Gerd Kühr dirigierte „die reihe“: Britische Bearbeitungen historischer Werke, Cerhas „Quellen“ und eine eigene Uraufführung („Musica pura“)

Das Ensemblestück „Musica pura“ von Gerd Kühr bildete am Samstag in ihren fünf Sätzen eine Art roten Faden durch das Programm im Schömer-Haus Klosterneuburg. Friedrich Cerhas „Quellen“, die am Ende dieses „reihe“-Konzerts standen, waren 1992 das erste (Auftrags-)Werk bei Wien Modern für das von Heinz Tesar konzipierte Bauwerk mit den dreigeschossigen umlaufenden Galerien. Das Programm begann mit einer Komposition bzw. Wiederherstellung einer gotischen Ballade von John Dunstable („O rosa bella“) von Karlheinz Essl.

Es zahlte sich aus, mit dem von Wien Modern organisierten Shuttle-Bus bequem nach Klosterneuburg-Weidling zu reisen. Man wurde vor dem Konzert in Reden von Vater und Sohn Essl begrüßt (Karlheinz Essl ist Kurator des Musikprogramms im Schömer-Haus wie auch im Essl-Museum). Unter den Zuhörenden befand sich auch das Ehepaar Gertraud und Friedrich Cerha. Mit der Aufführung in Klosterneuburg begann ja auch die letzte Woche des Festivals, dass mit Aufführungen des Orchesterstücks „Wie eine Tragikomödie“ mit dem RSO Wien und mit zwei Erstaufführungen („Malinconia“ für Posaune und Bariton Georg Nigl, dem Schlagzeugkonzert mit Martin Grubinger und auch mit der Aufführung des „Divertimento“ aus 1947 und des „Curriculum“ aus 1971 für Bläser mit dem Ensemble „Kontrapunkte“) noch einmal zu einem Cerha-Festival wird.

Karlheinz Essl erklärte das von ihm zu Beginn aufgeführte Stück, eine Instrumentierung beziehungsweise Aussetzung für Flöte, Oboe, Klarinette und Streichtrio der ihm zugänglichen Quellen der gotischen Ballada von John Dunstable mit dem er sich schon während seiner Studienzeit beschäftigt hatte. Die Ballada,  man könnte auch sagen, das Chanson „O rosa bella“ von Dunstable war zu dessen Lebzeiten (um 1390-1453) und auch später ungemein populär und tauchte in verschiedenen Paraphrasen als Messkomposition, Orgeltabulierung oder als „Quodlibet“ in den wichtigsten Handschriften auf. Als letztes Stück komponierte Essl im „Epilog“ auch eine eigene Bearbeitung. Man war also gleich einmal in einem Konzert mit Alter Neuer Musik!

Es folgte vor der Pause ohne Unterbrechung aufeinander folgend Kührs fünfsätzige „Musica pura“ für Ensemble abwechselnd mit drei „Instrumental Motets from Early Scottish Motets“ von Peter Maxwell Davies und Harrison Birtwistles faszinierende „Neukomposition“ des Hoquetus David von Guillaume de Machaut, dem bahnbrechenden französischen Komponisten des Mittelalters, der von ca. 1305 bis 1377 lebte. Als bedeutendster Komponist der Ars nova galt er als „Avantgardist“ des 14. Jahrhunderts. Bei der dreistimmigen Hoquetus-Satzart hoquetieren zwei der Stimmen, das heißt, sie wechseln sich im raschen Tempo (meist von Note zu Note) miteinander ab, sodass eine singt bzw. spielt, während die andere pausiert. Zu den beiden Stimmen kommt eine weitere, durchgehende Stimme. Es handelt sich um eine virtuose, expressive Musik mit einem starken rhythmischen Element.

Die Idee, eine „reine Musik“ zu schreiben, kam Kühr paradoxerweise bei der “Revue instrumentale et électronique”, seiner Raumklangkomposition für das Grazer Musikprotokoll 2005. Gerd Kühr, dazu befragt: „Weil ich damals bei meiner ‚Revue’, die auch mit elektronischen Einspielungen sehr groß aufgezogen war, einen kurzen Satz hineingesetzt habe, wo nur ein Trio ohne jegliche Zuspielung gespielt hat – damals hatte ich schon die Idee, etwas vom ganzen Drumherum loszulösen und eine Art ‚Musica pura’ zu schreiben. Daraus sind jetzt fünf Sätze entstanden, die auch in dieser Reihenfolge zu spielen sind. Zusammen mit meiner Komposition werden ein Guillaume de Machaut-Hoquetus (Harrison Birtwistle) und Motetten-Bearbeitungen alter englischer Komponisten von Peter Maxwell Davies aufgeführt. Nun ist es möglich, meine ‚Musica pura’ satzweise mit den Vertonungen von Maxwell Davies zu mischen, das ergibt auch Sinn und funktioniert ziemlich gut, was die Zusammenhänge und harmonischen Übergänge betrifft.

Während Peter Maxwell Davies sich zunächst genau an die Vorlagen der schottischen Motetten hält,  weicht er sukzessive von diesen in den Bearbeitungen („All Sons of Adam“, „Si quis diligit…“ von David Peebles & Heagy,  „Our Father…“ von John Angus) ab. Der Birtwistle-Hoquetus hingegen hält sich an die Harmonisierung und den Cantus firmus genau, macht jedoch durch eine aufregende, immer greller werdende Instrumentierung mit viel Schlagzeug und Glocken ein modernes Stück daraus.

Und Kühr reagiert allenfalls im fünften Satz seiner Musik auf diese Ausbrüche. Wie Karlheinz Essl kommentiert: „Im letzten Stück mit seinen Klangflächen und den sich immer mehr verdichtenden Klangpunkten hat die Musk –‚per aspera ad astra’ – zu einer neuen, aus dem Inneren herauswuchernden Expressivität gefunden“. Ansonsten ist die wunderschöne „Musica pura“ ein äußerst leises Geschehen, bei dem schon ein Schlag mit den Woodblocks, ein Marimba-Klang, ein einmal klopfender Klarinettenklang oder ein Pizzicato  zum Ereignis wird. Eine Abfolge von genau kalkulierten, ausbalancierten  Klängen in nur fünf Tonhöhen in verschiedenen Oktavlagen, denen man gebannt zuhören kann.

„Quellen“ (1992) von Friedrich Cerha, die sich, wie das Wort schon sagt, biographisch mit historischen Quellen beschäftigen, bleibt eigenständig am Schluss. Es ist für großes Ensemble (auch mit Akkordeon und Gitarre) komponiert und unter Kührs Leitung erklang eine beachtliche Wiedergabe eines aufregenden Stücks auch voller Dramatik. Eine großteils dennoch meditative Musik, immer wieder von „geschäftigen“ Einschüben unterbrochen, die aus einer polymetrischen Überlagerung afrikanischer Rhythmen enstehen, erläutert Essl und Cerha selbst schrieb zu einem Stück, dass er sich bei der Konzeption des Werks klarzuwerden versuchte, „aus welchen Quellen meine musikalischen Vorstellungen kommen… Vielleicht im Zusammenhang damit, dass ich eben eine schwere Krankheit überlebt hatte. Die ‚Quellen’ meiner musikalischen Inspiration sollten klarer, deutlicher hervortreten, auch und gerade dort, wo sie manchem unzeitgemäß erscheinen.“

Nun,  es ist auch heute nicht unzeitgemäß, und auch nicht  gewesen, als dieses Auftragswerk von der reihe unter Cerhas Leitung bei „Wien modern 1992“ uraufgeführt wurde, übrigens im Verein mit seinem Zweiten Streichquartett (1990), einem auf Computerberechnungen basierenden Stück von Ianns Xenakis und Charles Ives’ „Unanswered Question“. In seinem Kommentar zu den „Quellen“ gestand Friedrich Cerha auch noch, dass ihm ein vielfältiger Umgang mit dem musikalischen Material auch das Hereinnehmen einer Passage aus der dritten „Langegger Nachtmusik“ erlaubte. Und dass das über weite Strecken fehlende Bass-Instrumentarium (auch Kühr verzichtet in seinem Stück auf die Verwendung eines Kontrabasses) den Klang gewissermaßen „in der Luft hängen“ lässt.
Heinz Rögl

Foto Gerd Kühr © Heimo Binder
Foto Friedrich Cerha © Wiener Konzerthaus