Wir betreten das Semperdepot, aber wo liegen die Grenzen der Sinneswahrnehmung? Der Raum, in dem wir uns befinden, könnte Ebenen eröffnen, die bislang im Verborgenen lagen. Eine Stunde entführt uns Martina Claussen in eine Welt, die Raumgrenzen einreißen lässt. Klang, Raum, Lichtarchitektur und Performance interagieren, sodass es zur Synthese mehrerer Dimensionen kommt. Ein neuer Raum der Klanglichkeit wird geschaffen.
In „Blackboxed Voices“ wurden Klänge aus einem großen Pool zusammengesetzt. Jener entstand im Laufe eines Jahres als Sammlung von größtenteils unausgebildeten Stimmen, synthetischen Klängen und Feldaufnahmen aus der natürlichen, urbanen und alltäglichen Umwelt. Entscheidend für die Interaktion des Klangs mit dem Raum ist der Einsatz des Akusmoniums von Thomas Gorbach. Dabei handelt es sich um 32 Lautsprecher mit unterschiedlichen Klangqualitäten, die auf bestimmte Art im Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien verteilt sind. Die aufgenommenen und produzierten Klänge wurden zwar als Stereosignale verarbeitet, sie können jedoch durch die Vielzahl an „Blackboxes“ des Akusmoniums auf unterschiedlichste Weise mit dem Raum interagieren. Die benannte Synthese wird in Kollaboration mit Conny Zenk (Licht), Brigitte Wilfing (Performance, Choreografie, Inszenierung), Tobias Leibetseder (Performance), Patric Redl (Performance), Alex Franz Zehetbauer (Performance), Patrizia Ruthensteiner (Kostüme, Ausstattung) umgesetzt, wobei zuvor eine intensive Zusammenarbeit stattgefunden hat, um die Ebenen zu verweben. Nicht leicht war es hierbei, die vier Säulen – Klang, Raum, Licht und Performance – zusammenzuführen, ohne dass sie sich gegenseitig verdecken.
Das Schaffen von Martina Claussen ist durch die intensive Beschäftigung mit dem Klang der Stimme bestimmt. In Engen/Hegau geboren, studierte sie Gesang, elektronische und klassische Komposition in Wien und Linz. Nach mehreren Jahren als Mezzosopranistin begann sie an eigenen Projekten zu arbeiten und beschäftigte sich intensiver mit elektronischer Musik. In dieser, wie auch zunehmend in der experimentellen Szene, bewegt sich die Komponistin.
Wie der Klang der Stimme erzeugt, verformt, moduliert und dekontextualisiert werden kann, beschäftigt sie besonders. In diesem Sinne zeigt sich auch die Rolle der Zeit, denn die Zeitlichkeit von Klängen innerhalb des Werkes ist nicht feststehend; aufgenommene Klänge werden versetzt, um in einem anderen Raum und anderer Zeit wiederverwendet werden zu können. Der schon oben beschriebene Klangpool dient als Speicher eingefrorener Klangereignisse – und sie aus diesem Aggregatzustand in neue Lebendigkeit zu versetzten, macht für die Komponistin einen großen Reiz aus. Neben der Räumlichkeit und Zeitlichkeit steht bei Martina Claussen die Stimme im Fokus, welche vor allem in ihren elektronischen Möglichkeiten erprobt wird.
Im Laufe des Werkes wird eine diffuse Klangwelt erzeugt, die das Publikum umgibt und es in den neu geformten Raum eintreten lässt. Die Komponistin erzeugt durch Live-Spatialisierung, die selbstbestimmte Bewegung von Klängen in verschiedene Richtungen, einen fluiden Charakter der Räumlichkeit: Der Raum wird zum Instrument. Claussen spielt mit Nähe und Distanz, operiert mit den Lautsprechern als Orchester, wodurch sich eine Vielfalt an Spielarten eröffnet.
Sie zielt damit entschieden darauf ab, sich von im Vornherein semantisierten Inhalten zu verabschiedet. Zwar weist die Komponistin auf eine gewisse „dystopische“ Grundstimmung hin; sich jedoch in solch einer Welt wiederzufinden, verkündet den Hörenden die Chance zu ungewohnter Freiheit offener Vorstellungen, eröffnet eine Klaviatur, die viel fordert, jedoch auch umso mehr verheißen kann. Live-Spatialisierung oder auch Improvisation, Aufhebung der Dichotomie Bühne–Saal und der Bruch des Wie-angewurzelt-Sitzens während der Aufführung tragen dazu bei. Es handelt sich nicht mehr um das fast schon verbindliche Abrufen von Erinnerungsbildern im klassischen Konzert, sondern um den Versuch, in tiefere Ebenen eindringen zu können. Dahinter verbirgt sich eine Faszination, die stets fragt, was möglich ist und wie sich die aus den „Blackboxes“ hervortretenden „Voices“ im Raum verhalten, wenn man ihrer dortigen Wirkung zu folgen versucht. Eine Begegnung mit Klang im verengten Raum, der sich öffnen lässt und wo zuvor Getrenntes ineinander fließt. Für sich selbst Musik zu machen, ist für Martina Claussen eine Begegnung mit Klang.
Jonathan Hofmann, Paloma Newrkla, Albert Drägerdt