Zur Eröffnung der Saison 2010/11 hat das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich (NTO) einen Kompositionsauftrag an Gerald Resch vergeben. Das neue große Werk „Cantus firmus“ für Orchester und Chor ad libitum wurde im Großen Musikvereinssaal sowie auch in St. Pölten unter der Leitung des Chefdirigenten Andres Orozco-Estrada zur sehr guten Uraufführung gebracht. Mit von der Partie auch der Chorus sine nomine – im zweiten Teil des Konzerts erklang Mendelssohn-Bartholdys Symphonie-Kantate „Lobgesang“.
Gerald Resch konnte sich freuen. Sein neues, eine halbe Stunde dauerndes Stück stieß beim Abonnentenpublikum auf durchaus positive Aufnahme und viel Applaus. Durchaus ein Coup, hat er es doch in einen Zusammenhang mit der nach der Pause gespielten Mendelssohn-Symphonie (Nr. 2, B-Dur) gestellt und konzipiert. Der Chorpart („ad libitum“) in seinem Stück ist sehr kurz, der Chor singt ganz am Anfang eine a cappella-Einleitung und taucht erst gegen Ende des finalen Satzes wieder auf. Man könnte den Chor auch weglassen, meinte Resch. Das wäre aber schade.
Die Tonkünstler unter ihrem neuen Chef Orozco-Estrada, einem aus Kolumbien stammenden Musiker, sind zweifellos zu einem der interessantesten Orchester avanciert, auch seit Jahren bereits unter dem hervorragenden Management des Generalsekretärs Johannes Neubert. Unter dem Motto „Aufhören? Zuhören! Keine Angst vor Neuer Musik spielen sie in dieser Saison Schlüsselwerke der jüngeren Musikgeschichte und decken dabei Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Musikschaffenden auf. „Denkrichtungen, ästhetische Hörweisen und Klänge, die unserer Welt entspringen“, sollen im Mittelpunkt stehen. . Am Ende stehen Antworten oder womöglich weitere Fragen …Immerhin: Der Prozentsatz von zeitgenössischen und neueren Werken im Repertoire der Tonkünstler liegt vor dem der Wiener Symphoniker und dem der Wiener Philharmoniker(1975-1994 betrugen die des NTO 5 Prozent gegenüber 3,6 und 1,4 Prozent!)
Gerald Resch, auch Musikwissenschaftler und Musikkurator in der „Alten Schmiede“ hat sich im NTO-Magazin bereits erhellend über seine Komposition „Cantus firmus“ geäußert. Auch in der letzten ÖMZ ist von ihm dazu – auch über Komponisten und Komponieren heute – ein „Statement“ zu finden: Auf „Lobgesang“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy, „dieses 170 Jahre alte, selten gespielte oratorienartige Werk auf Worte der Heiligen Schrift kompositorisch zu reagieren erschien mir als eine Aufgabe, die ziemlich quer zu unserer Zeit und ihren musikästhetischen Moden steht.“ Über die Gründe warum man ausgerechnet ihm dieses Projekt zutraute, könne er nur spekulieren. Doch nach Gesprächen mit dem Chefdirigenten, der meinte, dass viele mitteleuropäische zeitgenössische Musik heute oft „düster, vergrübelt und zersplittert“ sei und der sich ein Gegengewicht zu dieser Tendenz wünschte, fand Resch: „Dieser Wunsch kam meinem eigenen Bedürfnis entgegen, mich von einer Art klischeehafter zeitgenössischer Musik zu distanzieren, die nur aus Bequemlichkeit mit dem Bruchstückhaften und Undeutlichen flirtet.“
So weit, so gut … Leicht hat er es sich aber gar nicht gemacht, der Gerald Resch. Und herausgekommen ist ein sehr gutes, anspruchsvolles Stück, an dem er sogar während der Konzeption noch den Titel änderte. Zunächst als eine Art „Ouvertüre“ zur Mendelssohn-Kantate gedacht, verwarf er einen weiteren Titel („Symphonie“) und wählte (und erfüllte) den Namen „Cantus firmus“. Es wurde – bei allem Respekt vor der romantischen Musik Mendelssohns, auch Schuberts – keine affirmative Angelegenheit, sondern mitunter eine motivisch streng strukturell komponierte, aber auch dramatische. Wunderschön die von vielen Solostellen durchsetzte Stimmführung der Partitur mit auch bedeutenden Aufgaben für Pauker, Schlagwerker inklusive Marimba- und Vibraphon sowie der Harfe.
Lassen wir Daniel Enders Werkeinführung im Programmheft zu Wort kommen: In «Cantus Firmus» für großes Orchester und Chor ad libitum (entstanden 2009/10) komme die typische Vorgehensweise des Komponisten Gerald Resch zum Tragen, die aus einem Grundgedanken heraus ein ausgedehntes Werk entspinnt. „Ganz so streng wie in jener bedeutenden musikalischen Tradition der Cantus-Firmus-Kompositionen, bei denen sich alles auf Basis einer einzigen Melodie entfaltet, ist das Stück zwar nicht gearbeitet, aber die Assoziation mit geistlicher Musik war für Resch durchaus beabsichtigt.“ (…) Und: „Obwohl etwa Satzfolge und Proportionen zwischen den Sätzen in «Cantus Firmus» verschoben sind, spiegelt sich in diesem Stück doch der Typus der klassisch-romantischen Symphonie wieder. So finden sich neben der offensichtlichen Einleitung sowohl ein Hauptsatz als auch die Typologien des langsamen Satzes, des Scherzos und des Finales, wenn auch auf stark transformierte Art, wieder.“ Die Satzbezeichnungen: Corale e Passacaglia – Quasi una Sonata – Arie e Finale.
Dem Chor zu Beginn (“Corale”), Worte aus den Psalmen des Alten Testaments fungieren als eine Art langsame Einleitung, folgen 13 durchaus aufwühlende, dichte, dramatische Variationen auf das Passacaglia-Thema (wenn man will mit Bezügen auf Brahms’ Vierte und Anton Weberns op. 1). Ein ausgedehnter Sonatensatz folgt (mit Durchführung und Scheinreprise).Resch: Das sei eine Musik bei der „man immer ein bisschen auf der Stuhlkante sitzt und sich fragt: Wie geht’s weiter?“. Anklänge an Ravel und Beethovens Neunte (im Wiederaufgreifen früherer Motive und Gedanken) im Finale, wobei zu Beginn kantable „Arie“ eine Rolle spielen – mit sehr schönen Soli von Instrumenten bzw. Instrumentengruppen.
Ein großes Bravo! Man mag der Musik wieder begegnen. Am 10. Oktober, 19.30 Uhr wird es auf Ö1 ausgestrahlt werden.
Über Mendelssohn-Bartholdy zu lästern, sollte man sich überlegen. Bewegend ist dieses reformatorisch-lutherische „Lobgesangs“-Stück, 1840 zum Fest des 400-jährigen Jubiläums der Erfindung der Buchdruckerkunst erstmals vom Gewandhausorchester Leipzig aufgeführt – mit Bezügen bis zurück zu Händel und natürlich auch zu Beethovens Chor-Symphonie. Eine wunderbare dreisätzige Instrumentalsymphonie, beginnend mit einem „Maestoso“ mit dem Hauptthema, das dann der Chor in der Kantaten-Symphonie singen wird: „Alls, was Odem hat, lobe den Herrn!“ Hörenswerte Vokalsolisten waren Christiane Oelze, Simona Šaturová und Ian Bostridge. Man möchte als „Volk“ im Saal in den schlicht gehaltenen Choralgesang des Chores einstimmen, wenn es heißt: „Nun danket alle Gott / mit Herzen, Mund und Händen …“ Eine der schönsten „christlichen“ Kompositionen des 19. Jahrhunderts, dieser dann immer wieder auch mitreißende, hymnische „Lobgesang“ – verfasst ausgerechnet von „dem Juden“ Felix Mendelssohn-Bartholdy. (hr)
Gerald Resch © Renate Publig
Andres Orozco Estrada © Werner Kmetitsch
Wiener Musikverein