen, weil in Hinblick auf den vielleicht nächsten Corona-Herbst alle alles in den Sommermonaten machen wollen. Im Lockdown ist es eher ein Verweilen, ein innerer Stillstand. Im allerersten Lockdown, den ich doch als geschenkte Zeit empfunden habe, habe ich nach einem kurzen Loch doch die Zeit recht gut nützen können, nicht nur für künstlerische Projekte. Die weiteren Lockdowns habe ich dann aber doch eher als lähmend empfunden, weil ich auch sehr gerne und oft Live-Konzerte besuche – und dieser Austausch war dann einfach nicht möglich.

Nach einem interessanten Live-Abend klingt der Gewürzsturm beim Hörsturm-Festival in Ried …

Flora Geißelbrecht: Jul Dillier habe ich über die Anton Bruckner Privatuniversität kennengelernt. Manu Mayr und Mona Matbou Riahi kenne ich noch nicht persönlich. Ich bekam von Teresa Doblinger, der Kuratorin des Hörsturms, die Chance, die Mitmusizierenden selber auszusuchen. So habe ich Muszierende ausgewählt, mit denen ich bisher noch nie aufgetreten bin, und deren Solo-Programme mich in ihren Sensibilitäten besonders interessieren. Die einzelnen Musizierenden werden zirka zehnminütige Sets spielen, dazwischen gibt es kulinarisch verschlüsselte „Programmtexte“, von mir gekochte Kleinigkeiten, die meine persönlichen Eindrücke von den jeweiligen Stücken verarbeiten. Am Ende werden wir dann alle gemeinsam musizieren und quasi unsere Gewürze in einen Topf werfen.

„WENN MICH EINE MUSIK LANGWEILT, MACHE ICH MIR DAS SPIEL UND STELLE MIR EIN GERICHT DAZU VOR, UND WARUM ES MIR GERADE NICHT SCHMECKT.“

Ich bin nicht sehr wählerisch, was Essen betrifft, aber bei der Musik, die ich höre, bin ich es doch. Wenn mich eine Musik langweilt, mache ich mir das Spiel und stelle mir ein Gericht dazu vor, und warum es mir gerade nicht schmeckt. Ich kann mich an einen Familienausflug erinnern, bei dem ich mit diesem Spiel die Musikauswahl im Auto dann doch gut ertragen konnte. Ich beschreibe Musik einfach gerne über Geschmacksrichtungen. Auch zeitgenössische Musik lässt sich so gut beschreiben. Wenn manche Leute meinen, diese klänge doch immer so dissonant, dann vergleiche ich das gerne mit scharfem Essen. Es reizt, aber man kann sich daran auch gewöhnen und anderes dann als fad empfinden.

Auch umgekehrt mache ich das manchmal. Also dass ich mir überlege, wie Essen klingen könnte und das dann als Materialsammel-Spielerei hernehme. Die Textur des Essens könnte zu einer Assoziation führen, dieser Hummus [Anm.: das Interview fand zur Brunch-Primetime statt] zum Beispiel könnte der weiche Klang einer Klarinette sein. Ich finde es einen guten Weg, um auf klangliche Ideen zu kommen, die nicht unmittelbar durch das Spielen auf dem Instrument entstehen.

Um das jetzt noch ein bisschen weiter zu spinnen, gibt es bei dir irgendwelche klanglichen Unverträglichkeiten?

Flora Geißelbrecht: Das bezieht sich bei mir eher auf gewisse Genres oder Lieder. Ich bin eher eine analoge Person und kann oft mit elektronischer Musik nicht so viel anfangen. Aber das ändert sich gerade durch einen Kollegen in meinem Umfeld, der mich auf neue Spuren bringt. Auf Elektronik in seiner ausgeforschtesten, sensibelsten und bewusstesten Form bin ich schon gespannt. Dazu noch ein Essensvergleich: Ich habe zum Beispiel sehr lange nicht verstanden, was man an einem Granatapfel finden kann. Bis ich dann einmal in Aserbaidschan einen Granatapfel essen konnte. Seither mag ich den Geschmack von Granatäpfeln, auch wenn sie hier in Österreich nicht so aromatisch, süß und saftig schmecken. Wenn ich also eine klangliche Unverträglichkeit habe, habe ich vielleicht einfach noch nicht die beste Version davon probiert.

Spielst du eigentlich auch mit präparierten Instrumenten, um noch besser mit Klängen und Sounds experimentieren zu können?

Flora Geißelbrecht: Im 4. Satz der „Ur-Sonate“ verwende ich Kork-Präparationen. Diese Korken, die zwischen zwei Saiten eingespannt werden, erzeugen einen glockigen Sound. Ich habe diese Idee von einem Stück von Carola Bauckholt, das wir in der Akademie in Frankfurt gespielt haben. Ansonsten verwende ich Alu- oder Plastikfolien zwischen den Saiten oder kleine Wäscheklammern. Auch die Harfe präpariere ich manchmal, zum Beispiel mit Haarspangen, die man auf einen Knotenpunkt der Saite setzt, um gewisse unregelmäßige Obertöne zu verstärken. Es erzeugt eine nicht-harmonische Mischung von Obertönen.

Beim Stück „G-la..S`b-la”s..e_n“ ist mir die spezielle Instrumentierung des Ensembles Between Feathers aufgefallen. Das Stück hat mich nachhaltig affiziert.

Flora Geißelbrecht: Auf die Idee mit dem Glasblasen bin ich intuitiv mit durch die Besetzung gekommen. Ich fand die Besetzung so schön, mit Akkordeon, Sopran, Flöte und Schlagwerk. Es entstand ein Bild von Feinheit, Zartheit. Dieser gläserne Sound macht diese Besetzung aus. Dann habe ich auch zum Prozess des Glasblasens recherchiert. Durch das ständige Drehen wird das Glas in Form gebracht. Die Assoziationsketten gingen dann weiter, Glas und Blasen, ich hatte dann das Bild von Seifenblasen im Kopf, die aus Glas sind und im Raum schweben und beim Zusammenstoßen Klänge erzeugen. Auch an singende Gläser musste ich denken.

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„ICH VERSUCHE GERNE, DIE MUSIZIERENDEN IN DIE KAMMERMUSIKALISCHE INTERAKTION ZURÜCKZUHOLEN.“

Wieviel Spielraum lässt du den Interpretierenden, oder sind deine Kompositionen immer komplett ausnotiert?

Flora Geißelbrecht: Spielraum ist ein wichtiges Thema für mich. Der zweite Teil des Stückes „G-la..S`b-la”s..e_n“ ist sehr frei notiert, sowohl zeitlich als auch bezüglich der Tonhöhen. Abschnittsweise kommt das in vielen meiner Stücke vor, dass ich nur die zeitliche Abfolge von gewissen kleinen Patterns vorgebe. Man erzeugt so auch eine andere Form der Aufmerksamkeit bei den Musizierenden, sobald sie sich einmal auf diese interpretatorische Freiheit eingelassen haben. Durch die recht komplexen Partituren besteht gerade bei zeitgenössischen Stücken nämlich die Gefahr, dass man zu sehr auf die Noten konzentriert ist bzw. auf Dirigierende oder Impulsgebende. Ich versuche gerne, die Musizierenden in die kammermusikalische Interaktion zurückzuholen.

Sind diese freieren, offeneren Passagen eher am Ende deiner Stücke?

Flora Geißelbrecht: Das ist ein interessanter Punkt. Das ist mir selber tatsächlich noch gar nicht so bewusst gewesen, aber das stimmt. Bei einem Stück habe ich die ganze Komposition nur in Worten geschrieben, das ist das „Trio for Strings“. Diese Methode funktioniert aber nur für Musikstücke, die eher im Fluss sind, die nicht so scharfe Ecken und Kanten haben.

Beim Trio Alpine Dweller sind die Stücke wiederum recht genau fixiert?

Flora Geißelbrecht: Die Strukturen der Songs haben sich aus Improvisationen herauskristallisiert und verfestigt. Die Intros und die Outro bleiben live improvisatorisch, mit Sounds aus dem zeitgenössischen Spektrum.

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Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels

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Termine:

Freitag, 13. Mai 2022, Alpine Dweller / 3er Wirtshaus, Zwerndorf

Samstag, 21. Mai 2022, Komposition & Performance (Civic Opera Productions) / Kulturhaus Brotfabrik, Wien

Sonntag, 22. Mai 2022, Komposition & Performance (Civic Opera Productions) / Cape 10 & Kunsthaus Wien

Montag, 20. und Dienstag, 21. Juni 2022, Solo „Sibyls & Syllables“ / Berlin Prize for Young Artists, Berlin

Freitag, 1. Juli 2022, Auftragskomposition Arnold-Schönberg-Chor / Styriarte, Pöllau

Samstag, 2. Juli 2022, Solo „Ur die Sonate! Ur die Uraufführung!“ / Kulturcafé Max, Wien

Sonntag, 3. Juli 2022, Solo „Ur die Sonate! Ur die Uraufführung!“ / Raumschiff Linz

Donnerstag, 7. Juli 2022, Gewürzsturm: Mayr.Riahi.Dillier.Geißelbrecht / Hörsturm Ried

Sonntag, 24. Juli 2022, Alpine Dweller / Wellenklänge, Lunz am See

Freitag, 12. August 2022, Alpine Dweller / Lendhafen, Klagenfurt

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Link:
Flora Geißelbrecht
Flora Geißelbrecht (music austria Datenbank)