Wer ELISABETH FLUNGER in ihrem Proberaum besucht, findet ein metallisches Sammelsurium vor. Bleche, Rohre und Metallplatten türmen sich im Souterrain. Die Patina des Kaputten, des nicht mehr Genutzten und von ihr zu Klang Gebrachten schwingt mit. Seit über 30 Jahren scheppert es in ihrer Welt – einst auf richtigen Instrumenten, seit langer Zeit auf Dingen, die andere ausrangiert oder verloren haben. FLUNGER, das merkt man, ist nicht nur Perkussionistin und Klangkünstlerin, sondern auch Sammlerin. Am Schrottplatz sei sie zwar schon lange nicht mehr gewesen. Seltene Fundstücke wie metallische Radkappen faszinieren sie aber nach wie vor. Wie Schrott klingen muss, warum man bunte Murmeln in Kilo-Säcken kauft und eine Sammlung an Hörschäden vertont, hat ELISABETH FLUNGER im Gespräch mit Christoph Benkeser erklärt.
Du hast vor Kurzem deine Tinnitus-Szenen in Wien ausgestellt.
Elisabeth Flunger: Ich wollte für die Ausstellung im echoraum eigentlich neue Szenen produzieren, weil ich in Wien auf immer mehr Musiker*innen treffe, die einen Tinnitus haben. Aber in letzter Zeit hat es einen Rückstau an Arbeit gegeben, weshalb ich das nicht geschafft habe. Allerdings haben sich während der Ausstellung im echoraum wieder einige gemeldet …
Die sich ihren Tinnitus von dir vertonen lassen wollen.
Elisabeth Flunger: Die mir von sehr interessanten Tinnituserfahrungen erzählt haben. Am liebsten würde ich so eine Ausstellung wieder bei einem bei einem Festival für experimentelle Musik machen und alle Tinnitusklänge vertonen von den Leuten, die dort arbeiten. Das wäre lustig. Diese Klänge werden ja in der experimentellen Musik rauf und runter gespielt. Drones, Rauschen, Zischen, Klicken, Störgeräusche. Tausendmal gehört, vor allem in der elektronischen Musik. Auch von Instrumentalist*innen und Komponist*innen werden diese Klänge gesucht und erforscht.
Auf das Konzept bist du aber gekommen, weil du selber einen Tinnitus hast, oder?
Elisabeth Flunger: Auf dem rechten Ohr, ja. Das hat hier, in diesem Proberaum, begonnen – eines Tages habe ich nach dem Üben ein tiefes Rumpeln gehört. Wenn man trommelt, spielt man oft laut. Beim Drumset sind rechts die tiefen Trommeln. Vielleicht hat das schon während des Studiums bei den Pauken begonnen. Das war manchmal unfassbar laut und intensiv.
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Ein verzögerter Kollateralschaden.
Elisabeth Flunger: Das tiefe Rumpeln im Ohr hat aber erst hier im Proberaum begonnen. Anfangs dachte ich, die Waschmaschine der Nachbarin läuft …
Bis du registriert hast, dass sie doch nicht läuft?
Elisabeth Flunger: Und dass sie überall hin mitkommt! Das Rumpeln hör ich nur, wenn es ruhig ist – dafür aber seit 25 Jahren. Am Anfang fragst du dich natürlich die schlimmsten Dinge: Sollte ich mir einen neuen Beruf suchen? Bin ich in ein paar Jahren taub? Wie Beethoven? Der hörte vor seiner Ertaubung unterschiedliche Geräusche in seinen Ohren. Er schreibt in einem Brief, es saust und braust.
Bei dir hat sich der Tinnitus bisher nicht verschlechtert?
Elisabeth Flunger: Nein, im Gegenteil, er ist leiser geworden. Ich stresse mich jetzt weniger, und ich verwende den Gehörschutz, wenn es laut wird. Heute kriegst du bei lauten Konzerten Ohrenstöpsel angeboten, aber damals in den Achtzigern, als ich studierte, war das kein Thema. Ich kann mich noch erinnern, nach einem Konzert saß ich mit Freunden in der Küche, und wir wussten nicht, ob der Kühlschrank summt oder unsere Ohren.
Und wie hast du dich mit deinem Tinnitus arrangiert?
Elisabeth Flunger: Manche Leute versuchen es mit Therapien, das habe ich nie gemacht. Ich arbeite an meinen Verspannungen, das hilft. Außerdem ist es stark vom Stress abhängig, wie laut ich ihn wahrnehme, wenn ich am Abend im Bett lieg.
Das ist genau die Situation, an ich denken muss. Am Abend, im Bett, und …
Elisabeth Flunger: Dann hörst du Dinge, die du nicht hören willst, genau! Das ist nicht gut.
Nicht grad.
Elisabeth Flunger: Ich schlafe eh schon so schlecht, auch ohne den Tinnitus. Mich stören auch die Geräusche von außen, und das Licht. Im Moment habe ich aber ein tolles Desensibilisierungsprogramm dagegen.
„DAS IST KEIN TINNITUS, DIE AMSELN SIND SCHON ECHT.“
Was desensibilierst du?
Elisabeth Flunger: Ich habe schon die unterschiedlichsten Dinge ausprobiert gegen die Schlaflosigkeit. Es gibt leichte Schlafmittel mit Melatonin und Baldrian, die sind ganz OK. CBD-Öl hat leider nicht so verlässlich gewirkt. Inzwischen lass ich einfach das Fenster offen. Es kommen die Geräusche rein und ich akzeptiere sie und freunde mich mit der Welt an. Auf der Straßenseite mit den Autos wäre das natürlich schwierig. Mein Fenster geht aber zum Glück Richtung Innenhof. Seit ein paar Monaten höre ich immer eine Amsel, die noch in der Nacht beginnt herumzuflöten. Inzwischen hat sie auch Nachwuchs bekommen. Jetzt singt nicht nur die Amsel, sondern auch die Jungen piepsen mit.
Aber du bist dir sicher, dass es die Amseln gibt?
Elisabeth Flunger: Das ist kein Tinnitus, die Amseln sind schon echt!
Gut, das ist dein Desensibilisierungsprogramm. Aber wenn ich mir das so anhöre, schläfst du deswegen auch nicht besser, oder?
Elisabeth Flunger: Hör ich den Vögeln zu, geht’s mir besser, als wenn ich in der Stille aufwache, mich langweile und nicht mehr einschlafen kann.
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Du hast mir vor dem Gespräch geschrieben, dass du demotiviert seist. Wollen wir darüber sprechen?
Elisabeth Flunger: Ja, demotiviert bin ich nicht erst seit Corona. Davor war mir das nicht so bewusst. Seit ein paar Jahren bin ich bei der Initiative mitderstadtreden aktiv. Wir kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen im Musikbereich. Da wurde mir erst klar, wie belastend das Leben in der Prekarität ist und wie lächerlich niedrig die Honorare sind. Ich hatte das immer als normal hingenommen. Und ich hatte immer so viel zu tun, und was ich zu tun hatte, war erfüllend genug, dass ich es nicht hinterfragt habe. Aber mit Corona fiel alles aus und ich fragte mich: was jetzt? Es war Frühling, ich bin jeden Tag Fahrrad gefahren. Und ich habe eine neue Bewegungslehrerin gefunden, die über Zoom unterrichtet hat.
Du bist also keine Fit-mit-Philip-Epigonin!
Elisabeth Flunger: Bitte, wer?
Das Bewegungsphänomen des ORF. Der turnt im Morgenprogramm und das halbe Land turnt mit.
Elisabeth Flunger: Ist das die neue Ilse Buck?
Quasi. Aber das ist ja schon urlang her!
Elisabeth Flunger: Ich habe das ja nie geschaut. Als Kind habe ich aber im österreichischen Fernsehen oft die Ski-Gymnastik gesehen. Dabei bin ich gar nicht Ski gefahren!
Als geborene Südtirolerin grenzt das ja an Blasphemie.
Elisabeth Flunger: Ja sicher, aber ich wollt halt nicht. Der Kinderskikurs war immer in den Weihnachtsferien. Da musste man um sieben den Skibus erwischen, um dann um neun auf der Piste zu stehen und den ganzen Tag Ski zu fahren. Das war nichts für mich. Ich wollt mich ausschlafen und die Bücher lesen, die ich zu Weihnachten bekommen habe. Aber doch nicht in aller Früh bei Dunkelheit und Kälte mit den Skiern losmarschieren!
In den Ferien noch dazu!
Elisabeth Flunger: Außerdem war der Abschluss immer ein Rennen. Das wollte ich auf keinen Fall: ich wusste schon, ich werde letzte, so wie beim Laufen immer, und dann werde ich vielleicht wieder ausgelacht – als Zuagroaste hatte ich es nicht immer leicht mit den anderen Kindern. Natürlich hätte man auch einfach aus Spaß runterfahren können, ohne sich zu messen. Aber auf die Idee kommt ja niemand, das ist nicht vorgesehen.
Der Wettbewerb hat dich also nie interessiert?
Elisabeth Flunger: Ich war nie besonders ehrgeizig oder sportlich, was die Teilnahme an Wettbewerben nicht besonders sinnvoll macht.
Und in der Schule? Das war damals bestimmt auch schon ein gewisser Wettbewerb, oder?
Elisabeth Flunger: Natürlich entsteht durch die Ziffernnoten eine kompetitive Situation. Alles was du in der Schule macht wird messbar und vergleichbar. Leider hat der österreichische Staat die Noten in Volksschulen wieder verpflichtend eingeführt, das finde ich schade. Aber stell dir vor, in Frankreich gibt es sogar öffentliche Ranglisten. In der Klasse hängt eine Liste, in der die Kinder in der Reihenfolge ihres Notendurchschnitts stehen. Für alle Fächer gibt es Wettbewerbe, auch regional und national. Mir tut das weh, wenn ich daran denke, dass die Kinder nach ihren Leistungen aufgelistet werden. In Luxemburg, wo ich mit meiner Familie einige Zeit gewohnt habe, ist es nicht so arg, weil dort so viele Nationalitäten aufeinandertreffen und es stärker um den Aspekt der Sprache geht. In dem Dorf, wo wir wohnten, lebten Menschen aus über 50 Nationen. Deutsch, Französisch und Luxemburgisch sind die wichtigsten Sprachen, die alle in der Schule lernen müssen.
Hast du Luxemburgisch gelernt?
Elisabeth Flunger: Ich habe es nicht geschafft. In dem Kurs, den ich besucht habe, bin ich immer eingeschlafen. Es war für mich urfad, weil ich durch das Deutsche einen großen Vorsprung hatte gegenüber all den anderen Teilnehmer*innen, die kein Deutsch konnten. Die Notwendigkeit, Luxemburgisch zu lernen war nicht so groß, weil eh alle entweder deutsch oder englisch sprechen – irgendwann habe ich es aufgegeben.
Oje.
Elisabeth Flunger: Ich hätte mich schon mehr bemühen können. Französisch habe ich auch nie gut gelernt. Es läuft halt nicht alles immer nach Plan.
Muss es auch nicht. Du bist trotzdem zehn Jahre dortgeblieben, oder?
Elisabeth Flunger: Elf sogar! Von 2005 bis 2016.
Elisabeth beginnt mit ihren Fingern am Tisch zu kratzen und zu trommeln.
Elisabeth Flunger: Jetzt kratz ich da vor deinem Recorder herum!
Ich denk mir schon die ganze Zeit, wir sitzen umringt von lauter Instrumenten und Gegenständen, eigentlich sollte man …
Sie greift hinter sich in eine Box und zieht eine Glocke heraus. Es bimmelt.
Elisabeth Flunger: Es gibt eine eigene Industrie, die neue Klang-Produkte auf den Markt bringt, die von Perkussionisten gekauft werden. Und viele kleine Hersteller, Handwerker und Klangforscher, die ständig neue Erfindungen produzieren, und Verbesserungen und Varianten von existierenden Instrumenten.
Das Dilemma des Perkussionisten: Was lässt sich noch alles schlögeln?
Elisabeth Flunger: Ja sicher! Schau, das ist urlaut!
Elisabeth schwingt eine metallische Rassel, es scheppert laut…
Elisabeth Flunger: Ich kauf aber schon lang nichts mehr im Schlagzeuggeschäft – auch weil ich irgendwann auf Schrott umgestellt habe.
Wieso eigentlich?
Elisabeth Flunger: Ich kam an den Punkt, an dem ich mich total reduzieren musste. Ich habe nach dem Studium komponierte zeitgenössische Musik gespielt, auch viel solo. Da braucht man viel Equipment. Mehrere Sets für ein Konzert aufzustellen, war schon eine Herausforderung für sich. Eine Möglichkeit der Reduktion war die Improvisation. Es war befreiend, sich das Instrumentarium selber auszusuchen und nicht von Komponist*innen vorgeschrieben zu bekommen. Mein Set bestand am Anfang aus einem Gong-Ständer, sechs Trommeln, Becken, einem Tisch mit Spielzeug und Metallobjekten, aber auch das wurde mir bald zu viel. Das Metallzeug wurde immer interessanter. Es war frei in der Anwendung, und es war nicht mit Klischees belastet. Ich lege alles auf einen Tisch und muss keine Ständer schleppen – und alles geht in einen Koffer! Ich schlage nicht so viel mit Stöcken auf die Objekte, sondern manipuliere die Objekte selbst. Dabei passiert auch viel Zufälliges und Unvorhersehbares, was in der Improvisation sehr gut ist. So bleibt man wach. Jetzt verwende ich ausnahmsweise wieder einen Gongständer, aber nur vorübergehend für ein Projekt.
Du hast quasi Metall herumgeschleppt.
Elisabeth Flunger: Ja, ich bin oft auf Schrottplätze gegangen. Und ich kriege oft Dinge geschenkt.
Wie entscheidest du, welcher Schrott für dich spielbar ist?
Elisabeth Flunger: Klang, Optik und Gewicht müssen passen. Es gibt Teile, die sehr gut klingen, aber sehr schwer sind. Das ist unpraktisch. Schlecht sind scharfe Kanten, an denen man sich schneiden kann. Es braucht eine Mischung aus resonierenden und nicht resonierenden Dingen.
Elisabeth steht auf, um dem Autor ihren Gong-Ständer zu zeigen. Da hängen Gongs, Gitterroste, eine Mistgabel, viel verbeultes Etwas und eine sehr schwere Metallplatte.
Elisabeth Flunger: Ich habe einmal eine alte VW-Radkappe auf der Straße gefunden. Die war aus Metall und ganz plattgedrückt. Irgendwann habe ich sie aber verloren. Inzwischen gibt es leider keine Radkappen aus Metall mehr, man findet nur noch welche aus Plastik.
„WENN ICH MEINE SACHEN LIEGENLASSE, WERDEN SIE WEGGESCHMISSEN.“
Moment, wie verliert man bitte eine Radkappe?
Elisabeth Flunger: Manchmal lasse ich Sachen nach dem Konzert versehentlich liegen, oft fallen sie während des Spielens runter und rollen weg, und dann finde ich sie nicht mehr. Einmal habe ich beim Ausladen zwei Taschen neben dem Auto abgestellt und vergessen … Später war das Zeug weg.
Weil es jemand als Müll registriert und wegwirft?
Elisabeth Flunger: Das ist das Problem! Wenn ich meine Sachen liegenlasse, werden sie weggeschmissen. Ich gebe mir immer große Mühe, den Krempel beisammen zu halten, aber es gelingt mir nicht.
Wieder kratzt Elisabeth mit ihren Fingern am Tisch.
Elisabeth Flunger: Zwischendurch mach ich mit meinen Dingen auch eine Murmelbahn. Da brauch ich nicht nur eine schiefe Ebene, sondern auch viel Zeugs.
Diese Arbeiten gefallen mir besonders gut. Auch weil es unheimlich befriedigend ist, sich das anzuschauen.
Elisabeth Flunger: Jelle Bakker, ein Holländer, hat sogar ein Murmelbahnmuseum aufgebaut. Ein Murmelbahnvollprofi sozusagen!
Eine Passion für die Murmelbahn!
Elisabeth Flunger: Ja, er lädt auch schöne Videos bei YouTube hoch. Zum Beispiel von seinen Marbelympics, für die er verschiedene Wettbewerbe erfindet. Es sind verschiedene Arten von Strecken, die er baut, um bunte Murmeln hinunterzujagen. Ein großartiger Sprecher kommentiert das dann wie bei einem echten Sportereignis, es gibt Tribünen mit tobendem Murmelpublikum – ich sags dir, das ist so spannend wie richtiger Sport!
Wahrscheinlich sogar besser.
Elisabeth Flunger: Ja, dabei verwirklicht es die ganze Absurdität des Wettbewerbsgedanken. Trotzdem ist es genauso spannend wie ein richtiger Wettbewerb. Man fragt sich: Was ist besser an der roten Murmel? Und was ist mit der Gelben, dass sie langsamer und ungeschickter rollt? Liegt es am Gewicht, an der Form? Ist es Zufall? Bei meinen Murmelbahnen ist das ganz anders, es geht nicht um Schnelligkeit oder Präzision, sondern vor allem um den Klang. Es geht um Klangfarben und Texturen, die vor allem durch die Größen und Materialien der Bälle bestimmt werden. Wichtig ist auch, wie viele es sind.
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Ja, bei deiner Murmelbahn muss es ordentlich scheppern.
Elisabeth Flunger: Deshalb habe ich mir im Internet ein paar Kilo kleine Murmeln gekauft, Steinkugeln, Golfbälle, Holzkugeln, Flummis. Ausrangierte Billardkugeln und Tennisbälle kriege ich manchmal sogar geschenkt. Ich kann also aus dem Vollen schöpfen, damit es ordentlich prasselt und tuscht.
Das Schöne ist: Du kippst die Murmeln in die Bahn, sie rollen von selbst …
Elisabeth Flunger: Und alle sind glücklich! Wenn ich sonst Musik spiele, gefällt das bei weitem nicht allen… Bei der Murmelbahn sind immer alle ausnahmslos zufrieden. Das ist Balsam für die Seele der experimentellen Musikerin.
Weil das Projekt einen spielerischen Zugang hat?
Elisabeth Flunger: Und weil es nicht vorherbestimmbar ist. Es ist immer spannend, und es geht immer gut aus, egal was man macht.
Unten landen die Murmeln immer.
Elisabeth Flunger: Oder auch nicht. Manche bleiben stecken.
Aber so ist das Leben. Deine anderen Live-Projekte sind da vielleicht weniger zugänglich.
Elisabeth Flunger: Bei experimentellen Festivals ist oft der Jazz-Gedanke präsent. Da wird dann Powerplay und Höhepunkt erwartet. Das sind Dinge, die kann man ganz einfach tun, wenn man will, aber das wollen nicht alle Leute, mit denen ich zusammenspiele. Man erzeugt vielleicht lieber eine große Spannung und Differenzierung im Kleinen. Die Entladung fehlt dann aber manchen im Publikum. Wenn du verhaltener spielst, kann es vorkommen, dass man dich dafür sogar kritisiert.
Schon spannend, dass bei experimentellen Festivals oft ein Publikum anzutreffen ist, das sich von vermeintlichen Experimenten gar nicht mehr abholen lässt.
Elisabeth Flunger: Sara Zlanabitnig, die den echoraum organisiert, hat zuletzt etwas Spannendes über das dort stattgefundene Festival Shut Up and Listen! gesagt. Es sind unterschiedliche Gruppen von Zuhörer*innen gekommen, Fans der verschiedenen Formationen, die da gespielt haben. Das experimentelle Publikum sei der nicht-experimentellen Musik weniger aufgeschlossen gewesen als das nicht-experimentelle Publikum der experimentellen Musik, meint Sara.
Das ist interessant.
Elisabeth Flunger: Man hat gewisse Erwartungen an ein Konzert. Sobald sie nicht eintreffen, ist man unzufrieden.
In Wien ganz besonders.
Elisabeth Flunger: Weil es hier alles gibt! Wäre man irgendwo, wo es nicht so ein großes Angebot gäbe, würde man vielleicht offener damit umgehen. In Luxemburg bin ich zum Beispiel viel öfter in Konzerte mit klassischer Musik und in Popkonzerte gegangen, weil die Musik, die mich interessierte, kaum gespielt wurde.
Es gab keine experimentelle Szene in Luxemburg?
Elisabeth Flunger: Mein Duo-Partner Tomás Tello und ich waren die experimentelle Szene. Dafür gab es eine Jazz- und eine Elektronik-Szene. Letztere war aber weniger experimentell. Ich kannte vor dem Umzug nach Luxemburg ja vor allem die Mego-Sachen. Dort war es dann …
Sehr anders?
Elisabeth Flunger: Viel kommerzieller! Dort versteht kein Mensch, wie jemand auf die Idee kommen kann, etwas zu machen, bei dem von Anfang an klar ist, dass sich damit kein Geld verdienen lässt.
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Alles ist an die ökonomische Verwertbarkeit gebunden.
Elisabeth Flunger: Eine experimentelle Szene aufzubauen, wäre notwendig gewesen, um die Akzeptanz für ökonomisch nicht-verwertbares Tun zu steigern. Aber ich … war selber verunsichert in dieser komischen Situation.
Außerdem lässt sich eine Szene nicht einfach zusammenbasteln, nehme ich an.
Elisabeth Flunger: Ja, das funktioniert nicht. Es müssen die richtigen Leute zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein. Wenn die nicht da sind, kann man nichts aufbauen.
Du hast, wie du vorhin erwähnt hast, elf Jahre in Luxemburg gelebt. Hat sich das in dieser Zeit verändert?
Elisabeth Flunger: Eigentlich nicht. Es gibt ein Haus für zeitgenössischen Tanz, das man mit dem Tanzquartier in Wien vergleichen könnte. Für die Musik hat es aber nie solche Förderungen gegeben. Auch weil die Leute dazu gefehlt hätten. Sogar mit fünf Leuten wäre es zu disparat gewesen. Das Hauptproblem war, dass die meisten sich an der kommerziellen Verwertbarkeit orientieren. Die meisten vielversprechenden jungen Künstler*innen in Luxemburg werden Lehrer oder gehen in die Verwaltung, weil sie da einfach und relativ stressfrei gutes Geld verdienen. Die Lehrergehälter sind die höchsten Europas.
Du hast diesen Weg nicht eingeschlagen. 2016 bist du schließlich zurück nach Wien gezogen.
Elisabeth Flunger: Meine Tochter machte die Matura, mein Mann stieg bei Wien Modern ein – so hat sich das ergeben. Hätte ich in Luxemburg im Kulturmanagement oder in einer Schule einen gut bezahlten Job angenommen, wäre ich jetzt noch dort. Und ein anderer Mensch.
Du bist beim Experiment geblieben. Da weiß man ja zuerst auch nicht, in welche Richtung es geht. Aber man kann sich darauf verlassen, dass es in eine Richtung geht. Man vermeidet den Stillstand – sogar, wenn man sich nach hinten bewegt.
Elisabeth Flunger: Man kann mit der Improvisation schon auf der Stelle treten! Ich habe mich viel mit demselben Setup beschäftigt, es vertieft und neue Spieltechniken erfunden. Aber ist es dadurch etwas Neues? Oder trete ich auf der Stelle?
Du gibst den Dingen, mit denen du improvisierst, immerhin eine neue Bedeutung. Und zwar jedes Mal, wenn du sie benutzt.
Elisabeth schaut den Autor an, ohne etwas zu sagen.
Langweile ich dich?
Elisabeth Flunger: Nein, überhaupt nicht. Ich habe zum Teil auch ganz schlimme theoretische Anwandlungen.
„MANCHMAL REICHT ES, DIE DINGER EINFACH GENAUER ANZUSCHAUEN.“
Bei dir darf es auch konzeptuell sein, ich weiß.
Elisabeth Flunger: Zum Beispiel habe ich mich mit den militärischen Wurzeln des Schlagzeugs beschäftigt und ein paar Stücke komponiert, wo ich versuche, diese Vergangenheit auf der musikalischen und klanglichen Ebene bewusst zu machen. Ein anderes Thema, mit dem ich mich beschäftigen möchte, ist Virtuosität. Das hat für mich viel mit Überlebenskampf zu tun, mit dem Glauben an Technik und Fortschritt, mit dem Wachstumskonzept in der Wirtschaft – womit wir wieder beim Wettbewerbsgedanken sind. Ich spinne mir gern was zurecht.
Dafür muss einem manchmal das richtige Buch zur richtigen Zeit in die Hände fallen.
Elisabeth Flunger: Nicht nur. Manchmal reicht es, die Dinge einfach genauer anzuschauen. Aber Bücher sind schon wichtig …
Es soll ja auch um den provozierten Zufall gehen. Man stößt etwas an, das sich verselbstständigt und zu etwas führt, das man ursprünglich nicht erwartet hätte.
Elisabeth Flunger: Manchmal beginne ich ein Buch zu lesen, bei dem ich mir nichts Bestimmtes erwarte, und finde etwas darin, was ich gut brauchen kann. Ich lese zum Beispiel gerade ein ganz komisches Buch von Pirandello.
Um was geht es da?
Elisabeth Flunger: Es heißt „Uno, nessuno e centomila“, auf Deutsch: „Einer, keiner und hunderttausend“. Darin beschreibt er einen Menschen, der in eine schlimme Identitätskrise stürzt, weil er plötzlich draufkommt, dass er sich selbst ganz anders wahrnimmt als die anderen ihn sehen. Er hinterfragt alle Aspekte der Selbst- und Fremdwahrnehmung, und seine Persönlichkeit spaltet und vernichtet sich andauernd neu. Ich sag dir, es ist uranstrengend!
Das kann ich mir vorstellen.
Elisabeth Flunger: Aber ich kämpf mich durch.
Manche Bücher sind mehr Kraftanstrengung als Genuss.
Elisabeth Flunger: Dabei kann es manchmal so einfach sein. Man wird reingezogen, es ist spannend, das Lesen geht wie von selbst. Bei diesem Roman ist es zwar teilweise lustig, aber auch quälend, diese konsequente minuziöse Selbstauflösung. Es nervt. Trotzdem ist es faszinierend. Leider fehlt mir der leidenschaftliche Zugang, es ist eher eine intellektuelle, beobachtende Beschäftigung.
Die mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet.
Elisabeth Flunger: Weißt du, ich habe lange Zeit Kriminalromane gelesen. Irgendwann musste ich damit aufhören.
Weil?
Elisabeth Flunger: Ich gemerkt habe, dass die meisten Kriminalromane einfach nur blöd sind. Man wird an der Nase herumgeführt, damit sich der Plot ausgeht. Und dann stimmt irgendetwas nicht – es passiert ein Fehler im Ablauf, ein Knick in der Logik, nur damit am Schluss ein Schuldiger gefunden und gefasst wird und alles erklärt werden kann. Zumindest kommt mir das so vor. Ich kann keine spannenden Bücher mehr lesen. Mir ist diese Art zu schreiben zu blöd geworden. Es sind schöne Geschichten. Aber keine Literatur.
Die Frage ist, wie setzt man den Anspruch fest?
Elisabeth Flunger: Das Paradebeispiel ist für mich Harry Potter. Beim dritten Band habe ich gesagt, nein, es reicht! Das sind vielleicht gute Geschichten, spannend erzählt. Aber keine Poetik, die mir zeigt, wie jemand die Welt sieht, wo er/sie sich verortet in der Welt. Das ist es, was mich beim Lesen interessiert. Geschichten alleine sind zu wenig.
Du möchtest gerne mehr Fragen produzieren als beantworten. Das erkenne ich auch in deiner Musik.
Elisabeth Flunger: Schau, als ich in der Schule schreiben gelernt habe, habe ich beschlossen, ein Buch zu schreiben – am ersten Tag habe ich eine Seite vollgeschrieben. Das war schon mühsam, weil ich nicht wusste, über was ich schreiben sollte. Am zweiten Tag war es nur noch eine halbe Seite, den Rest habe ich gezeichnet. Und am dritten Tag habe ich nur noch ein Bild gemalt.
Damit war die Schriftstellerinnen-Karriere beendet.
Elisabeth Flunger: Und heute geht es mir noch immer so. Auch beim Komponieren. Ich bin sehr ungeduldig. Deswegen improvisiere ich lieber.
Damit du dich in den Moment hineintricksen kannst?
Elisabeth Flunger: Ja, schließlich hat das Improvisierte nie Absolutheitsanspruch. Alles Fixierte in einem Buch oder einer Komposition hat den Anspruch, perfekt zu sein. Ich möchte aber, dass die Dinge mehrdeutig bleiben – und auch anders sein könnten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Christoph Benkeser
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Links:
Elisabeth Flunger (Homepage)
Elisabeth Flunger (Wikipedia)
Elisabeth Flunger (mica-Datenbank)
Initiative mitderstadtreden (Homepage)