Im lesenswerten Essay-Band des Festivalkatalogs der 30. Ausgabe von WIEN MODERN richten Persönlichkeiten aus Philosophie und Komposition ihren Blick auf das programmatische Motto „Bilder im Kopf“ – Bilder, die die gespielte Musik erzeugen soll. Die Kunstgattung Musik – zumal Neue Musik – ist unabhängig von Sprache und landläufiger Wahrnehmung. Eingedenk dieser Erkenntnisse soll daher auch in dieser Zwischenbilanz nicht versucht werden, sprachlich durch Besprechungen der vergangenen Konzerte und Aufführungen das wiederzugeben, was nur durch unseren Hörsinn (der erwiesenermaßen bereits beim 20 Wochen alten ungeborenen Kind voll ausgebildet ist) erfasst werden kann. Dass diese Sinnfähigkeit trainiert werden kann, wissen wir auch.
In dem Band zitiert Ernst Marianne Binder, der als Autor, Musiker und Regisseur viel bei dramagraz und anderen Bühnen gearbeitet hatte und im Jänner dieses Jahres nach einer einige Jahre zuvor überstandenen schweren Krankheit überraschend verstarb, in seinem Aufsatz „Wer Ohren hat zu hören, der sieht” einen Text von Erwin Jans, in dem es heißt: „Wenn wir mit einem Kunstwerk ‚kommunizieren‘ wollen, müssen wir die Perfektion unseres Diskurses aufgeben. Keine perfektionierte Sprache, sondern eine, die sich ihrer grundlegenden Unvollkommenheit und der Distanz, die sie von ihrem Objekt trennt, bewusst ist. Eine Sprache, die hinnimmt, dass es nicht ihre Aufgabe ist, die Stille auszufüllen (das heißt, das Kunstwerk zu erklären), sondern der Stille Raum zu schaffen.“
Konzerte
Auch dadurch bedingt, dass der Autor dieser Zeilen ab der zweiten Festivalwoche durch eine Grippe am Besuch etlicher Aufführungen gehindert wurde, seien nur einige Eindrücke rund um die Konzerte festgehalten. Am wichtigsten: Augenscheinlich gab es so viel BesucherInnen wie schon lange nicht mehr. Die Alte Schmiede etwa platzte bei den ersten beiden Terminen (Musik von Klaus Lang und Christoph Herndler) aus allen Nähten, die Eröffnungsabende im Wiener Konzerthaus sowieso (der Film „J’accuse“ und „Das Floß der Medusa“, Peter Eötvös mit dem Klangforum Wien, überraschenderweise auch das Claudio-Abbado-Konzert am 4. November mit dem gemeinsamen Orchester bestehend aus dem Webern Symphonieorchester der mdw und Studierenden des Conservatoire national supérieur de musique et de danse Paris.)
Hugues Dufourts Werk „Le passage du Styx d’après Patinir“, das diesem bei sehr gut gespielten, von Ilan Volkow ambitioniert geleiteten Konzert neben einem Akkordeonkonzert von Georges Aperghis und der Uraufführung „Das Imaginäre nach Lacan für Darstellerin, Orchester und Live-Elektronik“ zur Aufführung gelangte, kam bei vielen Zuhörerinnen und Zuhörern (auch sehr kompetenten wie Lothar Knessl) allerdings nicht so gut an, es wurde als zu lange dauernd und zu statisch erlebt. Das galt allerdings nicht für den Abend zuvor, wo die sechs Schlagwerker der Percussions de Strasbourg Dufourts gut einstündiges „Burning Bright“ spielten – inklusive einer Lichtregie von Enrico Bagnoli. Das war nach den Worten des Komponisten eine „kosmische Konstruktion für die Imagination unserer Zeit“. Zu erleben war in der Tat eine innovative Schlagzeugmusik mit erstaunlichen, linear erzeugten Kontinuitäten, hervorgebracht durch „Reibungsperkussion“ mit neuartigen Schlägeln, die, wie Dufourt Bernhard Günther in einem Interview erzählte, „die Schlag-, Roll- und Erschütterungsperkussion ersetzt hat.“ Dufourts Intention: „Die Leute, die dableiben [Anm.: es blieben alle da], werden allmählich von der Musik in ihren Bann gezogen, folgen ihrem Verlauf und nehmen daran teil. Sie werden zu Akteuren im dramatischen Ablauf. Diese Musik braucht nämlich etwas anderes als Aufmerksamkeit, sie verlangt Versenkung. Das Publikum soll hier seinen kritischen Widerstand, die Distanz der Zuhörenden, sein Ich loslassen und nach und nach in seltsame Welten eintauchen, die nicht unbedingt persönliche Welten sind.“
Musiktheater
Echte und imaginäre Räume boten auch die Musiktheateraufführungen im Dschungel Wien („Atlas der abgelegenen Inseln“, Musik: Hannes Dufek, Regie: Sara Ostertag), im Mondschein („Die Reise“ von Jean Barraqué, Regie: Helga Utz) und im Echoraum („One Shot Train“ von François Sarhan), wo den Produktionen neben den Instrumentalensembles vor allem SchauspielerInnen zum Erfolg verhalfen. Beim „Atlas“ bestach vor allem die Schweizerin Michèle Rohrbach durch virtuoses Sprechen und Spiel, in der „Reise“ (durch elf Räume im ersten und vierten Stock des ehemaligen Postgebäudes vor jeweils einer bis maximal 45 Personen) überzeugten wiederum viele der neun SchauspielerInnen, und auch im „One Shot Train“ ging es durch die Stockwerke des Etablissements, um ein Stationentheater über die „verborgene Wahrheit über den echoraum“ zu erleben. Die Stationen: „Die Fahrplanzentrale/Das Privatbüro des Bahnhofsdirektors – Das Kontrollamt für Kontrolleure/Die Votivkapelle der Hl. Helena, Schutzheilige des echoraums – Die Uhrmacherwerkstatt/Die Ur-Uhr – Das Stellwerk/Das persönliche Parlament von Ursine Astrapende/Der Konzertsaal“. Über die Oper „Die Antilope“ von Johannes Maria Staud durch die Neue Oper Wien im MuseumsQuartier haben wir bereits berichtet und im mica-Interview vom 7. November 2017 gibt der Komponist selbst darüber Auskunft.
Bleibt noch, auf die bemerkenswerte Veranstaltung im Odeon am 7. November zu verweisen, die vom Rezensenten leider nicht besucht werden konnte und die von Cordula Bösze und Michael Weber organisiert und moderiert wurde. IGNM, Musikschule Wien und Johann Sebastian Bach Musikschule taten sich zusammen, um junge Musizierende in Kontakt mit aktueller Musik zu bringen, wozu auch die Begegnung und die gemeinsame Arbeit mit den Komponisten gehörten. Zu diesen gehörten Alexander Kral und der Wiener Mädchenchor („Turmbau zu Babel“), Gerald Resch („Fingerspitzentänze“), Helmut Schmidinger (Jet-Set-Trio), Rainer Bischof („Quartett“, Uraufführung), Gerald Preinfalk („Gradec“), Shigehiro Yamamoto („Shula“, Uraufführung) und Pia Palme („My room until yesterday/Mein Zimmer bis gestern – Musiktheater mit jugendlichen MusikerInnen und jungen Erwachsenen“, Uraufführung).
Das Ensemble Schallfeld war am Sonntagabend (12. November) im Ausweichquartier des Künstlerhauses im 5. Wiener Gemeindebezirk mit großen Augen zu sehen: In Carola Bauckholts Stück „Oh, I See“ wurden Ballons zu Musikinstrumenten und zur Leinwand.
Die Klang-, Video- und Stimmkünstlerin Jennifer Walshe war am Montag, dem 13. November, bei der Österreich-Premiere ihres Stücks „Everything is Important“ mit dem Arditti Quartet im Wiener Konzerthaus zu erleben. Im Rahmen desselben Programms präsentierte das Londoner Streichquartett die Uraufführung des neuen Werks von Clemens Gadenstätter („reissen / paramyth 3“, Uraufführung), „Sieben Stücke für Streichquartett“ waren zum 80. Geburtstag von Gösta Neuwirth hören, weiters Hugues Dufourts „Dawn Flight“ nach Schwarz-Weiß-Bildern von Stanley William Hayter.
Vorschau
Bei „It’s a bird!“ am Dienstag, dem 14. November, im RadioKulturhaus werden die Mezzosopranistin Anna Clare Hauf und der Organist Wolfgang Kogert reichlich Stoff für die Imagination bieten: Farben, Feuer, Wespen und Vögel von Oliver Messiaen (aus „Livre d’Orgue: Chants d’oiseaux“), Cathy Berberian („Stripsody“), Katarina Klement, Enno Poppe, Dieter Schnebel u. a. Als Late-Night-Konzert folgt einige Straßenecken weiter Judith Unterpertinger in der Galerie Jünger: Die soeben mit dem Anerkennungspreis des Landes NÖ ausgezeichnete Künstlerin beschreitet im Kammermusikabend „Wall Studies“ in fünf Schritten den klanglichen Weg vom Auge zum Ohr: eine Mauerwand irgendwo in London, ein Foto, eine Tuschezeichnung, eine Partitur, ein Konzert.
Der Abend des Mittwochs, 15. November, mit PHACE im Wiener Konzerthaus bietet Musik für extreme Wetterlagen. Kompositionen von Christof Dienz im Hochgebirge („Der Fliegende. Konzertstück für Klarinette, Gesang, Ensemble und Elektronik“), von Gerhard E. Winkler im schmelzenden Packeis („Packeis-Istanpittas. Anamorph X für Klavier/Sampler und Ensemble“) und von Tristan Murail im Gewitter („Liber Fulguralis/Das Buch der Blitze“) interpretiert das Ensemble mit Unterstützung von Solistinnen wie Mira Lu Kovac. Im Anschluss produzieren Alexander Stankovski und ORF Ö1 Kunstradio mit PHACE ein introspektives Live-Raum-Hörstück (siehe mica-Porträt vom 13. November). Das zweite Late-Night-Konzert der Woche steht im rhiz auf dem Programm: „Der Blöde dritte Mittwoch“ am 15. November interpretiert das Festivalthema „Bilder im Kopf“ mit einer raumfüllenden Stimm- und Videoinstallation, einer feministischen Reise in die Unterwelt und russisch-finnischen Improvisationen.
Der Große Saal des Wiener Konzerthauses wird am Donnerstag, dem 16. November, in spektakuläre Klangfarben getaucht: Gérard Griseys Hauptwerk „Les Espaces acoustiques“ (Die akustischen Räume, 1974–1985) zelebriert die Kunst des kleinsten Übergangs auf durchaus ekstatische Weise. Selten wirkt Musik so organisch wie bei diesem Pionier der Spektralmusik, strahlt so viel Gespür für die Natur der Musik und der Wahrnehmung aus. Zum 30. Jubiläum bringen Webern Kammerphilharmonie und Webern Ensemble der mdw unter Simeon Pironkoff und der Solist Rafel Zalech an der Viola Griseys Schlüsselwerk mit all jenen unkonventionellen Details der revolutionären Partitur, die wohlmeinende Dirigenten meist unterschlagen, irritierten Reaktionen der Musiker, Pausengongs, Lichteffekten.
Am Freitag, dem 17. November, beginnt um 14:00 Uhr im Dschungel Wien im Rahmen des mica – music austria focus „Jahre Wien Modern“. In drei Panels wird ein Bogen von den Pionierjahren Neuer Musik über die Etablierung gewachsener Strukturen bis hin zu den Entwicklungen des letzten Jahrzehntes geschlagen (Anmeldung bis Dienstag, 13. November 2017, unter office@musicaustria.at.). PodiumsteilnehmerInnen sind beim ersten Panel („Die frühen Jahre“) sind Thomas Angyan, Christoph Becher, Lothar Knessl, Christian Meyer, Katrin Zagrosek (Moderation: Christian Scheib), beim zweiten Panel („Die Entwicklung der Festivallandschaft“) um 16:00 Uhr Rainer Nonnenmann (Impulsvortrag), Barbara Eckle, Patrick Hahn, Bernhard Günther, Andrea Zschunke (Moderation: Reinhard Kager) und beim dritten Panel („Kulturinstitutionen neu erfinden“) am Samstag, dem 18. November, um 14:00 Uhr Matthias Naske (Impulsvortrag), Hannah Crepaz, Matthias Naske, Thomas Schäfer und Angelika Schopper (Moderation: Barbara Eckle).
Natürlich wird auch das dritte Wochenende von Wien Modern prallvoll mit Ereignissen sein. Nicht versäumen sollte man das (fast) nach John Cage benannte Duo „Two Whiskas“, bestehend aus Ivana Pristašová (Violine) und Caroline Mayrhofer (Paetzold-Bassblockflöte), das fast nur neue Stücke von Wolfram Schurig, Thomas Amann, Hannes Kerschbaumer, Julien Feltrin und Judith Unterpertinger beim Late-Night-Konzert am Freitag, dem 17. November, um 22:00 Uhr im MuseumsQuartier spielt. Ebendort gibt es vorher (um 20:00 Uhr) mit dem ensemble recherche eine weitere Komposition von Hugues Dufourt: „Apollon et les continents, d’après Tiepolo“. Am Samstag, dem 18. November, um 16:00 Uhr spielt das Ensemble Platypus im MuseumsQuartier den vierten und letzten Teil der netzzeit-Produktion „An die Grenze“. Zur späten Stunde (22:00 Uhr) bietet der aus Bayern stammende Elektroniker Florian Hecker sowohl eigene als auch aus einer Komposition von Iannis Xenakis generierte elektroakustische Musik. Ein musikalisches Quartett aus Berlin und ein audiovisuelles Duo aus Paris lassen mithilfe von Videomapping im Österreichischen Filmmuseum um 18:30 Uhr den Kopf zur Leinwand werden.
Am Sonntag, dem 19. November, ist ein mittäglicher Ausflug in die Wohnparkkirche Alt-Erlaa zu empfehlen, wo Johannes Hiemetsbergers Company of Music und das Ensemble MUK.wien.aktuell Morton Feldmans „Rothko Chapel „und zwei Kompositionen von Klaus Lang bieten werden, um 16:00 Uhr spielen im mumok Theo Nabicht (Bassklarinette), Maruta Staravoitava (Flöte, Bassflöte) und Gina Mattiello (Stimme) Uraufführungen von Hannes Kerschbaumer (Erste Bank Kompositionspreis 2017), Reinhold Schinwald (Mitbegründer von büro lunaire) und dem aus Bilbao stammenden Wahlösterreicher Javier Quislant. Und im Österreichischen Filmmuseum ist um 20:30 Uhr das Solistenensemble Kaleidoskop zugange, um anhand von Kompositionen von Michel Chion, Feldman, Beethoven, Gérard Grisey, Mark André und Peter Ablinger Beweise für die These „Film ist eine Klangkunst“ zu erbringen.
Über Olga Neuwirths Schlüsselwerk „Le Encantadas“ (20. November, MuseumsQuartier, Halle E), das Erste Bank Preisträgerkonzert mit Werken von Hannes Kerschbaumer und Gérard Griseys „Quatre chants pour franchir le seuil“ am 22. November im Konzerthaus und über die letzte Festivalwoche werden wir Anfang nächster Woche berichten.
Heinz Rögl