„Entertainment ist ein legitimer Teil des Lebens, Kommunikation ist etwas anderes“ – MATTHIAS NASKE im mica-Interview

MATTHIAS NASKE sprach mit Stefan Niederweiser über Chauvinismus, über #MeToo und fand klare Worte. Als Chef des WIENER KONZERTHAUSES weiß er, dass er dafür verantwortlich ist, das Repertoire im Haus zu öffnen. Er ist für stark gestiegene Besucherzahlen der letzten fünf Jahre verantwortlich, für einen alten Millionenkredit vor seiner Zeit, der von der BAWAG nun fällig gestellt wurde, und dafür, das Haus in den städtischen und den digitalen Raum zu bringen.

Warum ist Peter Grüneis so eine Legende?

Matthias Naske [lacht]: Peter Grüneis ist eine Persönlichkeit ausgesprochen hohen Charakters, er hat seine Lebensenergie über 20 Jahre hier eingebracht. Er steht normalerweise nicht im Rampenlicht, als Handwerker – der jetzt in Pension geht – macht er das Haus erst spielbar. Jede Organisation lebt von gebündelter Individualität, sie wird von Menschen getragen, die wertvolle Arbeit im Hintergrund leisten.

Hinterlässt er ein ordentliches Haus?

Matthias Naske: Absolut, ohne Zweifel.

Sie schreiben im Vorwort zur neuen Saison über Träume. Ist das Ihre Vision für das Konzerthaus – eine klingende Heterotopie?

Matthias Naske [lacht]: Das gefällt mir gut, dem will ich nicht widersprechen. Mir ist der Aspekt der Resonanz am wichtigsten. Ein Gespräch funktioniert dann, wenn der eine bereit ist, sich dem anderen so zu öffnen, dass Kommunikation möglich ist. Im Konzert ist das zentral, der Fokus wird auf etwas gerichtet, was erst ertönen wird. Je stärker wir diese Kulturtechnik als Qualität unseres Seins wahrnehmen können, desto reicher werden wir belohnt. Das ist die Basis für etwas, was man Resonanz nennen kann.

Sie haben in fünf Jahren ein Besucherplus von 26 Prozent geschafft – auch durch mehr Konzerte. Das Pensum wird immer größer.

Matthias Naske: Absolut. Quantitatives Wachstum kann gefährlich sein. Es spiegelt den unternehmerischen Erfolg wider. Der eigentliche Erfolg ist viel subtiler, er spielt sich im Inneren der Menschen ab, er ist intrinsisch, mit ihm funktioniert auch der unternehmerische.

Man hört von manchen Veranstalterinnen und Veranstaltern, dass manche Besucherinnen und Besucher häufiger zu Hause bleiben, weil es dort so viele Entertainment-Angebote gibt.

Matthias Naske: Entertainment ist ein legitimer Teil des Lebens, Kommunikation ist etwas anderes. Bei einem Konzert entscheidet die Summe der Besucherinnen und Besucher, ob es gelingt oder nicht. Das ist ein einmaliger Prozess, man entdeckt Qualitäten, die man in den eigenen vier Wänden nicht findet. Mich treibt schon lange die Behauptung, dass es ein schöpferisches Element in der Wahrnehmung gibt. Musikerinnen und Musiker brauchen Hörerinnen und Hörer. Unsere Aufgabe ist es, diese beiden Pole miteinander in Bezug zu bringen, den richtigen Saal, die richtige Zeit, das richtige Setting und die richtige Erwartungshaltung herzustellen.

Haben Sie die kürzlich restaurierte Fassung von „Stadt ohne Juden“ schon gesehen?

Matthias Naske: Ich habe nur das bisher bekannte Fragment gesehen. Ich bin total begeistert, dass sich Olga Neuwirth dieser Aufgabe gestellt hat – obwohl sie auch andere angenommen hat, wie etwa eine Oper zu schreiben –, dass sie diesem wichtigen Zeitdokument eine neue Form gibt. Dieser Film war so erschreckend visionär, Olga Neuwirth strahlt als eine der großen Komponistenpersönlichkeiten der Gegenwart weit über unser Land hinaus, deshalb bin ich auf diese Kombination doch stolz. Dank gilt auch den europäischen Partnern, die dieses Vorhaben gemeinsam mit uns verwirklichen. Im Konzerthaus wird die Uraufführung stattfinden, nachher geht es nach Paris, Hamburg, London, Basel, es gibt Pläne für New York.

Olga Neuwirth ist eine von drei Porträtkünstlerinnen. Letzte Saison waren es noch ausschließlich Männer. Wie viele Frauen stehen im Haus generell auf der Bühne und werden aufgeführt?

Matthias Naske: Ich kann nicht ändern, dass Kompositionen über Jahrhunderte von Männern gemacht wurden, ich kann heute aber bewusst Frauen mehr Chancen einräumen. Hier muss die Zukunft noch in die Gegenwart kommen. Es stimmt, es gibt exponierte Positionen, in denen es wenig Frauen gibt, wie beim Dirigieren oder Komponieren, da muss man bewusst gegensteuern. Ich bin stolz auf Susanna Mälkki, die gerade einen unglaublichen Job in der Staatsoper gemacht hat, beeindruckend präzise. In dem Geist muss man weitergehen. Olga Neuwirth ist vor zwei Jahren Ehrenmitglied geworden, das ist ein Ausdruck besonderer Nähe.

Olga Neuwirth hatte öfter Probleme mit von Männern dominierten …

Matthias Naske: … mit Chauvinismus. Zu Recht. Das macht auch ihre Qualität aus, dass sie Dinge nicht hinnimmt und sie sehr direkt artikuliert. Das brauchen wir.

Das Benennen von Unrecht und Machtmissbrauch ist wahnsinnig wichtig, um uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln.“

Warum scheint #MeToo in der Welt klassischer Musik so weit verbreitet?

Matthias Naske: Das hat mit tradierten Hierarchiestrukturen zu tun. Viele haben dem Bild des Maestros, des Genies, das uneingeschränkt über einen langen Zeitraum herrschen kann, keine angemessene Entsprechung gegeben, sie wurden durch dieses Bild korrumpiert. Davon müssen wir uns emanzipieren. Das Benennen von Unrecht und Machtmissbrauch ist wahnsinnig wichtig, um uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln.

Sie verlassen mit Soho in Ottakring das Haus, gehen in die städtische Peripherie. Nun brauchen unverstärkte Instrumente Bedingungen, für die das Konzerthaus ja ursprünglich gebaut wurde. Muss das insofern eine Einzelanstrengung bleiben?

Matthias Naske: Um sich weiterzuentwickeln, ist es wichtig, in den Dialog zu kommen, Allianzen zu schließen und hinauszugehen. Martin Grubinger integriert ungefähr 50 Jugendliche aus der Umgebung des Sandleitenhofs, wird mit ihnen Workshops machen und sie in den Abend einbeziehen. Das Konzerthaus stellt die Bühne, die Anlage und macht die Logistik. Wenn das Konzert ein Erfolg wird, kann ich mir vorstellen, das öfter zu machen. Mit der Brunnenpassage gab es schon ähnliche Versuche.

Gibt es Abstimmung mit anderen Häusern?

Matthias Naske: Ich würde mir wünschen, dass wir und der Musikverein stärker kooperieren, weil man den Menschen dieser Stadt so besser dienen könnte. In gewissen Grenzen passiert das. Verdis Requiem wurde lange nicht aufgeführt und jetzt in beiden Häusern mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten – so schlecht ist das nicht. Wir sollten den Dialog stärken und Ressourcen gemeinsam nutzen, ein großes Gastorchester aus den USA teile ich gerne, jede Institution bedient immerhin ein genuines Publikum. Auch mit der Staatsoper und dem Theater an der Wien ist das vorstellbar. Die Wiener Festwochen haben eine langjährige Kooperation beendet, das war nicht so schön. Aber auch hier bin ich zuversichtlich, dass wir wieder zusammenfinden.

„Wir müssen neue Räume initiieren und die soziale Durchlässigkeit erhöhen […]“

Ist Wien die Klassik-Hauptstadt der Welt?

Matthias Naske: Man kann behaupten, dass Musik eine große Rolle im Leben vieler Menschen spielt. Das ist ein Kapital, das sorgsam über Jahrzehnte aufgebaut wurde, das weiterzuentwickeln eine große Lust bedeutet. Wenn ich aber sehe, wie andere Gesellschaften mit ihrem Potenzial umgehen, müssen wir aufpassen, dass wir diese Behauptung auch in zwanzig Jahren aufstellen können. Wir müssen neue Räume initiieren und die soziale Durchlässigkeit erhöhen, die Befähigung stärken, selbst aktiv zu werden. Die Philharmonie de Paris wird von viele jungen Menschen angenommen, das ist eine großartige Investition. Noch beeindruckender finde ich den staatlichen Auftrag, dreißig Jugendorchester quer über Frankreich zu gründen. Wie geht es da im Vergleich einer Initiative wie Superar – einer Gründung von Caritas, Konzerthaus und Wiener Sängerknaben. Superar soll musikalische Teilhabe entwickeln, aber finanziell sieht es dort wahnsinnig schlecht aus. Ich kenne Bezirke, in denen das Musikschulwesen viel weniger Ressourcen hat, als es Bedarf gibt. Wir brüsten uns, Musikhauptstadt zu sein, kümmern uns aber nicht um die Basis, damit es so weitergeht. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die zu teilen in der Lage ist, das finde ich ganz normal.

Was hat im Konzerthaus nicht Platz?

Matthias Naske: Was zu laut ist, was akustisch nicht funktioniert, kann man hier nicht machen. Wir unterhalten uns hier sehr oft über Exzellenz, wir machen uns viele Gedanken, jedes Konzert wird zweiwöchentlich intern besprochen, wir evaluieren die Wirkung auf das Publikum, unsere individuellen Eindrücke, beurteilen die künstlerische Qualität. Dass die Kommunikationsqualität dabei eine Rolle spielt, kann ich offen sagen, das hat nicht nur mit dem Wort zu tun.

Das Konzerthaus ist über hundert Jahre alt, es musste vor zwanzig Jahren teuer saniert werden. Kann die BAWAG denn einen Kredit einfach so kündigen?

Matthias Naske: Die Generalsanierung war unglaublich wichtig für das Haus. Aber sie hat 14,8 Millionen Euro an Kosten verursacht. Davon sind heute noch 6,4 Millionen bei der BAWAG ausständig, das muss gelöst werden. In Wirklichkeit ist es eine Aufforderung, miteinander zu sprechen. Wir sind aus eigener Kraft in der Lage, einen Teil zu finanzieren, die ganze Summe würde unsere Liquidität zu stark belasten.

Was passiert mit dem ehemaligen Brut im Konzerthaus? Im Programm scheint der Raum nicht auf.

Matthias Naske: Noch nicht. Im Moment wird der Saal für Proben genutzt, er ist klein, hat noch keinen Namen. Ich habe davon geträumt, ihn in Anlehnung an Homi Bhabha den „Dritten Raum“ zu nennen. Er sagt in seinem gleichnamigen Buch, wenn man einem Menschen aus einem anderen Kulturkreis ebenbürtig begegnen wolle, müsse man mit ihm einen dritten Raum eröffnen. In den letzten Jahren kam es zu viel Migration nach Europa, ich möchte Menschen die Gelegenheit geben, ihre Kultur zu erklären, ohne Geltungsanspruch für die Allgemeinheit. Ich habe dafür nur noch keine Finanzierung gefunden.

Wie bringt man das Konzerthaus in den digitalen Raum?

Matthias Naske: Ich sage offen, wir können es uns im Moment nicht leisten, mehr als die Hälfte unserer Einnahmen kommt aus dem Ticketing. Technisch wird es immer einfacher, wir sind gut ausgestattet, die Rechteabgeltung wird einfacher, das muss natürlich passieren.

Sie sind 54 Jahre alt, wie kann es nach dem Konzerthaus weitergehen?

Matthias Naske: Es gibt Projekte, die einen treiben und faszinieren. Ich träume davon, dabei behilflich zu sein, dass sich diese Stadt traut, eine neue Verortung für Exzellenz aus der Gegenwart heraus zu schaffen. Das wäre ein ganz anderer Raum als die Häuser im Zentrum. Im Moment bin ich im Konzerthaus froh, habe immer noch unglaublich viel Freude an Musik – diese Naivität bewahrt mich davor, müde zu werden.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Stefan Niederwieser

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