„ES GIBT EINE STÄNDIGE NEUAUSRICHTUNG“ – JÜRGEN PARTAJ (NEUE WIENER STIMMEN) IM MICA-INTERVIEW

Der Chor NEUE WIENER STIMMEN besteht aus rund 90 jungen SängerInnen, die jede Woche im Musischen Zentrum Wien proben. Hier stehen mehrere Räume, auch für die professionelle Stimmbildung und Musikvermittlung, zur Verfügung. Ab sofort gibt es jeden Montag um 17.30 Uhr ein niederschwelliges Open House für Jugendliche, bei dem jede/r vorbeikommen kann, der Interesse hat, die eigene Stimme besser kennenzulernen und weiterzuentwickeln. Michael Franz Woels traf im Musischen Zentrum Wien den Initiator, Künstlerischen Co-Leiter und Manager JÜRGEN PARTAJ, um mehr über Begeisterungsfähigkeit, Offenheit und Vielseitigkeit des Chors zu erfahren.

Der Chor Neue Wiener Stimmen hat 2010 mit der Probenarbeit begonnen und bereits im Februar 2011 ein buntes Repertoire (unter anderem mit einer Uraufführung von Stefan Foidl) bei einem umjubelten Jeunesse-Konzert im Wien Museum präsentiert. Warum wurde dieser Chor damals gegründet? Was ist immer noch das Neue an diesem Chorprojekt?

Jürgen Partaj: Wer sind neue Wienerinnen und Wiener? Das sind in erster Linie junge Menschen, also insofern „neue Menschen“. Unter einer Wienerin oder einem Wiener verstehen wir eine Person, die freiwillig oder unfreiwillig Wien zum derzeitigen Lebensmittelpunkt hat. Das können Studierende aus Bundesländern sein, aber auch Geflüchtete, die durch Glück oder Unglück nach Wien gekommen sind. Nach dem Spruch: Ein echter Wiener ist kein geborener, sondern ein „Zuagroaster“. In diesem Sinne sind das meist sehr typische Wienerinnen und Wiener.
Die Entstehungsgeschichte geht so: Ich hatte ein Festival für Jugendchöre und Jugendorchester aus aller Welt gegründet, bei dem jährlich bis zu zweitausend junge Menschen nach Wien gekommen sind. Im Rahmen dieses Festivals gab es auch einen Wettbewerb, bei dem ich geniale Klangkörper gehört und gesehen habe. Gemeinsam mit dem damaligen Jurymitglied Johannes Hiemetsberger habe ich mich gefragt: Warum gibt es so einen Jugendchor noch nicht in der Musikstadt Wien?
Wir wollten das ändern und haben uns nach der Konzeptentwicklung mit Angelika Möser, der damaligen Generalsekretärin der Jeunesse und jetzigen Direktorin des Arnold Schönberg Centers, zusammengesetzt und mit Unterstützung der Jeunesse den Chor Neue Wiener Stimmen gegründet. Die damalige Funktion der Jeunesse war nicht zu unterschätzen, denn sie hat uns im Vertrauen auf die handelnden Personen gleich einmal die Möglichkeit von Auftritten geboten.
Schon bei der ersten Probe war Christoph Wigelbeyer dabei, der 2013 die Position von Johannes Hiemetsberger übernahm. Christoph Wigelbeyer macht nun die Dirigate und die Probenleitung, wir beide stellen die Programme zusammen und ich kümmere mich auch um das Management.

Es gibt mittlerweile viele, auch politische Chöre in Wien. Was erklärt dieses starke Interesse am Singen im Chor? Wie sieht es mit der Zusammenarbeit unterschiedlicher Chöre aus?

Jürgen Partaj: Seit dem Grundsatzbeschluss, dass wir die Neuen Wiener Stimmen gründen – das war im Jahr 2009 – gab es und gibt es zahlreiche Initiativen, die teilweise in eine ähnliche Richtung gehen. Wir arbeiten mit dem Chorforum Wien und dem Landesjugend-Chor, der Jugendchor-Akademie und dem Kinderchor superar zusammen. Es wird mit den Wiener Sängerknaben eine Zusammenarbeit geben. Wir treten aber auch mit internationalen Chören bei Festivals in einen Austausch.

Und ergänzen muss ich, dass wir aus zahlreichen Wiener Kinder- und Schulchören neue Sängerinnen und Sänger bekommen, weil wir eine Lücke schließen: Das Einstiegsalter mit 16 Jahren liegt bewusst vor der Matura, die ja oft einen Bruch darstellt. Und ein schmerzhafter, aber notwendiger Schritt ist das Verabschieden unserer „alten“ Neuen Stimmen mit 30 Jahren. Wir versuchen dann zu vermitteln und so ist es schön, dass zum Beispiel ehemalige Sängerinnen und Sänger von uns im Chorus sine nomine von Johannes Hiemetsberger oder auch im Arnold Schönberg Chor singen. Wir haben spezielle Kooperationen mit der Wiener Singakademie und dem Wiener Singverein. Dort lassen wir unsere reiferen Stimmen dann schon mal hineinschnuppern, ob sie dort weitermachen wollen.
Warum gibt es so eine Faszination von Chören? Diese Faszination gibt es ganz stark am Land – das sieht man als Wiener vielleicht manchmal nicht. Aber auch die Wiener Chorszene ist stark, da hat sich in den letzten Jahren einiges bewegt. Und wer selber einmal in einem Chor gesungen und in einem gemeinsamen Klang gestanden hat und diese Gleichwertigkeit und -wichtigkeit der Stimmen gespürt hat, wird diese Erfahrung bestimmt nicht vergessen.

Neue Wiener Stimmen (c) Stefan Knittel
Neue Wiener Stimmen (c) Stefan Knittel

„WAS HAT DEINE GROßMUTTER GESUNGEN?“

Sie sind als Musiker, zum Beispiel als Violinist bei Bratfisch, auch selber auf der Bühne. Als Kulturmanager haben Sie eine wichtige, tragende Rolle beim Chor-Projekt Neue Wiener Stimmen. Entwickelt man dadurch unterschiedliche Perspektiven auf musikalische Projekte?

Jürgen Partaj: Ich habe mich mit 22 Jahren schon während meines Jus-Studiums mit einer Musik- und Eventagentur selbstständig gemacht und national wie auch international Erfahrungen sammeln können. Dabei habe ich gemerkt, dass es viele inhaltlich hervorragende musikalische Projekte gibt, bei denen es nicht gelingt, diese „auf den Boden zu bringen“, eine Struktur hineinzubringen, die Finanzierung zu klären. Somit verpufft die Idee. Es fehlt der Mitspieler zum „Künstlerisch-Genialen“. Und dieser Mitspieler war und bin ich. Ich bin eine Art Ermöglicher mit einem Netzwerk an Kooperationsmöglichkeiten. Meine Kolleginnen und Kollegen, die Stimmbildnerinnen und Stimmbildner oder auch Johannes Hiemetsberger und Christoph Wigelbeyer bringen auch ihr Netzwerk mit. Und ohne diese Gesamtzusammensetzung, die sich gut ergänzt, wären die Neuen Wiener Stimmen sicher nicht da, wo sie heute sind.
Es braucht gewisse Parameter, damit man von Fördergebern und Veranstalter ernst genommen wird. Man muss zum Beispiel ein zeitgerechtes Förderansuchen stellen, Förderabrechnungen liefern und das ist nicht einfach. Aber das sind die Spielregeln für mich, als ein Baustein der Neuen Wiener Stimmen.
Mein Vorteil als Musiker ist, dass ich beide Sprachen spreche und beide Blickwinkel einnehmen kann. Ich kenne auch die Bedürfnisse und Sorgen von Musikerinnen und Musikern, Sängerinnen und Sängern, weiß, was es bedeutet, wenn man, wie wir damals von der Jeunesse, mit einem ersten Konzert ein Ziel bekommen hat und man auf etwas hinarbeiten kann. Das ist für einen Musikschaffenden sehr wichtig. Christoph Wigelbeyer und ich können für die Neuen Wiener Stimmen nun Ziele vorgeben, sei es mit neuen Kooperationspartnern, Locations oder neuem Repertoire. Es gibt eine ständige Neuausrichtung. Teilweise übertragen wir auch Aufgaben auf Chormitglieder-Teams. Wir haben ein Konzert-Team, ein Mitglieder-Team, wir haben ein IT-Notenteam, ein Medien-Team. Hier übernehmen junge Menschen Verantwortung im Zusammenspiel mit Christoph Wigelbeyer und mir. Sie arbeiten mit den Veranstalter zusammen, mit den Medienpartnern. Sie schauen, dass wir auch in einer Sprache sprechen, die Gleichaltrige erreicht. Ich bin jetzt mit meinen 41 Jahren nicht so firm mit Instagram, aber es gibt Menschen im Chor, die können das. Es ist notwendig, sich manchmal zurückzunehmen, damit man einen höheren Output erreicht.

Beim Projekt Österreich: Große Töchter, große Söhne waren unsere Sängerinnen und Sänger neben der Organisation auch ganz intensiv mit der Programmierung, der Auswahl der Stücke, beschäftigt. Dabei war die Vielfalt an Migrations- und Bundesländerhintergründen zentral. Wir haben zum Beispiel die Frage gestellt: Was hat deine Großmutter gesungen? So haben wir neben alten Salzburger Volksliedern auch syrische Klangwelten kennengelernt. Es kam ein faszinierender Mix zustande. Schön war die Auszeichnung zum Chor des Jahres 2016 vom Chorforum Wien mit diesem Projekt. Und dieses Programm wäre eben nicht so entstanden, wenn nur Christoph Wigelbeyer und ich uns zusammengesetzt und nur unseren Blickwinkel auf die Bühne gebracht hätten. Das heißt, wir können immer auch viel von den Sängerinnen und Sängern lernen – und tun das auch.

Wie erarbeitet man diese Fülle an unterschiedlichen Liedern, wie entsteht das Repertoire des Chores?

Jürgen Partaj: Da sind drei Komponenten sehr wichtig. Erstens, die Art und Weise, wie Christoph Wigelbeyer wunderbar inhaltlich probt, aber auch Choraufstellungen wechselt. Das führt zur zweiten Komponente: Ältere Neue Wiener Stimmen können frische Zugänge in das Chorleben einführen. Das ist ein Voneinander-Lernen. Und die dritte Komponente sind die vier Stimmbildnerinnen und Stimmbildner. Diese setzen sich im Einzel-Coaching mit den Stimmen auseinander und versuchen auch „gesundheitliche Fragezeichen“ zu lösen. Um zu verhindern, dass die Tonerzeugung an falscher Stelle im Körper ansetzt und die Stimmlippen ruiniert werden. So gibt eine sukzessive Weiterentwicklung der individuellen Stimmen.

Bezüglich Repertoire ist uns wichtig, dass es sehr breit ist. Wir können uns inhaltlich bei Hollywood in Vienna gemeinsam mit dem RSO Wien mit Filmmusik auseinandersetzen. Es gibt viele bunt zusammengestellte A-cappella-Programme mit Uraufführungen, bei denen wir auch Kompositions- und Arrangement-Aufträge vergeben. Wir möchten von Klassik, Romantik bis in die ernste, zeitgenössische Musik alles vorstellen. Stücke aus dem Jazz-, Rock- und Popbereich wie auch Volkslieder werden bei uns gesungen. Mit Orchester, mit kleinen Instrumental-Ensembles, oder mit reinen A-cappella-Projekten lernen die Sängerinnen und Sänger ein breites Spektrum kennen und können für sich dann später entscheiden, was ihnen am meisten gefällt und sie in Zukunft weiterhin machen möchten.

Neue Wiener Stimmen (c) Stefan Knittel
Neue Wiener Stimmen (c) Stefan Knittel

„DAS ARBEITEN AM THEATER ODER AN DER OPER BRINGT DAS SZENISCHE MIT SICH.“

Wie unterscheiden sich Film- und Theaterproduktionen vom Erarbeiten eigener Produktionen beziehungsweise Programme?

Jürgen Partaj: Die Zusammenarbeit mit Theater- und Opernhäusern ist etwas ganz spezielles, denn man hat als Chor die Chance, auch mit einem Stück „mitzuschwingen und -schwimmen“. Damit meine ich, dass das Arbeiten am Theater auch das Szenische mit sich bringt. Manche tun sich damit schwer und wir zwingen auch niemanden dazu. Für andere ist es genau dieser Schritt, den sie alleine nie machen würden. Das weiß ich von ehemaligen Sängerinnen und Sängern, die später eigene Theaterprojekte entwickelten. Es ist toll, im Theater an der Wien oder im Schauspielhaus Wien Produktionen für Erwachsene wie auch Kinder zu machen und damit auch kennenzulernen, welch unglaublicher Aufwand das ist und wie viele Menschen im Hintergrund arbeiten: Kostüm, Maske, Technik, Regie und so weiter.

Viele Spezialprojekte des Chores Neue Wiener Stimmen hören sich glamourös an, etwa die Teilnahme an der EXPO in Mailand oder die Eröffnung des Life Balls in Wien. Es gibt aber auch Zeit für soziale Projekte mit der Caritas

Jürgen Partaj: Wir haben mit der Caritas Projekte im Flüchtlingsbereich gemacht. 2015 waren wir am Hauptbahnhof. Aber wir singen auch in Flüchtlingsheimen. Konkret fällt mir da eine Szene ein: Ein Armenier im Chor ist auf einen Armenier in einem Flüchtlingsheim getroffen. Sie haben dann spontan quasi auf Augenhöhe gemeinsam armenische Lieder gesungen.

Letztes Jahr haben wir auch in einem Seniorenheim gesungen und ein Benefizkonzert für die Schwesterngemeinschaft CS Caritas Socialis gegeben. Wir alle haben gelernt, welche wichtige Arbeit hier geleistet wird. Es war eine intensive Auseinandersetzung mit dem Tod. Wir hatten Gespräche mit Angehörigen und haben die Dankbarkeit für Einrichtungen wie die Caritas Socialis Hospiz erlebt.

Wie sieht das Jahr 2019 für Neue Wiener Stimmen aus?

Jürgen Partaj: Wir sind schon mittendrin, beziehungsweise ist es gedanklich schon fast wieder vorbei, weil wir bereits an 2020 und 2021 denken dürfen und müssen. In der nächsten Saison feiern wir unser zehnjähriges Bestehen. Eine Idee ist da unter anderem auch wieder ein CD-Projekt. Und wir wollen auch ehemalige Sängerinnen und Sänger zu den Jubiläumsauftritten einladen.

2019 hat mit dem Musikvermittlungsprojekt für Kinder „Papagena jagt die Fledermaus“ am Theater an der Wien begonnen, bei dem wir beteiligt sind. Das wird im Februar und im Herbst fortgeführt. Im Rahmen von (A)live führen wir ausschließlich Werke von in Österreich lebenden Komponistinnen und Komponisten sowie Arrangeurinnen und Arrangeure auf (so zum Beispiel von Rita Peterl, Manfred Länger, Vusa Mkhaya, Helmut Simmer und vielen mehr). Wir werden auf eine Tournee nach Frankreich fahren. Dann werden wir an einer afrikanischen Messe in Österreich teilnehmen – als Wiederbelebung unseres Afrika-Programmes, bei dem wir uns mit den unterschiedlichen Ländern, Sprachen und Kulturkreisen in Afrika auseinandergesetzt haben, um zu zeigen, wie vielschichtig Afrika ist.

Wir werden für die Jeunesse zum Jubiläum die Beethoven-Chorfantasie im Wiener Musikverein aufführen, eine CD Aufnahme mit dem niederösterreichischen Tonkünstler Orchester Niederösterreich durchführen. Wir sind beim Festkonzert 70 Jahre Österreichischer Chorverband dabei. Mitte Dezember werden wir ein Konzert in der Minoritenkirche gestalten: „Gloria, Ehre sei…?“ mit Vivaldi‘s Gloria, aber auch mit eigenen Aspekten. Diese kritische Auseinandersetzung mit dem Thema der „Verehrung“ werden wir mit einem Kammerorchester gestalten. In unserer Zeit gibt es ja vieles, das Ehrerbietung bekommt. Es stellt sich aber die Frage, ob zu Recht oder zu Unrecht?  

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels

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