Gerhard E. Winkler Interview zu BIKINI.ATOLL Donaueschingen 2009

Der Salzburger Komponist Gerhard E. Winkler arbeitet seit vielen Jahren mit Live-Elektronik, genauer mit vom Computer in Echtzeit während einer Aufführung erstellten Partituren. Für die Donaueschinger Musiktage 2009 komponierte er erstmals für Improvisationsmusiker. Sein Stück BIKINI.ATOLL wird am 17.10.2009 im Rahmen der SWR2 NOWJazz Session in der Sporthalle der Gewerblichen Schulen uraufgeführt werden. SWR2 wird das Konzert live übertragen (in Österreich zu hören über www.swr2.de). Zu einem späteren Zeitpunkt wird das Konzert dann möglicherweise auch in Ö1 Zeit-Ton zu hören sein. (ist noch nicht sicher!) Nina Polaschegg hat sich im Vorfeld des Festivals mit Gerhard Winkler über seine Arbeit und sein neues Werk unterhalten.

Seit ihrem Studienaufenthalt am Pariser IRCAM im Jahr 1993 nimmt die Arbeit mit Live-Elektronik einen wichtigen Raum in Ihrer kompositorischen Arbeit ein. Welche Veränderungen hat die intensive und langanhaltende Auseinandersetzung mit Live-Elektronik in Ihrem Schaffen ausgelöst?

Gerhard E. Winkler: Diese Möglichkeit, direkt mit dem Klang live-elektronisch zu arbeiten, war eine Erfahrung, die in mir wesentliche kreative Prozesse ausgelöst hat. Ein wesentlicher Schritt, jetzt gehe ich ein bisschen zurück in die Zeit vor 2000, war für mich die Entwicklung von Stücken, die ganz speziell mit Live-Elektronik zu tun haben, nämlich insofern, als das Stück selbst erst während der Aufführung entsteht. Ich spreche von meinen Real-Time-Score-Stücken. Da gibt es keine fertige Partitur, nach denen die Instrumentalisten spielen, sondern die Partitur entsteht erst im Moment der Aufführung. D.h. die Instrumentalistinnen und Instrumentalisten spielen direkt vom Computerbildschirm. Ich habe eine Notation entwickelt, die für die InstrumentalistInnen verbindlich ist, d.h. sie müssen es in Echtzeit lesen. Die Notation ist aber dann genauso verbindlich wie die traditionelle Notation. Sie funktioniert nur anders, ich arbeite z.B. viel mit graphischen Symbolen. Ein ganz entscheidender Moment ist, dass die Instrumentalisten eingreifen können in die Entwicklung des Stückes. Sie haben bestimmte Steuersignale, akustische Signale, in manchen Stücken sinds auch gestische und optische Aktionen, die sie machen können und mit denen können sie jetzt die Entwicklung des Stückes beeinflussen.

Und welche Auswirkungen hat diese Art des Komponierens auf die Werkgestaltung in ästhetischer Hinsicht, also neben der “praktischen” oder auch ausführungstechnischen Anwendung?

Gerhard E. Winkler: Das hat natürlich im ganz Wesentlichen Rückwirkungen, was die Rolle des Komponisten ausmacht. Zuerst vielleicht eines noch, die Stücke sind nicht so, dass die Interpretinnen per Knopfdruck wissen, was kommt als nächstes. Sondern Grundlage all dieser Stücke sind immer komplexe dynamische Systeme. Also Computersimulationen, die ich als Komponist entwerfe, die aber als abstrakter Kern des Stückes vorhanden sind. Aus diesem Kern entwickelt sich durch die akustische und gestische Interpretation dann das System, das ich konzipiert habe, aber das System reagiert nun auf die Einflüsse der InstrumentalstInnen und entwickelt sich nun je nachdem wie gesteuert wird, in diese oder jene Richtung. D.h. dass ich zwar als Komponist einen Kern definiere, eine Grundlage schaffe, aber in welche Richtung sich das Stück dann entwickelt ist für mich selbst im Einzelnen nicht vorhersehbar.  Und das ist eine radikale Neudefinition der Auffassung des Komponisten.

(kleine Anmerkung: Nun, vielleicht nicht gerade eine radikale Neudefinition, eher schon eine Erweiterung des offenen oder indeterminierten Kunstwerks, mit dem sich Komponierende schon seit den 1960er Jahren intensiv auseinandergesetzt haben. Doch waren es damals vor allem gezielte Wahlmöglichkeiten oder die Aufforderung zur eigenen Interpretation ohne konkrete Spielanweisungen wie bei Cornelius Cardew, dem vielleicht radikalsten Komponisten der Zeit, so ist es hier das Computersystem, das in Anführungszeichen entscheidet und in Interaktion mit den MusikerInnen für die Unvorhersehbarkeit “verantwortlich” ist….)

Ich lasse jetzt nicht alles zu. Es gibt ja einen genau definierten, durch Computersimulationen und der dynamischen Systeme genau definierten Kern, von dem die Entwicklungen ausgehen. Das Wesen auch von komplexen dynamischen Systemen, die ja meinen Computersimulationen zugrunde liegen, ist, dass sie sehr sensibel auf unterschiedliche Einflüsse reagieren, dass sie Instabilitäten aufweisen, dass sie sich auch bis in die Nähe des Chaos entwickeln können. Es gibt auch Stücke, in denen ich ganz speziell chaotische Attraktoren als dynamische Systeme verwendet habe. Und diese Form der Entwicklung ist für mich selbst als Komponist immer wieder eine Überraschung. Ich vergleiche das gerne damit, ich bin jetzt weniger der Komponist im traditionellen Sinne, der eine Architektur hinstellt und zum Schluss ist dann das Gebäude fertig und das ist dann das Stück, sondern ich sehe mich eigendlich mehr als Gärtner, der Keime setzt. Der Keim ist das Stück, aber je nach Bodenbeschaffenheit oder Klima oder Witterungseinfluss entwickelt sich der Keim in diese oder jene Richtung und kann viele Gestalten annehmen, die ich alle als relevant ansehe. Das ist für mich auch die Konsequenz, dass ich nicht sagen kann, diese Aufführung ist besser als die andere.

Das heißt, sie orientieren sich in Ihrer Arbeit weniger an einer Form- oder Strukturidee, sondern sie denken stark prozess-orientiert.

Gerhard E. Winkler: Ja, das ist extrem prozessorientiert, wobei die Prozesse nicht nur lineare Prozesse sind, sondern durch die interaktiven Feedbackprozesse sehr stark nicht-lineare Qualitäten aufweisen oder Sprünge.Es gibt auch Stücke, wo ich mit der Katastrophentheorie von René Thom arbeite, wo ganz speziell Diskontinuitäten eingebaut sind…
Das ist ein spezieller Bereich in meinem Komponieren, Stücke, die grundsätzlich so angelegt sind, dass sie ins Offene gehen können. Es gibt irgendwo einen Horizont dessen, was möglich ist…
Dann gibt es eine andere Konzeption von Stücken, darunter fällt auch das neue Stück BIKINI.ATOLL, das sind Stücke, wo es Rahmen gibt, die zeitlich umrissen sind oder durch bestimmte Qualitäten umrissen sind, wo es schon eine gewisse Vorgabe gibt und wo die Interaktivität nun quasi im Inneren dieser Abschnitte stattfindet. Hier geht es weniger um den Zug ins absolut unvorhersehbar Offene, sondern hier geht man ins Innere hinein. Wie einzelne Zimmer, die vielfältige Welten sind, wo man gestalten kann als Interpret.

In BIKINI.ATOLL gibt es also mehr oder weniger fest umrissene Formteile, einen klaren Ablauf, dessen musikalisches “Innenleben” dann teilweise offen zu gestalten ist. Offene Prozesse entstehen also innerhalb dieser Rahmen und innerhalb der Interaktion zwischen den Musikern einerseits und den Musikern mit dem Computern andererseits.

Gerhard E. Winkler: Wobei das Faszinierende ist, dass ich zum ersten mal jetzt mit Improvisatoren arbeite. Ich habe hier so gearbeitet, dass es einerseits vordefinierte Teile gibt in dem Stück, auskomponierte Partiturelemente. Dazwischen gibt es Zonen, wo es sehr stark auf die Interaktion der Interpreten mit der Live-Elektronik ankommt. Wo sozusagen die jeweiligen Formteile sich von Aufführung zu Aufführung generieren und konkretisieren. Und natürlich gibt es auch offene Felder, wo ich der Individualität des Ensembles Raum lassen möchte. Letzte Entwicklungen werden dann in der Probenarbeit in Baden-Baden in den Tagen vor der Uraufführung entstehen.

Sie komponieren das erste Mal für Improvisationsmusiker. Aber auch der Konzertrahmen, in dem Ihr Stück uraufgeführt wird, ist für Sie neu: die SWR2 NOWJazz Session. Spielt denn Jazz eine hörbare Rolle in Ihrem neuen Werk BIKINI.ATOLL?

Gerhard E. Winkler: Ich wurde immer wieder gefragt, ist das Stück Jazz? Nein das Stück ist nicht Jazz, weil ich bin kein Jazzkomponist, ich maße mir das auch gar nicht an, aber es ist ein Stück über Jazz. Und insofern ist es auch ein Stück über die Art des modernen Jazzmusizierens. Es ist auch ganz  konkret ein Stück über Jazz, nämlich insofern als an einer Stelle ein ganz bestimmter Typus von Jazz improvisiert wird. Und zwar, ich muss sagen, ich bin selbst fasziniert von einer bestimmten Spielart des Jazz, nämlich vom Bebop in der Nachkriegszeit. Es ist eine unglaublich faszinierende Richtung, die auch sehr unterschiedliche Resultate hervorgebracht hat und hat für mich eine ganz spezifische Qualität der Nachkriegszeit. Dieses Lebensgefühl, das Zersplittertsein; das sind ja zum Teil auch rasend schnelle Musikstücke, die in einem unglaublichen Tempo gespielt werden. Und diese Idee eines einerseits Zersplitterten und andererseits sehr schnellen Pulses hat mich ganz entschieden angeregt zu diesem Stück. An einer Stelle wird tatsächlich von den Musikern verlangt, im Bebop à la 1946 zu improvisieren, aber der Gestus dieser Musik wurde von mir im Grunde auf das ganze Stück übertragen. Das hat auch damit zu tun, dass in meiner eigenen Klangästhetik diese Idee des des mikroskopisch Schnellen, zum Teil auch sehr Leisen, fast Panischen in meinem anderen Komponieren immer wieder vorkommt. So war das für mich ein Anknüpfungspunkt, ein Stück über Jazz zu schreiben und ein Stück für drei Jazzmusiker, die hier ihre Improvisationsqualitäten einbringen können. Aber ein Stück “neuer Musik” für diese Musiker.

Auch in BIKINI.ATOLL spielt die Live-Elektronik eine der Hauptrollen. Wie verwenden Sie sie konkret?

Gerhard E. Winkler: In meinem neuen Stück BIKINI.ATOLL verwende ich hauptsächlich die Technik der Granulation, die Arbeit mit Granes, mit ganz kleinen Klangkörnern oder man könnte auch sagen, Klangquanten. Die kleinsten Einheiten, die noch als Klang zu erkennen sind. Die Grundlage meines Stückes ist, dass der Grundklang in kleinste Einheiten zersplittert wird. Das ist eine neue Technik, im Live-Bereich erst seit einigen Jahren auch einsetzbar ist, weil es sehr rechenintensiv ist. In dem Stück gehe ich in diese Richtung, verwende aber auch andere Techniken. Es wird transponiert, es wird gefiltert usw.

In ihrem Text über BIKINI.ATOLL schreiben Sie u.a., dass Sie sowohl instrumentale wie elektronische Spaltklänge verwenden. Inwieweit verwenden Sie den Begriff des Spaltklanges dabei über die Definition des Mehrklangs hinaus und welche Rolle spielt die Assoziation mit dem Titel?

Gerhard E. Winkler: Das Stück ist Teil einer Werkreihe, in der ich mich mit den Zerstörungen, die unsere technisierte Zivilisation an der Natur verübt, auseinander setze. Das wird bei mir in größere zivilisationsgeschichtliche Kontexte eingebettet. Das Stück war geplant für 2006, da wäre der Jahrestag dieser ersten BIKINI.ATOLL-Atomversuche der Amerikaner gewesen. Mir geht es nicht darum, etwas illustrativ zu beschreiben. Mir geht’s vielmehr darum, Erinnerungen zu schaffen, Stücke zu schreiben, in denen diese Zerstörungsvorgänge aufbewahrt, reflektiert werden. Andererseits sollen sie auch die Trauer darstellen über diesen Verlust und die Art, wie sich die technische Hybris gegenüber menschlichen Leides, der Natur verhält.

Und diese Idee hat mit der Klangzerstäubung zu tun. Vielmehr als die Berichte über irgendwelche Atompilze hat mich nämlich berührt, wie die Marine, die Natur zerstört wurde. Das wurde alles zerstäubt.Diese ganze Unmenschlichkeit hat mich zu dieser Idee gebracht, analog auch den Klang zu zerstäuben. Es hat auch mit der technischen Seite zu tun, der Granularsynthese, aber auch mit dem Raum. Der Raum ist ein ganz wesentlicher Moment in meinem Stück. Es gibt sechs Lautsprecher, die rund um das Publikum stehen. Über die Granularsynthese und andere live-elektronische Bearbeitung und diese Lautsprecher wird der Klang auch im Raum gespalten und zerstäubt. Zum Schluss bleibt nur noch ein Knacken, ein Rauschen, ein rein technisches Geräusch über. Das kann man metaphorisch natürlich in Beziehung setzen mit der Zerstörung der Natur, ist aber auch ein struktureller Vorgang, der das ganze Stück durchzieht.

Vielleicht mögen Sie noch ein wenig die verschiedenen Möglichkeiten der akustischen Zerstäubungen erklären, die Sie verwenden und wie sie in dem Stück eingesetzt werden?

Gerhard E. Winkler: Die Kernidee der Zerstäubung ist, dass ein normal gespielter Ton granuliert wird in kleinste klangliche Einheiten und diese Granes werden neu organisiert. Der Klang wird aufgelöst.  Diese akustische Zersplitterung geht in die Richtung, dass es Stellen gibt, die sehr rasch, extrem leise gespielt werden, d.h. die Musik bewegt sich auf einen Punkt zu, wo in der Schnelligkeit und durch die geforderte Dynamik der ppp der Klang an eine Grenze kommt, wo er amorph wird und er sich zwischen Klang und dem Nichts bewegt. Dazu gibt es Präparierungen, auf die Saiten des Klaviers werden Metallteile gelegt, die den Klang aufrauen. Insgesamt geht es also bei dem Live-Musizieren um Aufrauhungsvorgänge, die den normalen Instrumentalklang schon während des Entstehens zersplittern und ins Amorphe treiben. Bläser-Multiphonics kommen auch vor.

Dann gibt es eine zeitliche Splitterung, das Tempo, die Dynamik. Dann gibt’s eine horizontale Zersplitterung. Das wird einerseits durch diverse Sekundfilterung erreicht, wo nur einzelne Ausschnitte aus dem Spektrum in der Live-Elektronik wiederkommen, andererseits aber auch durch spezielle Präparierungstechniken, Multiphonics, Transpositionstechniken.

Einlagerungen, Wie kann sich ein Stück selbst erinnern?

Gerhard E. Winkler: Insofern als Klänge, die während des Konzertes gespielt werden, mehrfach wiederkehren. Alles, was an Zuspielungen während des Stückes erfolgt, sind nicht vorgefertigte Bänder, es sind Dinge, die man vorher schon gehört hat; teilweise verändert. Das Stück hat eine Selbstbezüglichkeit, als es im Verlauf immer wieder mit sich selbst konfrontiert wird. Dass von außen Teile wieder hereinkommen. Es gibt ganze Abschnitte die wiederholt werden. Und es gibt eine Ebene, die das ganze Stück durchzieht, es ist die generelle Geräuschwelt einer völlig zersplitterten, zerhackten, letztlich nur noch ins technische Geräusch zurücksinkenden, letztlich aber doch immer wieder mit solchen Klangquanten angereicherten Welt, die das ganze Stück durchzieht. Das sind Klänge, die direkt aus der Aufführung her kommen.

Es geht also in BIKINI.ATOLL also auch auf der Seite des musikalischen Materials um ein geschlossenes System, in dem ein offenes System zirkuliert. Ganz wie im strukturell- und prozesshaften Aufbau des Stückes?

Gerhard E. Winkler: Ja, denn alle Primärklänge werden auf der Bühne von den Instrumentalisten erzeugt. Es gibt keine elektronischen Zusätze oder Zuspielungen.

Link:
Gerhard E. Winkler