„Es ist ein Versuch, die Tür zur absoluten Freiheit aufzureißen […]“ – JOHANNES MARIA STAUD im mica-Interview

Den Komponisten JOHANNES MARIA STAUD und den Lyriker DURS GRÜNBEIN verbindet eine intensive Zusammenarbeit und drei Opern. Nach „Berenice“ wird aktuell „Die Antilope“ in einer adaptierten Fassung von der NEUEN OPER WIEN gezeigt (Kooperation mit WIEN MODERN). Darüber hinaus erhielt STAUD einen Kompositionsauftrag der WIENER STAATSOPER. Für das Libretto wurde abermals der Träger des Büchner-Preises DURS GRÜNBEIN engagiert. Ruth Ranacher sprach mit dem gefragten Komponisten über unkonventionelle Gesangslinien, zivilen Ungehorsam und historische Zeitfenster.

Ihre Oper „Die Antilope“ zeigt im ersten Bild eine Firmenparty. Die Hauptfigur Victor hält nach der Rede des Chefs eine Ansprache auf Antilopisch und springt aus dem Fenster. Wofür steht das Antilopische?

Johannes Maria Staud: Das Antilopische steht für die völlige Verweigerung, in erwartbaren sprachlichen Codes zu sprechen. Im späteren Verlauf der Oper stehen wir Victor auch in gänzlich anderen Situationen. Es gelingt ihm jedoch nie, eine echte Kommunikation aufzubauen. Das Antilopische ist gewissermaßen ein Einbruch von Dadaismus, von Experiment in eine durchrationalisierte Welt, ein Hereinbrechen von Poesie. Es steht auch für eine verschüttet geglaubte Emotionalität des Sprechens. Die Antilope ist ein wehrloses Tier. Sie hat viele natürliche Feinde und kann eigentlich nur davonlaufen. Das Surreale gleitet allmählich in die Oper hinein und erwächst aus einem zerrbildhaften Hyperrealismus. Das ist etwas sehr Unzeitgemäßes. Wir – der Lyriker Durs Grünbein und ich – haben uns im Vorfeld dieser Oper stark mit Samuel Beckett beschäftigt. Ziviler, anarchischer Ungehorsam und das Ironisieren sprachlicher Codes fließen mit ein. Die Hauptfigur Victor verstehen wir eigentlich nicht. Das ist das Spezielle.

Und diese Hauptfigur ist einem Stück von Samuel Beckett entlehnt?

Johannes Maria Staud: Die Salonkomödie „Eleutheria“ ist ein frühes Werk von Beckett, das er selbst aber zurückgezogen hat. Darin verweigert die Hauptfigur namens Victor die Kommunikation komplett. Erst am Ende bricht es gewaltsam aus ihm heraus. Am Ende haben wir eigentlich nur den Namen der Hauptfigur und seine Grunddisposition, die Missinterpretationen seiner Umwelt geradezu provoziert, behalten. Wir haben außerdem auch die Versuchsanordnung aus Ionescos „Die Nashörner“ umgedreht: In der Antilope spricht das Menschliche, und nicht das Unmenschliche in einer Fantasiesprache. Unsere Hauptfigur äußert sich in einer uns unbekannten Sprache, kommt aber in eine existenzielle Situation, in der wir plötzlich Victor verstehen. In dieser Szene wird Victor von einer abstrakten Skulptur in einer Fantasiesprache – wir nannten es für uns das „Antilopische“ – angesprochen. Diese Skulpturenszene komponierte ich vorab. Ich wollte wissen, wie ich mit scheinbar sinnlosen Silben umgehe. Wie suggeriere ich einen tieferen Sinn? Für einen Komponisten ist das ein sehr spielerischer Weg, aber es weist über sich selbst hinaus.

Für das Libretto von „Die Antilope“ gab es keine literarische Vorlage. Wovon haben Sie sich inspirieren lassen?

Johannes Maria Staud: Es ist ein Originallibretto mit einer großen Prise Beckett. Daneben ist „Die Antilope“ auch filmisch inspiriert, von Martin Scorseses „After Hours“ beispielsweise. Dieser Film bildet eine kreisförmige Welt und spielt in der Nacht. Die Hauptfigur geht abends aus dem Büro und betritt es am Morgen wieder. Dazwischen erlebt sie eine aberwitzige Nachtreise. Uns war diese Zeitenthobenheit auch wichtig. Eine wirkliche Bezugnahme darüber hinaus gibt es aber nicht.

Sie sagten, dass Durs Grünbein mit wenigen Strichen viel zu sagen vermag. Bitte erzählen Sie uns dazu etwas mehr.

Johannes Maria Staud: Es ist schon eine bewusste Entscheidung, dass ich nicht mit einem Dramatiker zusammenarbeite. Wir beflügeln uns im Gespräch und kommen gemeinsam auf Ideen, auf die wir allein nicht kommen würden. Man spürt stets den Dichter bei ihm, der jedes Wort liebevoll dreht und wendet, und das gefällt mir gut. Im Grunde ist sein Schreiben meist undramatisch, auf Zwischentöne fokussiert. Da ich selbst zur Dramatik tendiere, ist das eine gute Mischung.

„[…] es setzt mich unter Druck, Bedeutung rein musikalisch entstehen zu lassen.“

Welchen Vorteil hat der Einsatz einer Kunstsprache?

Johannes Maria Staud: Es ist ein Versuch, die Tür zur absoluten Freiheit aufzureißen, und es setzt mich unter Druck, Bedeutung rein musikalisch entstehen zu lassen. Es soll uns ja ähnlich gehen wie der Hauptfigur. Die Emotionen in dieser Skulpturenszene werden unbewusst ganz klar. Wir kommen in eine Situation, mit der wir nicht umgehen können, die ins Fantastische verweist. Dafür gilt es, erst einmal ein Instrumentarium zu finden und festzulegen, wie es sich vertonen lässt. Da kommt mir eine Fantasiesprache, eine Sprache, die aus Versatzstücken unbekannter Sprachen, Plansprachen oder phonetischen Spielereien zusammengesetzt ist, sehr entgegen.

In der Neuen Musik wird die Stimme oft anders eingesetzt als im klassischen Gesang. Wie gehen Sie mit den Gesangsstimmen um?

Johannes Maria Staud: Ein Stück ist nicht unbedingt moderner, weil man auf traditionelle Gesangstechniken verzichtet. Was mich interessiert, ist, eine Gesangslinie auch durch Dynamik und Agogik kompositorisch unkonventionell zu gestalten. Wie lässt sie sich mit Errungenschaften der Moderne, wie der phonetischen Komposition, kombinieren? Ich schließe a priori nichts aus. Sängerinnen und Sänger müssen automatisch auch sprechen können und Experimentelles machen können. Sie müssen aber auch absolute Linien singen können. Ich versuche, diese Linien so zu konstruieren, dass sie nie nach Spätromantik klingen. Für Stimme zu schreiben ist auch stets ein Abbau der eigenen Hemmungen, was man darf und was nicht.

Wodurch unterscheidet sich diese Fassung von der Uraufführung 2014 in Luzern?

Johannes Maria Staud: Meine erste Oper „Berenice“, die im Rahmen der Festwochen auch in Wien zu sehen war, habe ich nach der Uraufführung stark revidiert. Nach einer Serie in München, Wien und Berlin straffte ich die Oper für eine Heidelberger Neuinszenierung sehr. Für „Die Antilope“ waren jetzt nicht so viele Eingriffe notwendig. Es gibt für die Produktion der Neuen Oper Wien ein neues Tonband-Zwischenspiel, kleinere Eingriffe in der Orchestrierung und im Text.

Derzeit arbeiten Sie an Ihrer dritten Oper: „Die Weiden“. Darin geht es um eine Reise in das Herz Europas. Wo und wie verorten Sie Europa im Jahr 2017?

Johannes Maria Staud: „Die Antilope“ ist zu einer Zeit entstanden, in der die Welt noch nicht so einen Spin aufgenommen hatte, das weltweite Gespenst des Rechtspopulismus noch nicht so greifbar war wie heute. Es war eine Welt, in der man sich vor allem mit den Auswüchsen des Kapitalismus beschäftigte. Jetzt ist die Zeit eine andere. Die neue Oper ist eine Fahrt in das politische Hier und Jetzt, das uns unter den Fingern brennt. Das wird sich bis zur Uraufführung 2018 sicher noch zuspitzen. Diese Oper wird ein gesellschaftspolitischer Befund einer an Hass, Ressentiment und Heimatdünkel krankenden Gesellschaft im Herzen Europas.

„[…] es soll ja schließlich verstanden werden und auch wehtun.“

Sinngemäß sagten Sie in einem früheren Interview, es sei nicht die Aufgabe des Künstlers, politisches Geschehen zu kommentieren, sondern mit den Mitteln der fantasiebedingten Überhöhung des Zeitgeschehens einen Gegenentwurf anzubieten. Könnten Sie darauf etwas näher eingehen?

Johannes Maria Staud: Wie in „Die Antilope“ gibt es in „Die Weiden“ eine klare, realistische Verankerung in der Jetztzeit. Wenn ich die nicht hätte, würde es mich nicht interessieren. Wenn ich in einer Diktatur leben würde, müsste ich wohl oder übel die Handlung in ein Fantasieland verlegen. Solange ich aber noch in einer Demokratie leben darf, kann ich realistische Elemente mit surrealen, überhöhten oder verzerrenden Bestandteilen kombinieren – es soll ja schließlich verstanden werden und auch wehtun.

„Die Weiden“ ist die Reise entlang eines großen Flusses. Dieser könnte die Donau oder die Elbe sein, aber auch der Kongo oder der Amazonas. Die Tochter von Menschen, die einst aus dem Land am Strom emigrierten, um ihr Leben zu retten, verabschiedet sich von ihren Eltern. Sie hat sich in einen jungen Mann aus dem Land am Strom verliebt und will mit ihm dieses Land bereisen. Die Eltern warnen sie, dort passiere wieder Abscheuliches, sie solle nicht fahren. Die Tochter verwirft diese Warnung und fährt mit ihrem neuen Freund in einem Kanu den Strom entlang. Es ist eine Fahrt ins Herz der Finsternis durch einen zerrissenen Kontinent. Es geht in dieser Oper wieder um Codes. Hier sind es Codes wie Abschottung und Ausgrenzung, wie Geschichtslügen und Nichtlernen aus der eigenen Geschichte. Nach über 2.500 Jahren abendländischer Geistesgeschichte muss man, nach Hannah Arendt, leider immer noch um grundlegende Freiheitsrechte kämpfen. Wir sind wieder an einem Wendpunkt angelangt, wo das Irrationale und das Ressentiment genügen, um identitätsstiftend zu sein. Andrea Moses, die die Regie für „Die Weiden“ übernommen hat, ist Spezialistin für heikle Stoffe. In Berlin hat sie vor Kurzem die „Meistersinger“ in einem Pegida-Umfeld neu inszeniert. Sie hat ein tolles Dramaturgie-Team im Hintergrund, das sie berät, querliest und uns allen, auch Durs und mir, unbequeme Fragen stellt. Es muss wirklich auf den Punkt kommen, das ist uns allen wichtig.

„[…] es ändert nichts an meinem Kompositionsstil, den ich mit jedem neuen Werk aufs Neue hinterfrage.“

„Die Weiden“ ist einer von drei Kompositionsaufträgen, den die Wiener Staatsoper vergibt. Wie ist es, für ein Haus dieser Größenordnung zu schreiben?

Johannes Maria Staud: Ich habe alle Freiheiten, die Staatsoper ist da sehr unterstützend, sehr neugierig. Auch die Sängerbesetzung ist weit fortgeschritten und erstklassig. Das wird nicht als Alibi-Uraufführung genommen, sondern ernsthaft vorbereitet. Für den Kompositionsprozess ändert das nichts. Natürlich weiß ich, dass man mit so einem Stück stärker im Fokus steht. Umso wichtiger ist mir bei diesem Werk, Stellung zu beziehen und mich nicht in den Elfenbeinturm zurückzuziehen. Das ist natürlich sehr beflügelnd, aber es ändert nichts an meinem Kompositionsstil, den ich mit jedem neuen Werk aufs Neue hinterfrage. Es handelt sich auch schon um meine mittlerweile dritte Oper – neben drei Monodramen.

Sie versuchen mit jedem Stück, Neuem zu begegnen. Was wäre das rein musikalisch bei den „Weiden“?

Johannes Maria Staud: Bei großen Werken profitiert man oft von kleineren Werken, die man vorher geschrieben hat. Mit Chor, Orchester, Elektronik und Text kommen dann doch einige Dinge hinzu. Bei der „Antilope“ war einiges wirklich neu für mich. Für „Die Weiden“ haben wir jetzt die Versuchsanordnung wieder umgedreht und die nicht verständliche Sprache wieder den Unmenschlichen gegeben. Diese Fantasiesprache bezeichnen wir als das „Karpfenhafte“.

Eine der Referenzgeschichten, „The Willows“ von Algernon Blackwood, spielt im Donauschwemmland rund um Hainburg zu einer Zeit, als die Donau noch nicht reguliert war. Hainburg ist außerdem historisch eine spezielle Region. Dort wurde in den allerletzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs ein riesiges Massaker an jüdischen Zwangsarbeitern, die aus Ungarn in den Westen getrieben wurden, verübt. Viele Kranke und Schwache starben und dann wurden dort noch die Überlebenden von SS-Schergen in den Strom getrieben. Das ist ein Massaker, das noch immer nicht wirklich aufgearbeitet wurde. Claudia Kuretsidis-Haider vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes hat dazu ein großartig recherchiertes Buch veröffentlicht. Wir können uns nicht von unserer Geschichte lossagen. In unserer Kulturlandschaft gibt es Orte, an denen Massaker stattgefunden haben. Massaker, die auch in unserem kollektiven Bewusstsein verankert sind, sodass ich wirklich nicht verstehen kann, warum hierzulande immer wieder in großer Zahl rechtspopulistische, revisionistische Parteien gewählt werden, die menschenverachtende Politik machen. Das beschäftigt mich gerade sehr. „Die Weiden“ sind auch eine Auseinandersetzung mit den Spuren des Dritten Reichs in unserer Gesellschaft und in unserem politischen Diskurs, aber von einer anderen Seite aufgezäumt.

Aufgezäumt über das Historische?

Johannes Maria Staud: Über historische Fenster.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Ruth Ranacher

Termine “Die Antilope”
11., 14., 15. & 16. November 2017
Halle E im MuseumsQuartier, Museumsplatz 1, 1070 Wien
jeweils um 19:30 Uhr

Einführungsgespräche vor den Vorstellungen mit dem Intendanten der Neuen Oper Wien, Walter Kobéra, um 18:45 Uhr

Eine Eigenproduktion der Neuen Oper Wien

 

Links:
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Neue Oper Wien
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