Freigeschwommen – Die österreichische Indie-Szene im Porträt

Ein paar verallgemeinernde Beobachtungen über den österreichischen Pop mit Gitarren im letzten Jahrdutzend bzw. die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Eulenexports. Von Robert Rotifer.

Es muss so 2005 gewesen sein, ich war auf Sommerfrische in Wien und hatte mir vorgenommen, zwischendurch wieder eine Sendung aus dem Funkhaus zu machen. Ein paar Monate davor hatte mir das damals noch junge Label Wohnzimmer Records das Debüt-Album ihrer neuesten Entdeckung geschickt. Diese Band namens Velojet war jung, aufgeweckt, zur Hälfte weiblich und männlich, konnte hervorragende Songs schreiben und diese auch noch hervorragend spielen. Wie bei jeder ordentlichen Popband sahen ihre vier Mitglieder auf unerklärliche Weise zusammengehörig aus, so als wären sie alle aus derselben Playmobilschachtel herausgefallen.
Kurz: Sowas wie Velojet hatten wir immer schon nötig gehabt. Sie waren die Erfüllung meiner pop-journalistischen Stoßgebete, zwar kein Jahrzehnt (oder zwei oder vier) zu früh, aber um nichts weniger willkommen.

Ich hatte diese Band also in meine Sendung eingeladen, mit der Bitte, gleich ein paar Platten ihrer Wahl mitzunehmen. In Natura sahen Velojet genauso aus wie erhofft, zuzüglich eines unerwarteten, charmant rustikalen Zungenschlags direkt von der nieder/oberösterreichischen Grenze.
In meinem grenzenlosen Narzissmus gestand ich ihnen meine Befriedigung darüber, dass meine jahrzehntelange Infiltrierung von Äther und Presselandschaft mitgeholfen hatte, den Boden für ihr musikalisches Treiben zu bereiten. Velojet musterten mich mit freundlichem Unverständnis. Um ehrlich zu sein, sagten sie, hätten sie meine Sendung noch nie gehört.
Rote Ohren, ich spür’s jetzt noch.

Jedem Musikjournalisten tut es gut, hin und wieder aus dem Dusel seiner Selbstüberschätzung geweckt zu werden. Aber ich hätte es eigentlich besser wissen müssen. Zur Erklärung warum, bedarf es einer Vorgeschichte über das Verhältnis zwischen Österreich und dem Genre Gitarrenpop (Wir werden noch zu Velojet zurückkehren):
Der in jenem Lande zwischen selbstverachtend dumm-zynischer Zocke auf der kommerziellen und Brechtscher Strenge oder romantischem Katharsis-Kult auf der anspruchsvollen Seite gespaltene Kulturbegriff hat für diese musikalische Nische nämlich noch nie viel mehr als flüchtiges Interesse übrig gehabt. Popmusik, die fast nie im Radio läuft, und die Felder von Glastonbury füllende Refrains in winzigen, halbleeren Clubs sind Widersprüche in sich. Kein Wunder also, dass die österreichische Gitarrenpopfraktion sich – so wie in Japan, den USA und dem Rest Europas übrigens auch – seit jeher gern in die Anglophilie flüchtete, winkte dort doch ein weiter Kosmos, in dem anderswo obskure Figuren wie Edwyn Collins oder Jarvis Cocker unbestrittenen Volksheldenstatus genießen.

Die physische Entfernung zum gelobten Land passt umso besser zum eskapistischen Geist des Pop, genauso wie die elitäre Freude am eigenen Wissen inmitten der Ignoranz der Massen.
Um 2000 herum aber drehte sich – nach Jahren der Flaute auf dem britischen Mutterland – der Wind über dem Erdteil Gitarrenpop. In Großbritannien ließ man sich nicht nur von den Strokes, sondern auch immer öfter von skandinavischen Bands die Idee des von Gitarre, Bass und Schlagzeug betriebenen Pop neu erklären. Die Einbahnstraße des Genres wurde für kurze Zeit zum nach allen Seiten geöffneten Kreisverkehr, mit Österreich in der Position der vom Treiben rundum unberührten Verkehrsinsel.
Michael Steinitz alias Stootsie, ein Salzburger mit Union Jack auf Klodeckel und Türmatte, der schon 1991 seine erste Platte unter dem Bandnamen The Seesaw veröffentlicht hatte, begrüßte das neue Jahrtausend mit einer erfahrungsbedingten Feststellung: „In Österreich geht gar nichts.“ Mit seiner zu diesem Zeitpunkt vierköpfigen Band war er sozusagen aufs Ganze gegangen, hatte drei EPs in einem Jahr veröffentlicht, „und nicht ein einziges Airplay“ erzielt.

Ähem. Ich hatte in meiner FM4-Sendung sehr wohl „Problème Romantique“ gespielt, aber das zählt ja offenbar nicht (siehe oben). Wie auch immer, The Seesaw, die Ende der Neunziger schon London bespielt hatten, warfen ihren Blick nun noch weiter westwärts, und zwar bis nach Los Angeles. Gitarrenfetischist (und -händler) Stootsie hatte bei einem ersten Trip Anfang des Jahrtausends ein paar EPs herumgereicht und fand bei der Heimkehr begeisterte Mails von Kaliforniern vor, die „Probleme Romantique“ im Radio gehört hatten. Wie sich herausstellte, stieß die Anglophilie der Österreicher gerade bei anglophilen Amerikanern auf einige Sympathie. The See Saw fuhren daraufhin dreimal nach Kalifornien, spielten beim ersten International Pop Overthrow, in Becks Hausclub Spaceland und im Troubadour, nahmen einen Song für einen Gene Pitney-Tribute auf und kamen jedes Mal mit ein bisschen mehr Geruch der weiten Welt in den Nasenflügeln zurück nach Salzburg.

Dann wechselten sie den Schlagzeuger, schrumpften auf ein Trio und nahmen einen halb ernst gemeinten Vocoder-Song namens „All The Same“ auf. „Das war nur eine Rumspielerei, wo du dir nichts denkst dabei“, meint Stootsie. Immerhin fand er den Song gut genug, um ihn mir zu schicken, und ich fand ihn gut genug, ihn in meiner Sendung zu spielen. „Ab drei Tage später ist die Nummer dann jeden Tag auf FM4 gelaufen“, sagt Stootsie, „bis hin zur Nummer eins der FM4-Charts.“
Soso, bringt also doch was. „Eine FM4 Nummer eins spricht sich bis Hamburg und Berlin rum. Wir haben die MTV Campus Invasion gespielt, Köln war auch super, das waren wilde Geschichten.“ Deutscher Durchbruch ging sich allerdings keiner aus. „PIAS hat’s eh probiert, aber für das große Land Deutschland muss man schon Geld in die Hand nehmen.“

Der erhöhte Symbolwert dieser Geschichte zwischen Salzburg, L.A. und einem kurzen, aber beherzten Vorstoß über die deutsche Grenze liegt darin, wie wenig bzw. im Grunde gar nicht Wien darin vorkommt. Die Wiege des österreichischen Gitarrenpop liegt (wiewohl Salzburger und Linzerinnen das fraglos anders formulieren würden) eindeutig in der Provinz.

Die Metropole im Leben des jungen René Mühlberger. Sänger und Gitarrist des oben erwähnten Pop-Wunders Velojet, war dementsprechend weder Wien noch Salzburg, sondern Steyr. „Das war so um 2000 herum die volle Pop-Hochburg“, weiß er zu berichten. Im Kraftwerkkeller und in der Baracke Museum Arbeitswelt habe es reichlich Konzerte gegeben- Zunächst „schwere Sachen aus Linz, was mir ned so g’fallen hat“, sowie „die ganzen deutschen HC-Bands“. Und dann kam das Jahr 1995: „The year Deutschpop broke in Steyr“, sagt Mühlberger.
René sah Bands mit anders klingenden Namen wie Nieselregen oder Die Sterne, Nova International  oder Miles bis hin zu „meiner Lieblingsband“ Sharon Stones. Der Höhepunkt von Mühlbergers Teenagerexistenz kam in Form eines Auftritts seiner ersten Band Grainfield als Vorgruppe von Tocotronic, der ihn endgültig als Fan der florierenden Hamburger Schule hinterließ.

Später sollte er in einer deutschsprachigen Formation namens Popserver spielen. Die ursprüngliche Inspiration seiner Bandkarriere kam aber weder aus England, noch Deutschland oder Amerika, sondern aus Kärnten: „Naked Lunch. Die waren riesig damals in in Steyr. Ich war sechzehn, als ich die zum ersten Mal gesehen hab. Vor dem Konzert haben sie überall Flyer verteilt, wo draufgestanden ist: Die berühmteste Popband Österreichs. Wir haben geglaubt, dass das Millionäre sind.“
Anderthalb Jahrzehnte später erreiche ich Oliver Welter von Naked Lunch auf seinem Anwesen in Celovec/Klagenfurt in der freien Stunde zwischen Einkauf und Rückkehr der Kinder aus der Schule. „Wir haben das schon mitbekommen, dass das dort so wichtig war“, sagt Welter, „Für uns war das erstaunlich, aber auch befremdlich, weil wir uns nicht als Heilsbringer sehen wollten. Aber wenn wir in Steyr ein Konzert gespielt haben, sind die Leute aus einem Umkreis von 200 Kilometern gekommen, und irgendwann haben die dann alle angefangen, selber Musik zu machen. An den René Mühlberger kann ich mich erinnern, der ist ein extrem talentierter Typ. Aber ich fand’s dann in dem Sinne fast bedauerlich, weil in dem Moment, wo wir uns davon verabschiedet haben, kamen diese Bands eben schon zu spät an.“

Der Abschied, den Welter meint, ist der vom traditionellen Format der Gitarrenband. Mitte der Neunziger Jahre waren Naked Lunch als eine solche nach London gegangen und hatten sich dort einen Deal bei Mercury Records erspielt, aus dem ihre beiden Alben „Superstardom“ (1997) und „Love Junkies“ (1999) hervorgingen. „Da war Britpop in seiner Blüte“, erzählt Welter, „Aber dann ging’s relativ schnell darnieder, und vor allem aus Amerika kam nichts nach. Mir hat in London eigentlich alles besser gefallen als Gitarrenmusik.“
Welter hat aus jener Zeit heute noch „eine riesengroße House- und Techno-Plattensammlung zuhause, die ich nie anrühre.“ Trotzdem trugen die elektronischen Erfahrungen, die Naked Lunch in den Londoner Clubs gesammelt hatten, zu jenem grundsätzlichen Wandel ihres Sounds bei, den sie 2004 – nach Österreich zurückgekehrt – mit „Songs for the Exhausted“ vollzogen: „Es gibt gar keinen ideologischen Unterbau dazu. Die neuen Medien veränderten einfach alles. Bis dahin hatten wir analog aufgenommen, und dann kam der Rechner. Du musstest keine drei Minuten lang einen Gitarrenpart durchspielen, stattdessen hast du zum Beispiel dein Gitarrensignal verfremdet.“’

Tatsächlich verschwand mit dem Wachsen der Festplatten und Arbeitsspeicher der Begriff des Samples in der potenziellen Grenzenlosigkeit digitalisierter Musikpassagen. Die Befreiung der Elektronik von ihrem Zwang zum Loop und zu programmierten Mustern im Arrangement-Raster des Metronoms eröffnete analog verwurzelten MusikerInnen im Studio, und später auch auf der Bühne, völlig neue Optionen. „Wir haben uns freigeschwommen“, sagt Welter bildhaft. Und so gelangte die Musik seiner Band an einen Punkt, an dem man sich fragen mag, was Naked Lunch überhaupt in einem Artikel über Gitarrenpop zu suchen haben.
„Journalisten von vermeintlich niveauvollen Blättern schicken bei Interviews immer  entschuldigend voraus, dass sie uns als Popband sehen“, sagt Oliver Welter, „Dabei war für mich Popmusik immer das größte. “
Siehe eingangs erwähnte Verschmähung des Pop im deutschsprachigen Feuilleton, paradox bestätigt durch spasmisch selektives Gutfinden gewisser Mainstream-Phänomene und den Wunsch, zwischendurch für die Inserenten ein bisschen was Knalliges zu bringen. Ohne echte Wertschätzung für das Sujet. „Und das nach 50 Jahren Popkultur“, wundert sich Welter, „Die vermeintliche Coolness, die Pop offenbar nicht hat, das versteh ich nicht, da fehlt mir vielleicht ein Gen dazu.“

Ich teste an ihm meine These vom Gitarrenpop als Provinzprodukt aus – im Gegensatz etwa zum in Wien gern kultivierten Avantgarde-Gestus, der die Existenzberechtigung im Kunstigen sucht und in regelmäßigen Zyklen den jeweils neuen Szenekonsens ausgibt. „Das Eskapistische“, bestätigt Welter, „kann man in der Provinz gut züchten und nähren.“ Nicht zufällig kamen schließlich auch Naked Lunch „aus einer Enklave, wo wir die ganzen Strömungen nur über die Medien mitbekommen.“ Der Vorteil dieser Isolation ist die Möglichkeit, die eigene Band als unumstrittenen Weltmittelpunkt zu sehen. So großmütig Oliver Welter heute über seine Kollegen sprechen mag, Naked Lunch waren in René Mühlbergers Erinnerung nicht ohne Grund „die berühmteste Band Österreichs.“ Sie maßten sich diesen Status an, so wie das nur Leute können, die selbst an die Verheißung des Pop glauben.

Ihre nachhaltigste Bedeutung erlangte die Kärntner Band allerdings bezeichnenderweise nach ihrer Popstar-Phase, indem sie sich von der angloamerikanischen Vorlage der Popsongs spielenden Rockband lösten und begannen, das zu spielen, was Welter „eine Art mitteleuropäischen Blues“ nennt. „Ich halte es für unmöglich, aus diesen Breitengraden zu kommen und mit englischsprachigem Gitarrenpop Erfolg zu haben“, sagt er. „Weil das die Briten auch besser können.“

Er hat natürlich recht. Selbst wer als Nicht-Brite alle Nuancen anglophilen Gitarrenpops perfekt hinkriegt, wird letztlich immer noch Blaupausen produzieren. Österreich war immer schon ein großartiger Standort für technisch exzellente Bands, die geradewegs in die Falle der Belanglosigkeit des Alles-Richtig-Machens laufen. Trotzdem ist der Niedergang jeder These über Pop dessen hartnäckige Tendenz zur Widerlegung von Thesen.
Das dachte ich mir zumindest, als ich jüngst im Londoner Old Blue Last die österreichische Band Mile Me Deaf ihr britisches Publikum mit zutiefst angloamerikanischer Musik verblüffen sah.

„Mir kommt’s schon vor, dass man das immer eingetrichtert kriegt“, meint Mile Me Deaf-Chef Wolfgang Möstl auf die Frage nach der vermeintlichen Sinnlosigkeit des Eulen-nach-Athen-Tragens, „Aber irgendwie lösen sich diese Grenzen auf. Durch das Internet kann man seine Einflüsse überall hernehmen, egal, wo man selber ist.“

Als ich mit Möstl telefoniere, sitzt er gerade in seinem Zimmer in Wien und schreibt einen Song für das neue Mile Me Deaf-Album (obwohl er eh schon 25 im Köcher hat). Seine Geschichte beginnt allerdings so wie alle hier in der Provinz, genauer gesagt im steirischen Weiz, das sich erst seit 80 Jahren eine Stadt nennen darf.
Möstl hörte in seiner Kindheit viel Pink Floyd, Beatles und Nirvana. Sonic Youth entdeckte er über deren Gastauftritt bei den Simpsons, kurz vor ihrem Kurswechsel mit „NYC Ghosts & Flowers“. Pavement lernte kennen, just als sie sich auflösten: „Ich hab mir gedacht: Voll schad, es macht keiner mehr sowas wie früher. Es gibt überhaupt keine Rockbands mehr.“

Ein guter Anlass, die Musik, die man hören will, gleich selbst zu machen. Gegen Ende 2000 borgte Möstl sich vom Nachbarn eine E-Gitarre aus und experimentierte daheim mit Feedback und anderen Geräuschen herum. „Da hat mir meine Mutter nahegelegt, dass das vielleicht doch nicht das Richtige ist, das Gitarre spielen.“ Der Vater, ein alter Psychedeliker, fand dagegen durchaus Gefallen an des Sohnes Zeitvertreib, und bald probte im Elternhaus jene Band, die wir später als Killed By 9V Batteries kennenlernen sollten.

Das Jahr 2001 verbrachte Wolfgang Möstl vor allem damit, mit der Gitarre auf dem Bauch den Kabelsender VIVA2 anzusehen. Die Strokes waren gerade dabei, den Typus Gitarrenband vor dem Aussterben zu retten. „Aber die Band, die mich bei weitem mehr interessiert hat, waren die Moldy Peaches.“ In Weiz machten sich die Batteries bald einen Namen als von sämtlichen Metal-Bands rundum belächelte Außenseiter. „Wir waren schon die ärgsten Exoten, weil wir in eine Grunge-igere Richtung gegangen sind“, erklärt Möstl.

Während seiner Zivildienstzeit im Jahr 2005 nahmen die Batteries Demos auf, die Möstl schließlich rein pro forma an fünf Labels schickte, „weil das Demo-Ausschicken zur Geschichte jeder gescheiterten Band gehört.“
Eines der bemusterten Labels war Siluh Records in Wien. Die Band hatte irgendwo gelesen, dass der Schauspieler Robert Stadlober ein Label gegründet hatte, „und wir haben das lustig gefunden.“

Die Demos ernteten unerwartete Bekundungen der Begeisterung von Siluhs Seiten, und Killed by 9V Batteries fuhren zur Verbrüderung mit ihren neuen Freunden nach Wien: „Wir waren völlig auf einer Wellenlänge.“
Nach ihren ersten Gastspielen in der Hauptstadt bekamen die Batteries von den dortigen Musikjournalisten und Szenemenschen zu hören, dass ihre Musik überholt sei. „Das war für mich komplett neu, damit hatte ich mich nie beschäftigt“, meint Möstl.

Nachdem er sich mit seiner Stammband, aber auch mit Sex Jams und Mile Me Deaf, bzw. als Produzent von Die Eternias, Destroy Munich, Plaided, The Boys You Know und Girlfriend unüberhörbar gemacht hat, wird Möstl mittlerweile als die Koryphäe des österreichischen Noise-Pop gehandelt. Der britische Blog The Line of Best Fit nennt ihn „the genius you’ve never heard of“, und Artrocker prophezeit: „Soon he may have to cope with more than being big in Austria.“ Zur Ehrenrettung seiner früheren Kritiker sei festgestellt, dass der Pop-Aspekt in Möstls Schaffen sich erst in der jüngeren Vergangenheit unter dem Noise hervorgekämpft hat.

Bei den Batteries hatte er früher „mit nervigen Geräuschen“ gegen den Pop in der eigenen Musik gearbeitet. Erst auf ihrem 2011 erschienenen letzten Album „The Crux“ entdeckte die Band die Freude daran, „wenn’s cheesy wird.“ Möstl bekam Lust, richtige Songs zu schreiben, anstatt sie – wie bei den Batteries üblich – aus freien Jam-Sessions entstehen zu lassen. Daher die Gründung von Mile Me Deaf, die sich mittlerweile mit Florian Seyser und Rudi Braitenthaller von den Sex Jams an Bass und Schlagzeug zu einer ordentlichen Band ausgewachsen haben. Zum Zeitpunkt meiner Deadline stehen Mile Me Deaf gerade vor ihrer nächsten Reise durch Europa, die sie auch wieder nach London führen wird.

René Mühlberger und Velojet stellen wiederum gerade ihr nächstes Album zusammen, das sie mit dem Produzenten Magnus Henriksson auf der finnischen Insel Aaland aufgenommen haben. „Um den Wahnsinn zu finanzieren“, musste René seine schönste alte Vespa verkaufen. Die Musik war ihm das allemal wert.
Stootsie von The Seesaw ist heutzutage solo und als musikalischer Begleiter und Ko-Produzent seiner Freundin, der Salzburger Songwriterin Mel, unterwegs. Und Naked Lunch werden im Februar beim deutschen Label Tapete Records ihr nächstes Album veröffentlichen.

In der Kombination ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede scheinen mir diese vier Geschichten aus Steyr, Salzburg, Klagenfurt und Weiz halbwegs typisch dafür, wie sich die mit Gitarren gespielte Popmusik im vergangenen Jahrdutzend in Österreich entwickelt hat.

Teils relativ ähnliche und teils wieder völlig andere Geschichten ließen sich über an völlig verschiedenen Enden des Gitarrenpopbegriffs beheimatete (Ex-)Burgenländer wie Bo Candy & His Broken Hearts, Zeronic, Garish oder Ja, Panik! erzählen. Oder über die (bis auf den Simmeringer Sänger) aus Niederösterreich nach Wien gezogenen A Life, A Song, A Cigarette. Oder über Oberösterreicher wie die Beth Edges, Bilderbuch und die alten Shy bzw. die zwischen Steyr, Linz und Wien geborenen Kreisky, ihres Zeichens Velojets Labelkollegen beim für den Gitarrenpop der Nullerjahre so wesentlichen Label Wohnzimmer Records neben den Staggers, Petsch Moser, One Two Three Cheers A Tiger und neuerdings Destroyed But Not Defeated, von denen sich direkte Verbindungen bis zur Neunziger-Band Litterbox und dem Spezialfall Heinz, andererseits aber auch zu den Lemonheads ziehen lassen.

Über zu Unrecht Vergessene wie Bell Etage und Hotel Prestige, über Unermüdliche wie Bernhard Schnur (einst von Snakkerdu Densk), Aber das Leben lebt oder Echophonic. Über Parade-Anglophile wie die Curbs oder Freud. Über Einwanderer wie Trouble Over Tokyo, notorische Pendler zwischen den Nationen wie Bensh oder Gary und Auswanderinnen wie Lonely Drifter Karen – inklusive Tanja Frintas Vorgeschichte bei Holly May. Über Luise Pop und M185, Just Friends and Lovers, Francis International Airport, Kommando Elefant und Contrails, die nun wirklich nicht viel mehr als die Verwendung von Gitarren, Bass und Schlagzeug eint.

Oder über das in den letzten Jahren aufgekommene, unter äußerster Dehnung des Hilfsausdrucks zum Gitarrenpop zählbare Revival des Trash-Pop und Garage Beat, dem sich auf ihre Weise die frankophilen Mopedrock!!, Black Shampoo, Happy Kids oder die Klagenfurter Beat Beat zurechnen ließen.
Dem Rock’n’Roll-Fundamentalismus letzterer kann übrigens auch Oliver Welter einiges abgewinnen: „Die machen das lässig so. Die sind total kauzig, totale Nerds, denen würde man alles verzeihen. Wenn man sich 2012 ausschließlich auf MC5 und die Stooges beruft, als wäre die letzten 45 Jahre nichts passiert, dann hat das schon wieder was.“

Schon überhaupt wegen eines bisher hier unerwähnten Startvorteils: Ist der Gitarrenpop im angloamerikanischen Raum zum Wiederholen des bereits Errungenen verdammt, so kann eine Band wie Beat Beat mit ihrem puristischen Retro-Sound im Raum Klagenfurt historisch gesehen immer noch als erste dran sein, weil sie Wurzeln aufgreift, die es dort möglicherweise nie gab. So gesehen steht die Zukunft dem österreichischen Gitarrenpop weit offen. Nichts anderes wollten wir hören.

PS: Wie war das gleich mit der Neigung des Pop zur Widerlegung aller Thesen? Jene von der Provinz als idealer Nährboden für Gitarrenpop ist natürlich völlig hinweggefegt, wenn man Ginga bzw. neuerdings Gin Ga hernimmt, die einander seit ihrer gemeinsamen Schulzeit in Wien Landstraße kennen. Obwohl es dort auch eine Art Provinz zu finden gibt, vor allem wenn man, so wie Gin Ga so völlig außerhalb des Szene-Klüngels operiert, dass man aus dem scheinbaren Nichts als fertiges Paket vor dem erstaunten Publikum erscheinen kann.
Im Grunde genommen ist die wahre Provinz sowieso der Szene-Klüngel.


Foto Velojet: Ingo Pertramer
Foto Stootsie: Stootsie
Foto Naked Lunch: Ingo Pertramer
Foto Mile Me Deaf: www.siluh.com
Foto Ja, Panik: Christoph Voy