„Es gibt einfach diese Frauenthemen, die grundsätzlich kaum besprochen werden“ – MARY BROADCAST im mica-Interview

Im Laufe des Jahres 2021 veröffentlicht die Sängerin MARY BROADCAST sechs Songs mit dazugehörenden Musikvideos und Coverfotos. Dabei wird die Geschichte der Kunstfigur AVER erzählt und Themen wie Trauer, Abschied und die Gefahren der digitalen Welt werden kritisch beleuchtet. Im Interview mit Itta Francesca Ivellio-Vellin erzählt MARY BROADCAST über den Anlass der Konzept-EP und von den ersten drei Songs („PANIC“, „ZONE 4“ und „BASTILLE“), die bereits releast wurden.

Kannst du erzählen, wie es zu dem Konzept deiner EP „Panic“ kam? Sie besteht ja aus sechs Songs inklusive Musikvideos und auch sechs Fotos

Mary Broadcast: Also, der Ausgangspunkt des Ganzen ist die Fehlgeburt, die ich hatte. Aus dem heraus sind eigentlich die ganzen Songs entstanden. Ich wollte das Thema zumindest irgendwie anschneiden und für mich als Erinnerungen an diese Zeit etwas erschaffen. Und dann habe ich mit den Filmemachern, Dritter.Akt, die schon einige Videos von uns gemacht haben, drüber gesprochen, weil mich das schon immer interessiert hat, dass man sozusagen zu jedem Lied ein Video dreht. Und zwar so, dass die Videos irgendwie zusammenhängen, also dass es eher eine Serie ist, eine Mini-Serie, um diese sechs Songs. Dass es sich nur um sechs Songs handelt, war einfach eine Kostenfrage. Die letzte Idee, die ich dann hatte, habe ich mit der Fotografin umgesetzt. Wir haben versucht, die Einzelgeschichten dann auch in Cover-Fotos für die sechs Singles umzusetzen.

Du gehst ja sehr öffentlich mit deiner Fehlgeburt um. Ist es dir ein Anliegen, dass dieses Thema enttabuisiert wird?

Mary Broadcast: Ja, das ist mir schon wichtig. Ich muss auch sagen, dass es mir jetzt nicht unbedingt leichtfällt. Es ist jedes Mal schwer, darüber zu sprechen. Es ist immer noch ein großer Schmerz, und ich denke, so geht es jeder Frau, der so etwas widerfahren ist. Es ist ein Thema, das mich täglich begleitet. Aber ich finde, dass das eigentlich zu selten Thema in unserer Gesellschaft ist, obwohl es oft passiert und so viele Frauen darunter leiden. Frauen, die nie ein Kind kriegen können und es immer wieder versuchen, aber immer wieder Fehlgeburten erleben. Auch die Tatsache, dass diese Kinder tatsächlich Kinder sind. Das habe ich in der Therapie dann erst gelernt, dass ich Mutter bin, nur das Kind hat es nicht lange Zeit geschafft. Das sind schon wichtige Themen.

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Ein Erlebnis wie eine Fehlgeburt kann im Leben natürlich auch oft noch andere, weitreichende Auswirkungen haben.

Mary Broadcast: Ja, als Selbstständige habe ich zum Beispiel gemerkt, dass das ein wichtiges Frauenthema ist und es kann sein, dass man dadurch in eine Depression fällt. Und das ist dann, gerade als Selbstständige, wenn du quasi keinen Schutz hast, wenn du länger ausfällst, keine Kleinigkeit. Deshalb finde ich auf alle Fälle, dass man das thematisieren sollte.

Themen wie diese werden ja gerne eher als vernachlässigbar gesehen, obwohl sie eine große Anzahl an Menschen betreffen.

Mary Broadcast: Ja, es gibt einfach diese Frauenthemen, die grundsätzlich kaum besprochen werden. Zum Beispiel auch, dass viele von uns so eine starke Periode haben, dass man eigentlich krank ist. Wir sind im Jahr 2021, aber es wird trotzdem nicht darüber gesprochen – es wird eher wie eine Peinlichkeit behandelt. Da habe ich schon das Gefühl, dass einfach viel weggesperrt wird, weil es Männern unangenehm ist, oder sie es eklig finden.

Kann man sagen, dass die EP eine Art für dich ist, die Trauer über dein Kind zu verarbeiten?

Mary Broadcast: Ja, im Endeffekt ist das, was wir da machen, eine Aufarbeitung. Das funktioniert ganz gut. Es ist natürlich ein recht langer Trauerprozess, aber ich habe mir das auch selber ausgesucht, dass mich das immer wieder zurückholt. Aber für mich ist das der richtige Weg. Ich finde, dass kann ruhig einen Platz haben, diese Trauer. Es will aber natürlich auch nicht jede darüber reden, das ist auch verständlich.

Bild Mary Broadcast
Mary Broadcast (c) Agnes Slupek

Darf ich dich fragen, wie lange es bei dir her ist?

Mary Broadcast: Zwei Jahre circa. Und im letzten Jahr habe ich dann versucht, das musikalisch aufzuarbeiten. Ich arbeite immer alles musikalisch auf, bis der Schmerz weg ist. Bei dieser Sache wird der Schmerz aber nicht so leicht verschwinden, denke ich. Ich habe noch nie eine Erfahrung gemacht, die so nah am Leben war, wo ich so viel Leben und Tod in einem gespürt habe. So eine lebendige Erfahrung habe ich bisher noch nie gehabt.

Aber du schaffst es auch, dass du es zulässt zu trauern und dir auch die Zeit zu nehmen, die du brauchst.

May Broadcast: Ja, ich glaube, ich mache das ganz gut. Ich funktioniere zumindest. Es war nie so, dass ich nicht mehr arbeiten wollte, oder nicht mehr Musik machen oder auf die Bühne gehen wollte. Aber ich lasse die Trauer zu, zumindest in den Momenten, wenn ich darüber spreche oder auf der Bühne, wenn ich diesen einen Song spiele, der ganz am Ende des Projekts erscheinen wird, in dem es wirklich um dieses Kind geht – das holt mich dann schon immer wieder zurück in die Geschichte. Aber ich finde meinen Weg, solche Sachen anzusprechen, gut, und bekomme viel positives Feedback von Frauen.

Viele werden auch Kraft schöpfen können aus deiner Arbeit. Ich weiß, dass das Thema Muttertag für viele Menschen in deiner Situation ein sehr schwieriges ist – wie gehst du damit um?

Mary Broadcast: [lacht] Zum Muttertag habe ich eine sehr spezielle Beziehung – ich hasse ihn! Ich habe den Tag noch nie verstanden. Meine Mutter wird sich da vermutlich nicht freuen, wenn sie das jetzt liest [lacht]! Ich finde es total unnötig, dass es einen Tag gibt, an dem man der Mutter dafür gratuliert, dass sie Mutter ist. Außerdem hat das für mich so einen nationalsozialistischen Touch, durch Hitler, der den Tag ja quasi erfunden hat. Was Mütter leisten will ich gar nicht in Frage stellen. Ich fände es schöner, wenn das ständig beachtet wird. Ich weiß auch, dass das meiner Mutter viel mehr bedeutet hätte, wenn wir das als Kinder ständig respektiert hätten, was sie tut. Aber ja, wenn ich eine Familie sehe, oder wenn ich meine Neffen und Nichten sehe, dann wirbelt das schon immer was in mir auf.

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Es tut mir auf jeden Fall leid, dass du das durchmachen musst.

Mary Broadcast: Muss dir gar nicht leidtun, es gehört halt zum Leben dazu, dass es manche Kinder schaffen, und manche nicht. Das habe ich auch gelernt durch diese Situation. Auch, dass man schwanger wird oder ein Kind geboren wird, das ist ein großes Wunder. Jedes Kind, das es schafft, ist ein Wunder – das Leben ist so leicht zerstörbar. Mein Kind war trotzdem hier, nur nicht sehr lange.

Schön, dass du so denken kannst.

Mary Broadcast: Ja, hat auch seine Zeit gedauert. Da hat meine Therapeutin sehr geholfen.

Die EP wird ja immer als „Konzept-EP“ betitelt.

Mary Broadcast: Ja, das finde ich echt super, ich wollte schon immer so etwas machen. Das ist mitunter einer der schönsten Sachen, dass es jetzt zu jedem Song ein Video gibt. Ich bin stolz darauf, dass wird das geschafft haben – auch finanziell.

Apropos, wie hast du das Projekt finanziert?

Mary Broadcast: Wir wurden vom SKE-Fonds gefördert, und wir haben auch Sponsoren, die uns freundlicherweise seit Jahren unterstützen. Wir haben auch ein Moneypool laufen, wo man uns auch sehr leicht unterstützen kann, so wie Patreon. Auf verschiedenste Art und Weise haben wir Geld gesammelt. Sechs Releases fressen aber auf jeden Fall viel Geld und Energie.

Der erste Song, der releast wurde, war ja „Panic“ im März. Ich finde es sehr interessant, dass dieser Song den Anfang gemacht hat, da keine Zeile in dem Lied so prägnant ist wie „it’s over now“. Für mich repräsentiert dieser Song eine wilde Mischung – auf der einen Seite Erleichterung, dass etwas vorbei ist, Hoffnung auf einen Neustart, aber gleichzeitig die Trauer – vor allem in Zeilen wie „my entire life slips away“.

Mary Broadcast: Also, alles, was du gesagt hast stimmt komplett. Es ist eigentlich ein Lied über die Erleichterung, dass ein sozusagen völlig panischer Zustand zu Ende geht. Man blickt in eine Zukunft, die zwar ungewiss, aber dafür neu ist. Dieses Gefühl begleitet den Song, und deshalb hat es auch gepasst, dass er den Start markiert. Am Ende löst sich das Lied ja auch im kompletten Chaos auf. Das ist aber für mich auch ein ganz wichtiges Gefühl, jetzt wieder auf das Kind bezogen, dass es nichts Wichtigeres gibt, als die Zukunft, und alles, was neu passiert, ist gut, denn es gibt nichts, was das übertreffen könnte.

Bild Mary Broadcast
Mary Broadcast (c) Agnes Slupek

So im Sinne von „schlimmer geht’s nimmer“?

Mary Broadcast: Ja, oder auch besser geht’s nimmer. Denn wenn das Kind jetzt geboren wäre – man sagt ja als Elternteil immer, dass die Geburt des Kindes das Schönste auf der Welt ist. Aber auch wenn es nicht funktioniert, wenn das Kind stirbt, muss man auch damit umgehen. Und dann hat dieser Song auch noch ein bisschen was von dieser Phase im letzten Jahr, wo man in diesem Zustand ist, dass man nicht mehr weiß, wie es weitergeht. Dass man nicht weiß, ob man jetzt ewig in dieser komischen Pause drinsteckt – obwohl es für mich eh gut war, ein Jahr Pause zu haben. So dieses Gefühl zu haben, dass jetzt eh alle gerade nichts tun können. Dieser weltweite Nullpunkt.

Für das Projekt hast du ja die Kunstfigur Aver erschaffen. Welchen Zweck hat sie? Inwiefern repräsentiert sie dich?

Mary Broadcast: Im Endeffekt gibt sie mir eine gewisse Distanz, denn im letzten Video wird man dann verstehen, wer genau Aver ist. Erschaffen wurde die Figur eigentlich von der Filmcrew, die meine ganze Geschichte kennt – von denen kam die Idee zu Aver.

Also gibt es Parallelen zwischen Aver und dir, aber auch eine gewisse Distanz.

Mary Broadcast: Ja genau.

Gerade das erste Video wurde sehr viel in dem Bauernhaus deiner Familie gedreht. Was hat das für eine Bedeutung für dich?

Mary Broadcast: Eine sehr große. Das Haus, alles, was dazu gehört, bedeutet mir und meiner Familie sehr viel. Es ist wirklich sehr alt und kaputt, da lebt schon seit langer Zeit niemand mehr drin, es gibt auch keine Heizung und kein Wasser im Winter. Wir wohnen quasi daneben, aber als Kinder waren wir viel dort – jede Party hat dort stattgefunden, sogar meinen 30er habe ich dort gefeiert. Wahrscheinlich müssen wir uns aber irgendwann davon verabschieden, deshalb war es schon, dass es im Video vorkommt.

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Somit ist es für immer verewigt. Im zweiten Song deiner Konzept-EP, „Zone 4“, geht es um die digitale Welt, in der im Grunde als Frauen gelesene Menschen fast nicht gewinnen können. Nirgends fallen Gewalt- und Vergewaltigungsdrohungen schneller als im Internet. Im Video zum Song wird das gut veranschaulicht – zuerst findet Aver Bestätigung im Internet, dann schlägt das schnell in das Gegenteil um. Wie hast du das erlebt?

Mary Broadcast: Also Drohungen und, dass auf irgendwelche Dinge sehr aggressiv reagiert wird, das ist mir schon passiert. Sich Bestätigung holen im Internet – das ist etwas, mit dem wir alle aufwachsen. Ich schaue auch immer, ob dann das eine Posting, das ich mir stundenlang überlegt habe, funktioniert, wird dieses oder jenes Foto angenommen und so. Es ist natürlich deprimierend, wenn man für etwas keine Likes bekommt. Ich habe auf jeden Fall auch gemerkt, dass uns das nicht guttut, so viel im Internet abzuhängen. Ich bin ja auch Musikpädagogin, und auch das Online-Unterrichten ersetzt den echten Unterricht einfach nicht. Wir brauchen den richtigen Kontakt.

Das letzte Lied, das veröffentlicht wurde, heißt „Bastille“ und kam im Mai raus. Kannst du kurz umreißen, was da das Thema ist?

Mary Broadcast: Da geht es um ein sehr gegensätzliches Paar, und darum, dass die Liebe schon etwas Großes ist und man sich oft gar nicht dagegen wehren kann. Also, ich rede jetzt nicht davon, dass man für immer und ewig bei jemandem bleibt, obwohl die Beziehung schlecht ist. Aber in diesem Fall wollte ich darüber sprechen, dass die Liebe einfach oft viel wegmacht, auch wenn man vielleicht nicht so gut zusammenpasst. Also, es geht in diesem Lied schon um meinen Partner und mich, weil ich uns da auch etwas erschaffen wollte, denn wir sind auch sehr gegensätzlich, aber die Fehlgeburt betrifft uns auch beide. Am Ende ist es ein Liebeslied.

Vielen Dank für das Gespräch!

Itta Francesca Ivellio-Vellin

Der nächste Song der Konzept-EP „Panic“ von Mary Broadcast wird am 3. September 2021 im Rahmen des Volksstimmefest Wien präsentiert.

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Mary Broadcast live:
09.07.21 “Frauen” Ruby Hotel – Austria mit Pippa & Aunty
15.07.21 Ilses Erika Leipzig – Germany
01.09.21 Rockhaus Salzburg – Austria
03.09.21 Moserei Scharnstein – Austria
05.09.21 Volksstimmefest Wien – Austria

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Links:
Mary Broadcast
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Mary Broadcast (bandcamp)