Georg Vogel – Vielgestaltig – Mikrokosmos

Dieses Porträt von Albert Drägerdt entstand im Zuge der Lehrveranstaltung „Ästhetischer Diskurs, Reflexion, Kritik: Schreiben und Sprechen über Neue Musik“ von Monika Voithofer im Wintersemester 2022/23 am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien und wird als Teil einer Kooperation mit mica – music austria hier im Magazin veröffentlicht. Für diese Aufgabenstellung konnten die Studierenden frei eine aufstrebende Persönlichkeit aus dem Bereich der neuen Musik wählen.

Werden Schriften des 17. Jahrhunderts untereinander verglichen, wie etwa der von Guthold Dohann Glaser verfasste ,,Discurs von den eigentlichen enharmntolischen Ursachen“ mit jenem von Elhanan Horguld Gosdt ,,in einem Flug von Inspiration niedergeschriebenen“ Pamphlet ,,Blätter zur 12-Tönigkeyt“, spiegeln sich stets, meist in einer unangenehmen Hitzigkeit, die gewohnten Anfechtungen der Irrationalität wider. Gegenseitige Beschimpfungen etwa als ,,Don Quijote unserer Zeit“ flogen durch die Luft und nur wenig Raum verblieb für vernünftige Abwägung. Dass wir heute vornehmlich eine in zwölf Töne unterteilte Oktave auf unseren Klavieren vorfinden, war für die einen möglich, für die anderen notwendig. Den ersteren ist der Jazzpianist, Komponist, Instrumentenbauer und Verfasser theoretischer Texte Georg Vogel zuzurechnen. 

Dieses Video auf YouTube ansehen.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.

Die Wiederentdeckung der 31-Tonenharmonik

Über die derzeit vorherrschende halbtönig unterteilte Oktave hinauszudenken und in Mikrointervallen zu hören, zu musizieren, wussten schon die Griechen der Antike. Im 16. Jahrhundert baute Nicola Vicentino das Archicembalo mit 36 Tönen innerhalb einer Oktave. Dies nur als Hinweis. Von anderen Tonsystemen wusste Georg Vogel nur peripher. Sie waren gelegentlich Thema, schon seit seiner Zeit in Salzburg, wo er 1988 geboren wurde, aufwuchs und das Musische Gymnasium besuchte. Es bedurfte aber eines konkreten Anwendungsbereiches – und diese Gelegenheit bot sich ihm, als eines Tages die Saite seines Clavinets riss. Im Versuch des Selbststimmens stieß er schließlich auf die mitteltönige Stimmung, in welcher sich ein neues Feld musikalischer Tätigkeit eröffnete; wo von der zwölftönigen Notwendigkeit vielfach gescholtene, darüber hinausgehende Einbildungen ihr Recht auf Wirklichkeit behaupten konnten.

Das 31-Tonsystem – Georg Vogel als Instrumentenbauer

Der von Vogel beschrittene Übergang von 12-EDO zu 31-EDO (gleichmäßige Oktavteilung in 12 bzw. 31 Töne) bzw. zur mitteltönigen Stimmung beruht auf Verwendung der reinen Terz, wofür Quinte und Quarte leicht in Schwebungen versetzt werden müssen.  Zunächst wird durch die Schichtung der temperierten Quint ein Ganzton-/Halbton-Tonraum geschaffen. Dieser lässt sich in drei Tetrachorde strukturieren. Sodann wird durch mutierende Quartketten der Tonraum bis auf 31 Töne pro Oktav erweitert. Nun eröffnen sich neue kompositorische Gelegenheiten, Sensationen für das moderne Ohr. Zum einen die ungewohnten Klangeindrücke einer reinen Terz, einer Naturseptime, weiters wiederbelebte Moll/Dur-Dreiklänge aus alten Zeiten, nicht zuletzt die Möglichkeit, das Gehör in seiner potenziellen Sensibilität zu fordern, denn das kleinste Intervall innerhalb dieser Temperatur, die Diësis, ist ein Fünftelton. Zum anderen zeigt sich die Aussicht auf Loslösung tonaler Bezüge durch reale enharmonische Verwechslung, Transposition, wobei es dabei zu einer tatsächlichen Änderung des Klangereignisses kommt. Ein wichtiges Faktum für das Schaffen von Vogel, der bewusst mit einer hexachordalen Strukturierung und deren Bewegung durch den Tonraum operiert. Doch was wäre die theoretische Kenntnis ohne Ausführbarkeit in der klingenden Welt? Georg Vogel ist nicht nur scharfsinniger Theoretiker, sondern auch Instrumentenbauer. Die von ihm konstruierten Midi- und Elektro-Clavitone existieren bereits in mehreren Ausführungen und sind von ihrem Schöpfer in ständiger Verwendung zur Kreation. Sie haben ihre eigene Klangfarbe, sind mal dem (Hammer-)Klavier, mal dem Cembalo-Klang angelehnt. Es handelt sich jedoch nicht um Identität, sodass man auch sagen könnte, das Klavier wäre im Klang dem Claviton ähnlich. Aktuell treibt Vogel das Vorhaben an, ein 31-Ton-Tasteninstrument auch in akustischer Version verfügbar zu machen. Uns ist bekannt, dass jene Beschäftigung kurz vor ihrer Vollendung steht, heuer wird es so weit sein.

Nach und nach bildet sich der uns hier zu beschreibende musikalische Freigeist ab. Bislang in theoretischer und Instrumente bauender Gestalt. Wenden wir uns dem musikalischen Schaffen zu. Zunächst noch theoretisch.

Kompositionsstränge

Das Komponieren war für Georg Vogel ,,immer schon präsent“, noch bevor er sich nach etwa neun Jahren klassischen Klavierunterrichts dem Jazz zuwendete und hier seine Leidenschaft entdeckte. Einfluss, nicht zuletzt bei der Auseinandersetzung mit der Proportions- und Hexachordallehre, übte das Studium bei Walter Haberl aus. ,,Componere“ meint bei Vogel eine Art Anwendung von Materialisierungstechniken gewisser Ideen, die in ihrer Konkretisierung als musikalische Gestalt  erst durch den Prozess selbst ausformuliert werden. Indem die vorformulierten ,,Parameter, Tendenzen, Hoffnungen, Vorahnungen“ auf die spezifischen Techniken des Komponierens treffen, kommt es zu einer interessanten Interaktion, bei welcher jede Technik ihren eigenen Reiz und Möglichkeitsbereich hat. Ein und dieselbe Idee in Verwendung kann insofern auf verschiedene Methoden treffen – die Idee kann vielgestaltig in Realisation treten.

Bisher sind der Öffentlichkeit vier Kompositionsstränge in Georg Vogels Schaffen bekannt. Als erste genannt sei die Bildung sogenannter Transpositionsmuster eines 31-tönigen Spektralakkords. Ausgangspunkt ist ein aus der Jazztheorie bekanntes Verfahren namens ,,constant structure“. Eine Akkordgruppierung bewegt sich transponierend durch die verschiedenen Lagen des mitteltönig gestimmten Systems. Ihr spektraler Charakter ergibt sich aus der, der 31-EDO eigentümlichen, Annäherung an die Reinstimmung, bei der gewisse Obertöne einen besonders spektralen Eindruck vermitteln. Der zweite Kompositionsstrang betrifft die Transkription von Text in Musik bzw. Ton. Hier werden etwa die Grundvokale mittels Solmisationsilben in eine hexachordale Melodie umgewandelt. Daneben erfolgt anhand einer Lautschrift die Zuordnung der restlichen Buchstaben zu Tonhöhen. Der dritte Strang setzt den Fokus auf die systematische Erforschung des 31-Tonraumes und schließlich, oder auch nicht, betrifft der vierte Strang die 12-Tonkomposition mit 31 Tönen, wobei hier die Freiheit der enharmonischen Intonation als erweiterte Möglichkeit besteht. Serielle Techniken sind für Vogel spannend, weil sie einen Anfangspunkt festsetzten. Innerhalb dieser Welt kann sodann erkundet werden – auch intuitiv.

Die Musik

Das bisherige soll nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der letzte Grund aller Musiktheorie immer die Musik ist. Konzentrieren wir uns auf diese, fällt auf, dass Georg Vogel schwerlich in einem Bild zu halten ist. Was die musikalischen Vorlieben betrifft, so gilt es, einen Blick auf das Programm seines Porträtkonzertes im Schloss Goldegg im Juni 2021 zu werfen. Neben eigenen Kompositionen erklang dort eine Palette verschiedener Epochen und Themen, wie Stücke von Thelonious Monk, Olivier Messiaen, Jaco Pastorius, Giovanni Salvatore, Jerome Kern und Johann Sebastian Bach. ,,Verschiedene Situationen haben ihren Reiz.“ Weitere prägende Einflüsse erhielt er von seinem ersten Jazzlehrer Franz Pillinger. Neben seiner Solotätigkeit musiziert der Absolvent eines Jazz-Klavierstudiums 2007–2011 an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien bei Oliver Kent in sechs Formationen: Dsilton, TREE, Flower, Duo mit Andreas Lettner, Duo mit Elias Stemeseder, Geogema. Auch ein Projekt mit Bodo Hell entstand unlängst. Gemeinsames Ensemblespiel ist seit 2005 stark prägend für das Schaffen Vogels. Das Trio Dsilton (Clavitone, 31-Ton-Gitarren, Schlagzeug) ist auf mikrotonale Musik spezialisiert. Die Aufführung der Stücke ,,Halogenfluegel“ (2018) und „Ddušša“ (2016) anlässlich eines Konzertes 2022 in Amsterdam beginnt mit einem Dreiklang, aus dem zwischen aufblitzender Ornamentik ein eigentümlicher Kontrapunkt rankt, währenddessen verschiedene Räume des 31-Tonsystems betreten werden. Nach dieser anmutigen Einleitung setzen Schlagzeug und E-Gitarre ein, etwas Grundverschiedenes tritt hervor, Bebop meldet sich zu Wort, reges Leben, aber nur verschwindend kurz, etwa fünfzehn Sekunden, bis die ursprüngliche Szenerie wiederhergestellt ist. Jeder Ton in seinem Verbund ist genuin und sprechend, Harmonie-Empfinden ohne Bindung – ,,enharmonische Diversität“ –, Freiheit, nicht zuletzt auch im Rhythmus, der im gesamten Schaffen von Georg Vogel nie Gleichmäßigkeit aufweist, selbst Gestalt, ein eigenes Leben hat. Dies passend zum Wunsch, die Ideen zu materialisieren. Nichts an ihnen ist gleichgültig, die Vorstellung soll konkret festgehalten werden. Es dienen dafür beispielsweise rhythmische Modulationen und additive Rhythmen. Die Besonderheit dieses Parameters kommt unter anderem von der Faszination der Gruppe für Balofonmusik, welche in Westafrika traditionell verbreitet ist. Es ging darum, ,,Transkriptionen dieser Musik anzufertigen und diese mittels spezieller Technik, nämlich der 31-Ton-Enharmonik, und beim rhythmischen Konzept mittels N-tolischer Taktarten einzufangen“. Mit den Klaviertrios TREE und Flower widmet sich Vogel, der auch regelmäßig im Porgy & Bass gastiert, neuartigen Jazzstücken, die mit zwölf Tönen innerhalb einer Oktave umgehen. Durch TREE entstanden in jüngerer Zeit zwei Alben (,,Between a Rock and a Hard Place“ 2019 und ,,Y“ 2022), in denen Kompositionen aus dem Jahr 2005 wie ,,Dhau“ wieder aufgegriffen werden. Dass die vermeintlich abgeschlossenen ,,Werke“ Vogels also anders eine ständige Lebendigkeit aufweisen, ist ein Punkt, der hier nicht unbeachtet gelassen werden soll. Improvisation und kompositorische Konstruktion gehen dabei Hand in Hand, wie auch in dem Stück ,,Zug“ (2011), wo jenes Verhältnis hörbar ist. 

Dieses Video auf YouTube ansehen.
Hinweis: Mit dem Abspielen des Videos laden sich sämtliche Cookies von YouTube.

Die eben nur in Umrissen gezeichnete ,,Viel-saitig-keit“ Georg Vogels macht deutlich, dass ein zusammenhängendes, in einen Rahmen zu setzendes Bild ein unerfüllbarer Wunsch bleiben muss. Eine Serie von Porträts käme den Existenzen des Komponisten näher.

Die Beschäftigung mit dem Künstler eröffnet einen Mikrokosmos im positiven Sinn. Musik, Theorie und Instrumentenbau eröffnen Sphären mikrotonaler Musik, genauste Ausdifferenzierung musikalischer Strukturen und Freiheiten durch Improvisation, selbstverfasste Schriften, die auf Abhandlungen wie Viggy M. Nimoes ,,Enharmntolischer Minimal-Fiktionalismus“ aufbauen können. Auch eine erfundene Schrift, die erst im lauten Vorlesen die volle Extension ihrer Zeichen entfaltet, gehört dazu. Nicht zuletzt soll noch auf die institutionelle Tätigkeit Georg Vogels hingewiesen werden. Neben seiner Zusammenarbeit mit der ENAMNDDOOLIKKA KOMMA und INNSDIDDUUT FIA KOMMBBARADDIIFE ENAMNDDOLISSDIK ist er auch Mitgründer von Freifeld samt eigenem Label, dessen Konzertreihe „Freistunde“ nach vorübergehender Einstellung ihrer Aktivität 2016 nur noch auf die Gelegenheit wartet, wiederaufgenommen zu werden. Idee ist, ,,die Prioritäten der österreichischen Musik- und Kulturlandschaft, besonders im Bereich des Jazz, der improvisierten Musik und generell allen modernen Stilistiken neu zu sortieren“. Ein Künstler, der aus dem Rahmen steigt und jenem Horizont schaffend eine Bedeutung verleiht.  

Albert Drägerdt

++++

Termine:

Samstag, 4. März 2023
MATTHEW HALPIN 4TET
zwe Wien

Samstag, 4. März 2023
GEOGEMA
Ö1-Album Präsentaion

Samstag, 11. März 2023
GEOGEMA
Gerald Preinfalk: Sax. / Saggs
Georg Vogel: Tasten / keys / Ddassdn
Matheus Jardim: Schlagzeug / drumset / Dsaegl
zwe Wien

Mittwoch, 15. März 2023
zum 80. von Bodo Hell
Claviton-Einlage
Porgy & Bess

Sonntag, 19. März 2023
GERALD PREINFALK 5TETT
Gerald Preinfalk, Peter Taucher, Georg Vogel, Karl Sayer & Valentin Duit 
Raiding

Sonntag, 30. April 2023
VLADIMIR KOSTADINOVIĆ 5TET
Štepan Flagar, Christopher Pawluk, Georg Vogel, Štefan ,Pišta’ Bartuš & Vladimir Kostadinović
zwe, Wien

Donnerstag, 23. November 2023
SOLO
Georg Vogel: Klavier
ProDiagonal Lambach

++++

Links:
Georg Vogel
Georg Vogel (SoundCloud)
Georg Vogel (YouTube)
Georg Vogel (music austria Datenbank)
„Ist der Gefühlsbezug oder die Überlegung zuerst da??“ – GEORG VOGEL im mica-Interview
freifeld