Der eigenen musikalischen Ungebundenheit einen Rahmen geben, ein Format schaffen, in dem jede künstlerische Freiheit ausgelebt werden kann – der Musiker ULRICH DRECHSLER war noch nie jemand, der sich auf eine einzelne musikalische Kategorie festnageln hat lassen. Ganz im Gegenteil, seine Projekte der letzten Jahre kommen einer wilden Reise durch die verschiedensten Genres gleich. Mit „Liminal Zone“ (übersetzt „Schwellenbereich“) hat sich der Saxofonist und Klarinettist 2016 genau den Rahmen geschaffen, in dem er schalten und walten kann wie er will. Nach dem 2020erJazz-Welt-Filmmusik Hybriden „Caramel“ und dem ein Jahr darauffolgenden neoklassizistischen Soundtrack „Chrome“ veröffentlichte ULRICH DRECHSLER mit „AZURE“ nun das dritte, in seine „LIMINAL ZONE“ eingebettete Album. Und wie soll es anders sein, schlägt auch dieses mit seiner elektro-akustischen Clubsound-Ausrichtung ein ganz eigenes musikalisches Kapitel auf. Im Interview mit Michael Ternai erzählt der Musiker vom langen Weg zum neuen Album, die Bedeutung von musikalischen Einflüssen auf sein Schaffen und das „Monster“, dass er sich mit „Liminal Zone“ geschaffen hat.
Nach dem Durchhören der Platte hatte ich das Gefühl, als würdest du mit der Band kurz wieder in die Cafe Drechsler Zeiten zurückkehren. Vielleicht nicht ganz im Stil, aber dennoch von der Richtung her. Elektronische Musik gespielt von Instrumenten.
Ulrich Drechsler: Naja, ein Rhythmustier war ich ja immer schon. Das bekomme ich aus mir auch nicht mehr heraus. Aber der Fokus war bei dieser Platte schon ein ganz anderer. Schon alleine die Inspirationsquellen sind ganz andere als bei Cafe Drechsler. Die Einflüsse stammten dieses Mal ganz stark aus den Bereichen Trip Hop, Ambient, UK Bass bzw. von dem, was aktuell elektronisch in Skandinavien und Großbritannien abläuft. Die Idee für „Azure“ war – nachdem die Platte dann doch zwei, drei Anläufe gebraucht hat – ein Format zu schaffen, dass ich mit einer Liveband ohne elektronische Hilfsmittel wirklich genau so klingen kann, wie zum Beispiel Massive Attack oder Archive.
Ein weiterer großer Unterschied zu Cafe Drechsler ist, dass die Musik auf „Azure“ zu 95% durchkomponiert ist. Cafe Drechsler war seinerzeit rein auf Improvisation ausgelegt und in der Art eine improvisierte Adaption vom Wiener Downbeat-Sound. Man kann vielleicht sagen, dass die Herangehensweise eine nicht unähnliche ist, mit dem Unterschied, dass es dieses Mal der skandinavischen Clubsound ist, der von mir verarbeitet wird.
Von wo ich mir auch viele Ideen geholt habe, war aus dem Techno, dass dieses Ding eben nie vom Gas runtergeht. Die Stücke müssen immer pumpen. Und das funktioniert auch nur, wenn die Dinge in großen und langen Strukturen aufgebaut sind. Wir haben mit meterlangen Partituren gearbeitet. Und da muss man im Studio sehr diszipliniert an die Sache rangehen. Alle Beteiligten müssen sich exakt an ihre Rolle halten und nicht versuchen, sich in den Vordergrund zu spielen. Auf dem Album ist ein einziges Saxofonsolo drauf, ein Bass-Solo und zwei Schlagzeug-Soli. Ansonsten nichts dergleichen. Man kann sagen, „Azure“ ist ein live eingespieltes Elektronikalbum.
Du hast gerade erwähnt, dass das Album zwei, drei Anläufe benötigt hat. Warum? Warst du mit den vorigen Ergebnissen nicht zufrieden?
Ulrich Drechsler: Natürlich. Es hat einfach nicht sollen sein. Zum Teil waren es unterschiedliche Auffassungen von Arbeitsprozessen und Zeitabläufen. Dann hat es sich herausgestellt, dass es mit manchen Beteiligten dann doch nicht funktionierte und die Vorstellungen zu unterschiedlich waren. Das hat immer sehr viel Kraft gekostet, weil dadurch der Prozess immer wieder bis fast an den Nullpunkt zurückgeworfen wurde. Ursprünglich sollte das Album ganz anders klingen, als es jetzt tut. Es hätte in Richtung der 2020er Azure-Prolog-EP gehen sollen, auf der die tolle Sängerin Loretta Who gesungen hat. Letztlich hatte es dann aber doch nicht funktioniert. Dann habe ich überlegen müssen, was ich denn jetzt machen sollte. Eine neue Sängerin, einen neuen Sänger zu suchen, hat für mich zu dem Zeitpunkt keinen Sinn ergeben. So habe ich mich dazu entschlossen, das zu machen, was ich am besten kann, und zwar mir ein Liveformat zu überlegen, welches die Qualitäten eines vollproduzierten Elektronikformats hat.
Das hört sich nach einem kräfteraubenden Prozess an. Ist in „Azure“ also doch deutlich mehr Arbeit hineingeflossen als in „Caramel“ und „Chrome“?
Ulrich Drechsler: Die meiste Arbeit? Hm. Jedes Album hatte seinen eigenen Arbeitsprozess. Generell vereint alle, dass ich noch nie in meinem Leben so viel komponiert habe. Und das eigentlich sehr orchestral. Bei „Caramel“ ging es vor allem um diesen Brückenschlag zwischen Jazz, Klassik und Filmmusik. Die Platte ist eigentlich ein Filmsoundtrack geworden. „Chrome“ dagegen ist mit seinem neoklassischen Ansatz sehr atmosphärisch geworden. In der Nachbetrachtung war dieses Album vielleicht die größte Herausforderung, weil das Instrumentarium das beschränkteste war. Es waren ja nur ein Streichertrio, eine Klarinette und in subtiler Form Elektronik im Einsatz.
Bei „Azure“ stand mir jetzt ein riesengroßer Baukasten an Möglichkeiten zur Verfügung. Da ging es eher darum, Musik zu schreiben, die auch spielbar ist. Ich habe davor ja zum Teil Sachen geschrieben, die unspielbar waren, weil ich mir nur programmierte Musik angehört habe. Und am Computer ist alles möglich. Nur lässt sich das oft nicht auf ein Keyboard oder andere Instrumente übertragen.
Man kann sagen, dass ich für jedes Album ganz andere Musik gehört und mich von sehr unterschiedlichen Sachen inspirieren habe lassen. Daher klingen sie auch so verschieden. Wobei ich aber schon glaube, dass es mir gelungen ist, dass alle drei nach Ulrich Drechsler klingen. Und das ist, denke ich, der rote Faden.
Ich habe irgendwann einmal gesagt, dass die Alben so eine Art Werkschau werden sollen. Sie sind es aber nicht geworden. Sie hängen musikalisch zwar wirklich sehr eng zusammen, unterscheiden sich aber dennoch, und zwar, weil ich jedes letztlich für einen anderen Kontext, für eine andere Zielgruppe geschrieben habe.
„Ich will den Menschen, wenn sie zu meinen Konzerten kommen, ihr Leben in dieser Zeit verschönern.“
Für mich bist du ja ein Meister darin, dass du Komplexes hörbar machst. Und auch wenn du sagst, dass du für „Azure“ vorwiegend Spielbares geschrieben hast, ist die Musik immer noch sehr anspruchsvoll. Nur eben auf eine sehr zugängliche Art und Weise.
Ulrich Drechsler: Das war eigentlich immer schon mein Ansatz. Es hat mich noch nie interessiert, Selbstdarstellung zu betreiben. Ich mache Musik für Menschen. Ich will den Menschen, wenn sie zu meinen Konzerten kommen, ihr Leben in dieser Zeit verschönern. Und das funktioniert nur, wenn ich einen Weg finde, sie emotional zu erreichen. Durch bloße Leistung funktioniert das nicht. Was alle drei Alben verbindet ist, dass sie alle eine Gesamtklang haben. Auf keinem der Alben geht es so zu, wie auf einem klassischen Jazzalbum. Sie sind sehr orchestral gedacht. Was sicher auch damit zu tun hat, dass ich in den letzten Jahren neben Elektronik fast nur Klassik gehört habe, vor allem Sinfonien. Es spielt sich auf den Alben daher kein Instrument irgendwo in den Vordergrund. Früher war es vielleicht schon so, dass ich über mein Instrument versucht habe, das Publikum zu erreichen, jetzt ist es die ganze Band, die das tun soll.
„Ich werde nicht alle Leute gleichermaßen befriedigen können, aber ich kann bei vielen zumindest das Interesse für etwas anderes wecken.“
Kann man sagen, dass man nicht unbedingt das gesamte Schaffen von Ulrich Drechsler mögen muss, um eines der Alben zu mögen.
Ulrich Drechsler: Nein. Das ist auch nicht meine Herangehensweise und auch nicht meine Intention. Ich weiß, dass ich es in den letzten Jahren den Leuten nicht leicht gemacht habe, mir musikalisch zu folgen. Daher habe ich auch das Projekt „Liminal Zone“ geschaffen. Es ist quasi das Resultat dieser letzten 15, 20 Jahre, in denen ich mich von vielen, vielen unterschiedlichen Richtungen inspirieren habe lassen und die Einfluss auf meine Musik ausgeübt haben. Mit „Liminal Zone“ baue ich mir meine eigene musikalische Welt, in der ich alles ausprobieren kann, was mir gerade in den Sinn kommt. Ich kann die Dinge auf unterschiedlichste Art zusammenfügen und so für mich Neues entdecken. Mein Wunsch ist, dass wenn zum Beispiel jemand Cafe Drechsler mag, automatisch auch gleich „Azure“ affin ist.
Ich werde nicht alle Leute gleichermaßen befriedigen können, aber ich kann bei vielen zumindest das Interesse für etwas anderes wecken. Und das finde ich ebenso wichtig. Ich habe bei den ersten beiden Alben gesehen, dass das durchaus funktioniert. Es gab schon einige Leute, die eher jazzaffin waren und ein „Caramel“-Konzert besucht haben, aber genauso auch an „Chrome“ gefallen gefunden haben.
Im Idealfall gelingt es mir auch, mit Liminal Zone“ meine Hörerschaft zu erweitern.
Als wir vor etwa zwei Jahren zu „Chrome“ miteinander sprachen, klang es damals so durch, als würden diese drei Alben als Trilogie gedacht sein. Im Pressetext zu „Azure“ steht jetzt, dass das nicht der Fall ist.
Ulrich Drechsler: Das haben viele so verstanden.
Das heißt, die drei Album schließen nichts ab. „Liminal Zone“ bleibt deine musikalische Spielwiese. Und man kann nicht vorhersagen, wohin es musikalisch als nächstes geht.
Ulrich Drechsler: Richtig. „Liminal Zone“ hat 2016 ja als rein musikalische Plattform begonnen, die zunächst auf diese drei Projekte fokussiert war. Die Alben waren aber nie als Trilogie gedacht. Ich wusste aber auch nicht, was wirklich daraus entstehen wird. Für mich war einfach klar, dass ich drei Platten und Remixe dieser machen werde. Die Musik ist über die Jahre gewachsen, sie hat sich verändert und ist neue Wege gegangen. Und gleichzeitig mit der Musik hat sich auch meine Herangehensweise verändert. Und ohne, dass es wirklich geplant war, sind zur Musik dann auch noch diverse Konzertreihen, die ich konzeptioniert und kuratiert habe, dazugekommen. Das Ganze ist zu einem riesigen Monster geworden. Es hat alles eine extreme Eigendynamik entwickelt, in der sich die verschiedenen Dinge laufend gegenseitig befruchten und inspirieren. Im letzten Jahr zum Beispiel habe ich im Muth den sehr schönen Zyklus „Shape of Elements“ kuratiert, in dessen Rahmen ich klassische Ensembles mit Elektronikern zusammenbrachte, damit diese gemeinsam einen Abend gestalten. Aus diesem Zyklus ist jetzt die Idee entstanden, dass ich mich beim nächsten Caramel-Programm mit den Elementen befassen möchte. Das ist etwas, was ich nie für möglich gehalten habe, dass ich jetzt etwas habe, das mich – ohne dass ich groß etwas dazu beitrage – jeden Tag mit neuen Ideen versorgt. Im Kreativprozess ist es so, dass sich alles zu einer Art Perpetuum Mobile entwickelt. Ob es sich jetzt wirtschaftlich immer rentiert, steht auf einem anderen Blatt. Aber was die Kreativität betrifft, vergeht kein Tag, an dem nicht irgendein neuer Wahnsinn daherkommt.
Die Frage, die mich aktuell beschäftigt, ist, wie passe ich das Format an die aktuellen Rahmenbedingungen an. Es macht zum Beispiel heute überhaupt keinen Sinn mehr, physische Tonträger zu produzieren. Das ist ohne Fördermittel, die die Produktion in irgendeiner Form refinanzieren, viel zu teuer. Gleichzeitig bringt aber Streaming überhaupt kein Geld. Und selbst, wenn ich überhaupt keine Tonträger mache, blieben ja noch die Studiokosten, die auch nicht unerheblich sind. Da stehe ich im Moment noch ziemlich an. Ich will aber weiterhin neue Musik machen und diese vertreiben.
Eine andere Frage ist, wie ich es schaffe, diese vielen unterschiedlichen „Liminal Zone“-Ebenen noch besser und engmaschiger miteinander zu verbinden. Das sind Dinge, über die ich mit schon sehr den Kopf zerbreche. Aber Gott sei dank bin ich alt genug, um mir bewusst zu sein, dass alles halb so heiß gegessen wird, als es gekocht wird, und am Ende des Tages sich alles irgendwie ausgeht.
Auch wenn du mit diesen Fragen zu kämpfen hast, wie sehr befreit dich „Liminal Zone“ in künstlerischer Hinsicht. Du kannst ohne Zwänge das tun, was du willst.
Ulrich Drechsler: Das ist gleichzeitig Fluch und Segen. Auf der einen Seite kann ich künstlerisch wirklich das machen, was ich will. Auf der anderen Seite bin ich, und das war auch so geplant, aus jeder genrespezifischen Schubladeherausgefallen. Keines der drei Alben ist ein Jazzalbum, keines ist ein Klassikalbum, keines ist ein Elektronikalbum. Sie sind alle drei irgendwelche Hybriden. Das macht es natürlich nicht leicht, in sehr schubladenbehafteten Märkten, wie auch der österreichische einer ist,erfolgreich zu reüssieren. Da ist nicht viel Raum für so etwas. Die große Herausforderung ist jetzt, dieses eigene Genre, das ich mir hier geschaffen habe, gesellschaftsfähig zu machen. Wenn du mir aber jetzt die Frage stellen würdest, ob ich die Dinge jetzt anders machen würde, würde ich mit Nein antworten. Ich könnte das gar nicht. Die drei Alben, so verschieden sie sind, sind aus einem inneren Drang entstanden, es ging nicht anders.
Was ich mittlerweile schön finde, ist die Vorstellung, dass ich, obwohl ich mich ungern als Künstler bezeichne, mit „Liminal Zone“ doch ein kleines Gesamtkunstwerk geschaffen habe, das weit über die Musik hinausgeht. Es ist ein genreübergreifendes, eine medienübergreifendes, ein generationsübergreifendes ganzheitliches Format. Das finde ich schon wahnsinnig schön.
Herzlichen Dank für das Interview.
Michael Ternai
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AZURE live
31.03. Porgy & Bess, Wien, Albumpräsentation
14.04. Jugendzentrum, Amstetten
02.07. Carinthischer Sommer, Villach
22.07. Eröffnungsfest der Festspiele, Salzburg
13.08. Weinsommer, Gumpoldskirchen
04.11. Jazzclub Tonne, Leipzig (D)
11.11. Jazz November, Bayreuth (D)
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