„ERINNERUNGEN KOMMEN ANDERS” – PAUL PLUT IM MICA-INTERVIEW

PAUL PLUT wartet im Rüdigerhof, gleich neben dem Eingang – von dort aus überblickt der Musiker, Komponist sowie Verwalter zweier Bands und eines Zettelkastens das Café. „Du hast ja dasselbe Aufnahmegerät wie ich”, sagt er zur Begrüßung und öffnet als Beweis sein würfelförmiges Köfferlein: „Uralt, aber schau, es funktioniert!” 

Der gebürtige Steirer PAUL PLUT stellt heute weder den Inhalt seines Schmuckkästchen vor (geheftete Zettel, sein Alltags-Archiv, der Recorder) noch trifft er sich, um sich über die Beständigkeit früherer Technik auszutauschen. PLUT hat ein Album gemacht. Es heißt „Herbarium” ( VÖ 01.03.2024) und versammelt eigene und andere, vor allem aber solche Lieder, die sich ergeben haben – durch das Einwecken und Einsortieren von Gedanken. Und Gewesenem.

PAUL PLUT ist ein Erinnerer, er schätzt das Vergängliche, trägt seine Schichten ab und betrachtet sie. Allzu oft wurde er deshalb mit dem Tod in Verbindung gebracht. Dabei mache dieses Thema nur einen kleinen Teil seines Zettelkastens aus. Die Magie, das Verbindende im Leben, sei viel wichtiger, sagt er und meint: „Der Tod klopft mir mittlerweile eher auf die Schulter.”

Vielleicht blicken wir während dieses Gesprächs deshalb gerne in die andere Richtung. So fern und fiktiv das Kommende auch erscheinen mag – es ist bereits da, in unserem Denken. Ein Resultat vieler Umstände, die wir nicht kontrollieren können. Wer sonst hätte gedacht, dass wir an diesem Nachmittag im Rüdigerhof, gleich neben dem Eingang, über die Bedeutung von Rollenspielen und Sci-Fi-Schinken sprechen. Vermutlich nicht einmal PAUL PLUT. 

Deine Lieder sind an verschiedenen Orten entstanden: Klingt der Dachstein anders als der Semmering?

Paul Plut: Auf jeden Fall! Der Dachstein ist ein Massiv, seine hohen Wände schränken den Blick stark ein – wenn man dagegen anschreit, hallt es zurück. Man kommt einerseits nicht aus diesem Kessel, fühlt sich andererseits aber in ihm geborgen. Der Semmering ist wiederum ein befremdlicher Ort. Viele große, alte Gebäude stehen leer. Man sieht, dass Geschichten in ihnen stecken. Wir waren zum Beispiel in einem Haus, an dem ein Schriftzug angebracht ist, der offen sichtbar macht, welche Ideologie hier vor vielen Jahren vorgeherrscht hat. Etwas, das man in Österreich oft vorfindet – manchmal muss man dafür nur einige Schichten abtragen, um es wahrzunehmen.

Hat jeder Ort seinen Klang?

Paul Plut: Nicht unbedingt in meiner Präsenz, aber sicher, wenn ich darüber reflektiere und das Gewesene verarbeite.

Da verbinden sich beide Stränge – man kann die Vergangenheit abtragen und ihre Erinnerung freilegen. Oder sie Schicht für Schicht verdecken.

Paul Plut: In dem Theaterstück „Das flüssige Land” geht es genau darum. Das Loch der Vergangenheit klafft weit auseinander, dennoch blickt man nicht hinein – am liebsten würde man es sogar mit Zement zuschütten. Aber es geht nicht, die Knochen finden ihren Weg zurück ans Tageslicht, in die Gegenwart.

Weil es Menschen wie dich gibt, die einen Ort auf unterschiedliche Zeitlichkeiten abklopfen.

Paul Plut: Ich versuche sie einzuweben, jedenfalls nicht zu verschweigen – auch wenn es eine, unter Anführungszeichen, Sprache der Toten ist.

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Du aktualisierst die Vergangenheit in der Gegenwart?

Paul Plut: Der künstlerische Ausdruck ist nie nur Gewesenes. Er ist immer auch ein potscherter Versuch, seine eigene Temperatur zu messen, also: etwas festzuhalten in der Zeit, das davon losgelöst ist. „Lucken in der Landschaft” ist zum Beispiel ein Blick von außen, um eine Stadt in sechs Strophen zu begreifen. Es ist aber nicht so wichtig, wann neue Menschen an diesen Ort kommen, weil immer neue Menschen kommen werden, bis irgendwann das Wasser kommt und nichts mehr da ist. Schließlich steht der Tod immer neben uns. 

Zu dem hast du eine veränderte Beziehung, nicht?

Paul Plut: Sie ist auf jeden Fall entspannter als früher. Der Tod klopft mir mittlerweile eher auf die Schulter.

Weil du ihn so nahe herangelassen hast?

Paul Plut: Ich habe in die Sonne geschaut, aber das kann ich nicht ewig, es tut weh. Dennoch war es wichtig.

Wendet man sich von der Sonne ab, schlägt man einen Schatten – ist es nicht ironisch, dass wir darin die Dunkelheit erkennen?

Paul Plut: In den Büchern der Autorin Ursula K. Le Guin kommen immer wieder Schatten vor, gerade in der „Erdsee-Saga”. Der Schatten teilt sich darin von der Person, er bekommt ein Eigenleben. Das ist spannend, vor allem wenn man es mit Carl Gustav Jung liest, der sich ebenfalls mit dem Schatten auseinandergesetzt hat. In seiner Schattenarbeit geht es um das Akzeptieren des dunklen Ichs, das einem folgt und Teil von uns ist. Vielleicht fällt es mir deshalb so leicht, Lieder über den Tod zu schreiben.

Ist man mit dem Tod jemals fertig?

Paul Plut: Nein, man kann sich mit ihm nur arrangieren. Die Angst vor ihm ist trotzdem verständlich: Eine Lebensspanne ist nicht so lang, man könnte etwas verpassen, sofern man nicht genug leistet – zumindest wird einem das permanent gesagt.

„MAN WIRD OFFEN FÜR DIE EMPFINDUNGEN ANDERER, WENN MAN SICH AN LEBEN UND TOD GLEICHERMASSEN ERFREUT.”

Hast du Angst vor dem Tod?

Paul Plut: Ich habe schon Angst vor dem Tod, auch weil er mich begleitet – nicht unmittelbar, aber in mancher Vergänglichkeit, die ich in meinem Umfeld wahrnehme. Ich begegne dem allerdings nicht mit einer großen Trauer, sondern mit einem offenen Herzen. Schließlich geht es um eine empathische Entwicklung. Man wird offen für die Empfindungen anderer, wenn man sich an Leben und Tod gleichermaßen erfreut.

Du führst einen Zettelkasten. Wie groß sind die beiden Anteile, Leben und Tod?

Paul Plut: Der Tod ist ein kleiner Teil davon. Themen wie Magie, Verbindung und Esoterik sind viel wichtiger für mich.

Im Zuge des neuen Albums sprichst du auch vom Kartenlegen.

Paul Plut: Genau, das beschäftigt mich schon länger. Als Jugendlicher war ich Teil einer Gruppe, die nicht zu den Après-Ski-Partys im Ort ging, sondern lieber zuhause blieb und Kartenspiele wie Magic spielte. Es war eine Leidenschaft, die ich irgendwann zur Seite geschoben hatte, aber später wiederentdeckte, weil ich realisierte, dass darin meine Faszination für das Magische gründet. Es lässt mich erinnern an alte Sagen und Geschichten, die mir die Oma erzählte. Heute kann ich eben diese Geschichte neu lesen und erkenne das Verbindende in ihnen – eine Person, die im Wald wohnt und die man um Erlaubnis fragen muss für den Zutritt, zum Beispiel. Die Moral dahinter lässt sich aber viel weiter denken. Oder glaubst du, der Mensch würde alles nieder planieren, hätte er das Universum stärker subjektiviert?

Vermutlich nicht, nein. Viele würden diese Moral wohl eher als linke Esoterik abtun.

Paul Plut: Die Gefahr ist, dass man in eine Konsumfalle tappt. 

Du meinst, im Sinne einer Verwertungslogik – es muss einer kapitalistischen Verwertung folgen, wenn wir etwas Gutes tun.

Paul Plut: Ja, plötzlich bekommt jeder Traumfänger ein Preisschild, das ihn auf seine Nützlichkeit reduziert. Ähnlich ist es mit Tarotkarten – sei es durch Ausnützen von menschlichen Schwächen, wenn man Karten legen lässt, oder die Vielfalt an verschiedenen Karten-Sets, die nie endet.

Hast du schon Tarotkarten legen lassen?

Paul Plut: Ich habe einige Decks zuhause und benutze sie regelmäßig für mich. Das klingt ein wenig abgedreht, oder?

Ich glaube nicht, nein.

Paul Plut: Es ist eine Art Meditation. Man nimmt sich die Zeit, um sich selbst zu betrachten, indem man auf archaische Bilder reagiert, die in diesen Karten stecken. Spinnt man diese Erkenntnisse weiter, indem man sie mit Traumdeutung verbindet, ergibt sich eine spannende, kreative Art, den eigenen Alltag zu begreifen. Das heißt nicht, dass ich genau mache, was ich aus den Karten lese. Es ist eher umgekehrt: Ich befrage mich selbst, kann die Dinge anders betrachten.

Es ist eine Reflexion deiner Gegenwart, meinst du?

Paul Plut: Auf eine therapeutische Weise, ja. Das hat etwas Magisches.

Magisch lässt sich unterschiedlich begreifen – als verzaubernd oder Zauber.

Paul Plut: Ich mag es als Metapher für Verbindung – mit Landschaft und Toten, aber auch Räumen und Worten. Wenn diese Verbindung gelingt, lässt sich beobachten, was aus diesem Fluss herausziehen lässt. 

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Du unterziehst die Erinnerung also einer permanenten Betrachtung?

Paul Plut: Die Erinnerungen verändern sich nicht, aber sie kommen anders. Auf zwei Liedern des Albums erinnere ich mich zum Beispiel an meinen Onkel, der vor Jahren verstorben ist. Die Traum-Tarot-Welt schwappt in den Text. Ich lese im Kaffeesud und versuche, die eigenen Gedanken zu sortieren. Dabei greife ich Dinge auf, die ich am Rand meines Weges finde. Ich frage mich: Wofür stehen sie in meinem Kontext? Und wofür kann es für jemanden stehen, der es verstehen möchte? Deshalb kehrt mein Onkel in einem zweiten Lied zurück. In „Salz” wollte ich mich mit dem Ursprung der Stadt Hallein beschäftigen wollte. Das Wort Salz kommt von grau und grau kommt von Glanz, Glanz kommt von Licht, Licht kommt von Stern … Dann geht es um den Berg und die Trennung und plötzlich ist mein Onkel wieder da.

Die Erinnerung ist die Verbindung.

Paul Plut: Dabei begleitet mich mein Onkel im Alltag selten. Es ist aber spannend, wenn es auf textlicher Ebene plötzlich doch passiert – auch wenn ich nicht weiß, was mir das sagen will.

„ICH WEISS NICHT GENAU, WAS ES BEDEUTET. ABER ICH SPÜRE ES IRGENDWIE.”

Das ist das Schöne am Zettelkasten: Es ergeben sich neue Verbindungen, manchmal auch solche, die man nicht vorausahnen konnte.

Paul Plut: Warte, da muss ich in meinen Zettelkasten schauen, mir fällt ein schönes Zitat ein … „Was auch immer in diesem Moment in der Zeit gemacht wird, hat die Qualitäten dieses Moments in der Zeit.” Ich weiß nicht genau, was es bedeutet. Aber ich spür es irgendwie. 

Es gibt einen Begriff von einem russischen Literaturtheoretiker: den Chronotopos. Er führt die Idee der Erzählung mit der Idee des Rezipierens zusammen. Man muss nicht verstehen, wie es gemeint war, um zu verstehen, dass es in der Gegenwart etwas bedeutet.

Paul Plut: Es ist wie das Aufzeichnen eines schwarzen Lochs auf Papier, bei dem man das Blatt faltet und dann den Stift durch zwei verbindende Punkte steckt, oder? 

Eine Suche nach Verbindung, ja.

Paul Plut: Das könnte aus diesem Buch sein, das ich gerade gelesen habe, ein Sci-Fi-Schinken von Dan Simmons. Es kommt darin eine Auferstehungs-Christensekte vor, in die ein Parasit eingepflanzt ist, der ihre Toten immer wieder auferstehen lässt. Die Rebellion versucht gegen diese Macht vorzugehen, na ja und so weiter. Jedenfalls gibt es eine Messias-Figur, ein Mädchen, das es schafft, schwarze Löcher zwischen Ideen und Menschen herzustellen. Außerdem kann sie Orte hören, sogenannte Sphärenmusik. Indem die Leute vom Blut dieses Mädchens trinken, werden sie so empathisch, dass sie den Schmerz, den sie anderen Leuten zufügen, zuerst selbst erfahren. Dadurch entsteht eine utopische, neue Welt, in der tatsächlich Frieden herrscht.

In dem Moment, in dem man etwas vorstellen kann, ist es. Das kommt so ähnlich von Le Guin.

Paul Plut: Hast du ihr Büchlein gelesen, „Am Anfang war der Beutel”? Sie sträubt sich auch gegen das maskuline Sci-Fi-Genre, in dem es nur darum geht, herumzurasen und alles niederzuballern. 

Liest du viel Sci-Fi?

Paul Plut: Sehr! Weil ich interessiert daran bin, wie unsere Zukunft besser sein könnte. Das ist ein Hoffnungsschimmer. Außerdem sollte es – das kommt ebenfalls von Ursula K. Le Guin – Aufgabe von Künstler:innen sein, utopische Ideen zu fördern, damit wir Alternativen zum Jetzt finden können und neue Gedanken eröffnen. 

Also ist Paul Plut auch ein Gedankenöffner?

Paul Plut: Hoffentlich ist Kunst ein Gedankenöffner. 

Das ist sehr diplomatisch ausgedrückt.

Paul Plut: Na ja, Paul Plut, der Gedankenöffner – das klingt wie ein Monster bei D&D.

Dungeons & Dragons, das Rollenspiel? Spielst du?

Paul Plut: Leider nicht mehr. In meiner Zeit in Graz habe ich es geliebt. Mittlerweile geht es sich nicht mehr aus.

Das Spiel ist auch eine Gedankenöffnung. Man denkt sich etwas aus, nimmt eine Rolle ein.

Paul Plut: Indem man sie annimmt, ja. Dazu kommen viele seltsame Komponenten, eine Einteilung in gut und böse, die Ritter in der glänzenden Rüstung. Alles ist daraus ausgelegt, dass man kämpft. Wir führten es damals aber auch ad absurdum, indem wir pazifistische Räuberbanden bildeten. Plötzlich hat sich das Spiel geändert. Man vergießt kein Blut und sucht nach Alternativen in einer Welt voller Drachen und Vampire. 

Bild Paul Plut
Paul Plut (c) Daniel Sostaric

Das bringt uns zurück zum Magischen.

Paul Plut: Ja, und es ist so ähnlich wie mit der Musik. Man trifft sich in einem Raum,  verliert sich in der Zeit und macht etwas – gemeinsam, weil es nicht allein geht. Dann ist es vorbei, man packt ein und geht nach Hause. Um sich vielleicht irgendwann wiederzutreffen. 

Und jedes Mal hinterlässt man etwas. 

Paul Plut: Ja, ich denke gerade an den Fußabdruck – wer es nicht manchmal besser, würde er gleich wieder verschwinden? 

Du meinst, wie der Fußabdruck im Sand, der unter der nächsten Welle verschwindet?

Paul Plut: „Niemand wird sich erinnern, dass wir hier waren.” Das ist der aktuelle Titel vom Viech-Album. Er spielt mit dem Gedanken: Wie stemmt man sich gegen diese Welle? Es geht eigentlich nicht.

Nein?

Paul Plut: Nehmen wir den ökologische Fußabdruck, der ja – wenn ich das richtig gelesen habe – von irgendwelchen Ölfirmen erfunden wurde, um den Einzelnen ein schlechtes Gewissen zu machen, während die Firmen weiter ausbeuten können. Deshalb ist es eigentlich schön, wenn wir unsere Fußabdrücke hinterlassen. Als Idee, auf die andere Ideen aufbauen können, um eine Veränderung herbeizuführen.

Die Zukunft wird sichtbar.

Paul Plut: Ich komme auf Ursula Le Guin zurück, die eine schöne Metapher mit peruanischen Stachelschweinen aufgestellt hat. Bei Gefahr ziehen sich diese Tiere zurück, aber ihr Blick bleibt nach vorne gerichtet. Sie schützen also ihre eigene Zukunft, indem sie einen Schritt zurück machen. 

Kennst du „The Shining”?

Paul Plut: Den Film von Kubrick? Ich liebe ihn. Wieso?

Am Ende entkommt das Kind, indem es rückwärts die Fußabdrücke seines verrückten Vaters geht. 

Paul Plut: Stimmt. Es ist schon witzig, dass du den Film erwähnst. Gestern hat mir meine Partnerin die Haare geschnitten. Ich wollte die Frisur von Jack Nicholson bei „The Shining”.

You’ve always been Paul Plut. Das sieht man auch auf deinen aktuellen Fotos.

Paul Plut: Die kommen von Daniel Sostaric, einem befreundeten Fotografen, der im Kunsthistorischen Museum arbeitet. Wir haben die Fotos auch dort aufgenommen, aber manche Gemälde schwarz retuschiert, weil es nicht passt, wenn ich zwischen den italienischen Meistern stehe. Trotzdem finde ich die Idee schön: zu sein an einem Ort, an dem Dinge gesammelt werden. Das passt gut zum Album.

Danke für das Gespräch!

Christoph Benkeser

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Links:
Paul Plut (Homepage)
Paul Plut (bandcamp)