Vor ein paar Monaten war der Ausblick auf seinen Jubeltag noch recht düster. Sollte er ursprünglich vielerorts gefeiert werden, so traf die virusbedingte Absage der Kulturveranstaltungen auch die Planungen zum 85. Geburtstag von KURT SCHWERTSIK am 25. Juni unerbittlich hart. Nun ist einiges doch möglich geworden und dass man ringsum bemüht war, es zu ermöglichen, zeigt den Stellenwert des Komponisten und die Sympathie und Wertschätzung, die man ihm entgegenbringt.
Beginn eines Lebens in schwerer Zeit
„Ich habe immer ein leichtes Leben gehabt“, resümierte Kurt Schwertsik früh – im allerersten Interview, das ich 1991 mit ihm führte. Da war er gerade einmal 55, aber es scheint mir, dass er diese Aussage auch dreißig hinzugekommene Jahre später nicht minder für gültig erachten würde. Gewiss, er gehörte jener Generation an, die durch den Krieg tiefe Einschnitte in einer naiv-unschuldigen Kindheitsentwicklung erlebte. Seine Mutter, Schneiderin, tat, während ihr Mann noch an der Front und später vermisst war, alles, um für den einzigen Sohn die Schrecken ringsum nicht zu schrecklich wirken zu lassen. Ihr verdankt er das Bewahren des Gedankens an eine gute Kindheit, in welcher Musik von Anfang an eine Rolle spielte, bis hin zum ersten gemeinsamen Opernbesuch und schließlich dem Beginn des Studiums. Zu seinen Lehrern an der Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien zählten Joseph Marx, Karl Schiske und Gottfried Freiberg. Die Teilnahme an den Darmstädter Ferienkursen bei Stockhausen, Kagel, Cage, Nono und Leibowitz erweiterte seinen Horizont ebenso wie teils längere Aufenthalte in Köln, Rom, London und Kalifornien. Zunächst ab 1955 hauptberuflich Hornist beim Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester und 1968–89 bei den Wiener Symphonikern, wurde er 1979 Kompositionslehrer am Konservatorium der Stadt Wien, 1988 Gastprofessor und schließlich 1989 ordentlicher Professor für Komposition an der Wiener Musikhochschule – eine Position, die er bis zu seiner Emeritierung 2003 innehatte.
Erinnerung in Buchform
Das Werden und Sein in diesem „leichten Leben“ lässt sich seit einigen Wochen nachlesen. Aus der Idee zu einer ersten größeren Schwertsik-Monografie entwickelte sich nach und nach das Projekt eines Erinnerungsbuches, das wie der erste Teil einer Autobiografie erscheint und die ersten Jahrzehnte dieses Lebens beschreibt: „Kurt Schwertsik: was & wie lernt man?“ heißt der optisch sehr attraktiv gestaltete Band, der während der Corona-Pandemie als Band 32 der Reihe „Komponisten unserer Zeit“ in der Musikzeitedition erschienen ist und auf 224 Seiten sehr viel über den Menschen, natürlich in hohem Maß den Musiker aus erster Hand vermittelt. Vieles resultiert auch aus den weitreichenden philosophischen Überlegungen, die bei Schwertsik immer zentral waren, auch wenn es gerade seine Kompositionen meist äußerlich gar nicht so erscheinen lassen. Zwischen Philosophie und Praxis liegt wahrscheinlich auch sein früher Entschluss, sich nach progressiv anmutenden Anfängen einer neuen tonalen Musiksprache zu bedienen, mit der er nur bedingt an klassisch-romantische Muster anschloss. Vielmehr blieb er stets in einer Sonderstellung, die ihm bald die Position eines allseits höchst beliebten und geschätzten Einzelgängers verlieh; eines Einzelgängers freilich, den man wahrzunehmen pflegte.
Vielleicht kein Auf-, so doch ein Umrührer
Gewiss, es stand harte Arbeit dahinter und es gab auch einigen Gegenwind, als er sich vielseitig im Musikleben engagierte und keineswegs „nur“ (als Hornist) spielte und sich (als Komponist) spielen ließ. Das galt für die 1958 gemeinsam mit Friedrich Cerha erfolgte Gründung des
Spezialensembles für neue Musik die reihe, das erst 2019 im Beisein seiner beiden Erfinder und vieler Weggefährten sein endgültig letztes Konzert gab. Neu waren nicht minder, wenn auch einer ganz anderen Linie folgend, die ab 1965 mit Otto M. Zykan veranstalteten so genannten „Salonkonzerte” in Wien, neu war das 1968 mit Zykan und Heinz Karl Gruber ins Leben gerufene Ensemble MOB art & tone ART. Dies zusammenfassend fällt natürlich das Überschreiten aller ästhetischen Grenzen ins Auge, die Vielfalt, die Kurt Schwertsiks Denken und folglich auch sein schöpferisches Œuvre auszeichnet. Er dürfte der mit einigem Abstand „tonalste“ aller Komponisten sein, die bisher – 1992 war das – als Hauptkomponist mit einer großen Werkretrospektive beim Festival Wien Modern gewürdigt und vom Moderne-Publikum mit Zustimmung und Zuneigung aufgenommen wurden.
Die Moderne im Blickfeld
Die Moderne ist denn auch ein Begriff, der Schwertsik seit jeher, verstärkt aber in den letzten Jahren beschäftigt. So ist es denn naheliegend, dass das am 15. und 16. Oktober 2020 im Archiv der Zeitgenossen an der Donau-Universität Krems stattfindende internationale Symposion „Kurt Schwertsik und der Begriff der Moderne im Wandel“ unter diesem Aspekt mit historischen, biografischen ebenso wie analytischen und interdisziplinären Beiträgen den Standort des Komponisten als Individuum ebenso wie seinen Rang im internationalen Kontext beleuchten wird. Die „Moderne im Wandel“ kann dabei als Sinnbild für Schwertsiks eigene Metamorphose gelten, die sein Schaffen vielfältig und doch zugleich in jeder Phase authentisch erscheint lässt. War er zunächst an der Avantgardemusik der 1950er- und der frühen 1960er-Jahre orientiert, so drückte er sich in seiner bald entstehenden neuen tonalen Sprache so individuell aus, dass er dabei nicht wirklich an den damaligen ultrakonservativen Kräften anstreifte. Lässt sich für den Beginn des Wandels „Liebesträume“ op. 7 (1962) als Schlüsselwerk nennen, so wäre es für die „MOB art“-Phase etwa die „Symphonie im MOB-Stil“ op. 19 (1973), in der er unter dem Einfluss der Musik der Beatles Elemente der Popmusik verarbeitete. Immer wieder wichtig für Schwertsik: musikalische Fantasiewelten, in denen er sich auch außereuropäischen und ausgestorbenen Kulturen annähert, so etwa in „Musik vom Mutterland Mu“ op. 22 (1970) und „Twilight Music“ op. 30 (1976). Zum Hauptwerk seines orchestralen Œuvres wurde der aus fünf Einzelwerken bestehende Zyklus der „Irdischen Klänge“ (1980–92), der eine Art ökologisches Bekenntnis bildet, aber auch eine Auseinandersetzung mit den allgemeinen Fragen des Lebens auf dieser Erde darstellt.
Klaviermusik im Lebensbogen
Was herausgreifen unter den weiteren Werken des Katalogs? – Vieles hat erfreulicherweise den Weg ins Repertoire von Orchestern und Instrumentalistinnen und Instrumentalisten gefunden: von der „Schrumpf-Symphonie“ op. 80 (1999), dem zweiten Violinkonzert op. 81 (2000) und „Adieu Satie“ für Streichquartett und Bandoneon op. 86 (2002) bis zum Trompetenkonzert „Divertimento Macchiato“ op. 99 (2007), um nur einige zu nennen. Erfreulich vieles davon ist zudem aufgenommen worden und dadurch nachhörbar. Das leidenschaftliche Spiel mit den Farben eines großen Klangkörpers setzte etwa mit „Nachtmusiken“ op. 104 (2009) oder „Musik: Leicht Flüchtig“ op. 110 (2012/13) fort, die ihrerseits bereits über die jeweilige Premiere hinaus aufgeführt wurden. Aus Platzgründen ausgeklammert seien hier die vielen Titel aus Schwertsiks Musiktheater- und Liedkatalog (s. a. Links unten). Manches Große hätte in diesem Frühjahr im Aus- und Inland erklingen sollen. Die öffentlichen Maßnahmen der betreffenden Länder gegen das ungekannte Virus verhinderten es. Verhindert wurde auch der Geburtstagsabend, der im Mai im Wiener Musikverein angesetzt war – in derselben Woche, in der im Wiener Konzerthaus das Erste Violinkonzert mit dem jungen Geigenvirtuosen Benjamin Herzl erklingen sollte. Nun, letzteres wird immerhin am 4. November 2020 in Linz nachgeholt werden. Und die jüngsten Öffnungsregeln erlauben es aktuell, dass nun doch eines der beiden neuen Klaviertrios, deren Uraufführungen verschoben werden mussten, partout am Geburtstag des Komponisten, dem 25. Juni 2020 also, im „Gläsernen Saal“ des Musikvereins vom Altenberg-Trio aus der Taufe gehoben werden kann. Nicht zu vergessen sei bei alldem die Klaviermusik, die eine kaum je auffällige, aber konstante Rolle im Schwertsik’schen Schaffen spielt, von den frühen „Fünf Nocturnes“ op. 10b (1964) über viele Albumblätter für Freunde und Kollegen bis hin zum kleinen Zyklus „Am Morgen vor der Reise“ op. 119 (2017). Eine vorzügliche Gesamteinspielung unter der Obhut des Komponisten nahm Aya Klebahn zwischen 2013 und 2019 vor, und das Gesamtergebnis lässt sich auf einer soeben bei Gramola erschienenen CD genießen.
Heiter-melancholische Gelassenheit zum Jubiläum
Resümiert man aktuell, dann muss man feststellen, dass das gewaltige Ereignis der Pandemie wahrscheinlich fast jeden, der in irgendeiner Weise im Musikleben aktiv ist, in irgendeiner Weise berührt und in seiner Arbeit, seinem Leben, seinem Alltag beeinflusst hat (und ebenso natürlich fast jede). Und wenn damit auch für einen der arriviertesten österreichischen Komponisten der Gegenwart die Situation bitter war, so kam es für Kurt Schwertsik aus heutiger Sicht zwar schlimm, aber nun doch nur halb so schlimm, wie es zu werden drohte. Ein leichtes Leben? – Im Wesentlichen mag es das gewesen sein, die Hürden blieben auch ihm freilich nicht völlig erspart. Man darf und soll ihn also nun feiern und ihm danken für seine heiter-melancholische Gelassenheit, seine Liebenswürdigkeit in Person und Musik und vor allem natürlich von dieser Stelle aus auch für die vielen Werke, die er uns Musikfreundinnen und Musikfreunden geschenkt hat und die unsere musikalische Welt trotz der Überfülle des historischen Rucksacks doch noch um ein kleines Bisschen reicher machen.
Christian Heindl
Links:
Kurt Schwertsik (Boosey & Hawkes)
Kurt Schwertsik (music austria Musikdatenbank)
Kurt Schwertsik: was & wie lernt man? (Musikzeitedition)
Kurt Schwertsik. Die Klavierwerke (Gramola)
Kurt Schwertsik, Porträt (mica – music austria)