„Eine Art Analogie zu den Bildern von Edward Hopper” – RADIAN im mica-Interview

RADIAN ist längst zu einer Benchmark geworden, wenn es darum geht, akustische und elektronische Musik auf einzigartige Weise organisch zusammenzuführen. Ihr neues Album “Distorted Rooms” ist ein konzentriertes Werk von berückender Schönheit und großer dynamischer Bandbreite, dessen Musik zwischen Explosion und Implosion changiert, ohne harte Brüche zu scheuen, aber an den richtigen Stellen auch den Mut zur Stille beweist und gerade dann, wenn sie vermeintlich unterschiedliche Welten aufeinanderprallen lässt, eine seltsame, beinahe überwältigende Kraft entfaltet. MARTIN SIEWERT, MARTIN BRANDLMAYR und JOHN NORMAN sprachen mit Markus Deisenberger über den aufwendigen Entstehungsprozess des Albums und über echte und virtuelle Realitäten.

Ich erreiche euch per Zoom im Studio?

Martin Siewert: Im Aufenthaltsraum des Studios, ja.

Wo auch das aktuelle Album entstanden ist, nehme ich an?

Martin Siewert: Größtenteils. Wir haben hier gearbeitet, wir haben aber auch bei Martin Brandlmayr in Ebensee gearbeitet. Aber viele Aufnahmen und der Endmix sind hier entstanden.

Wie komplex war der Entstehungsprozess?

Martin Siewert: In guter, alter Radian-Tradition sehr komplex.

Ihr seid ständig im Studio, heißt es. Dort zu sein ist also quasi euer Alltag, oder?

Martin Siewert: Naja, ich bin zwar schon ständig im Studio, aber als Radian sind wir nicht ständig im Studio. Nur wenn wir einen Tonträger machen oder fertigstellen wollen, dann schon.

Warum war der Entstehungsprozess komplex? War es so wie immer oder doch anders?

Martin Siewert: Einerseits war es durch die Pandemie-Zeit anders, weil wir uns eine Zeit lang nicht am selben Ort treffen konnten. Sonst war es ähnlich wie bei vergangenen Radian-Produktionen, wo es immer ein mehrstufiger Prozess war, bei dem wir zuerst initial Material aufnehmen, das dann editieren und restrukturieren. Zu einem späteren Zeitpunkt wird das dann prozessiert. Es werden Dinge ersetzt. Es ist also kein linearer Kompositions- und Einspielprozess, sondern das Strukturgebende passiert oft erst mit bereits aufgenommenem Material. Ein Album entsteht also durch eine Mischung aus Spielen, Prozessieren, Remixen und Dinge über das bereits Aufgenommene drüber aufnehmen. Insofern ist das im Gesamten ein sehr, sehr aufwendiger Prozess.

Das heißt, dass sich die Dinge bis zuletzt auch noch stark verändern können?

Martin Siewert: Ja.

Das Schöne an eurer Musik ist aus meiner Sicht, dass die abstrakten Dinge in Kombination einen Groove, einen Sog und dadurch auch eine berückende Schönheit entwickeln. Was gibt für euch den Ausschlag, ein ganz bestimmtes Geräusch aufzunehmen? Habt ihr da ein ganz konkretes Klangbild im Kopf, dem dieses eine Geräusch dienen soll? Wird viel wieder verworfen?

Martin Brandlmayr: Es gibt oft ein Initial-Material, von dem wir alle das Gefühl haben, dass es interessant ist. Das kann alles Mögliche sein: Ein kleiner Schnipsel von einer Aufnahme oder etwas, das wir gemeinsam gejammt haben. Auf dem wird aufgebaut. Da kommt dann das eine oder andere dazu. Es wird stundenlang aufgenommen. Davon werden 98% weggeschmissen bzw. nicht ausgewählt. Oft werden nur kleine, sekundenlange Bausteine entnommen und im Stück verwendet.

Das heißt, man kann sich den Prozess skulptural vorstellen? Es wird Schicht für Schicht aufgetragen oder abgetragen, bis ein konkretes Werk entsteht?

Martin Brandlmayr: Ich finde das ein super Bild. Damit kann ich sehr viel anfangen, ja.

Auch der visuelle Anteil daran stimmt, d.h. es geht weniger darum, in der Zeit als räumlich zu arbeiten.

„Es gibt viele Inkarnationen der Stücke, die auf dem Album sind.“

Gibt es Momente, in denen ihr draufkommt, dass ihr euch in etwas verrannt oder einfach eine Zeit lang in eine falsche Richtung bewegt habt?

Martin Brandlmayr: Es gibt viele Inkarnationen der Stücke, die auf dem Album sind. Und da gibt es natürlich dann auch Varianten, die in eine Richtung gingen, von der wir dann wieder abließen, um ein, zwei Schritte zurückzugehen, um etwas Neues, Anderes, draus zu machen.

Martin Siewert: Ein gutes Beispiel ist der Opener „Cold Suns”, an dem wir in der Genealogie des Albums auch zuallererst gearbeitet hatten und auch schon relativ weit, aber nie 100%ig zufrieden mit dem Ergebnis waren. Da hat sich alles mit einem anderen Zugang zum Beat, zum rhythmischen Teil des Ganzen also, entknotet, und das erst zu einem sehr späten Zeitpunkt. Da sprechen wir von vier, fünf Jahren, nachdem wir angefangen hatten, an dem Stück zu arbeiten. Da schlich sich also nach so langer Zeit ein sehr prägendes Element ein, mit dem sich vieles andere auflöste.

Der Titel des Albums lautet „Distorted Rooms”. Spielt er auf die Verzerrung/Distortion oder eine andere Bedeutung des Wortes, nämlich die Grenzüberschreitung, an? Die Grenzüberschreitung im Raum ist ja in gewissem Sinne ein Paradoxon, in eurer Welt aber das Normale, wenn man sich in einen Raum wie euer Studio zurückzieht, um dort Grenzen zu überschreiten. Oder ist etwas ganz anderes damit gemeint?

Martin Brandlmayr: Grenzüberschreitung finde ich interessant. Für mich ging es mehr um verzerrte Räume oder Verschiebungen. Das kann sich auf das Material beziehen, wenn laute Dinge leise und leise Dinge laut werden und dahingehend auch Bedeutungsverschiebungen entstehen. Der Titel spielt aber schon auf die ganze Situation an, in der das Album entstand, während der Pandemie nämlich, als wir oft nicht gemeinsam im Studio sein konnten und uns dann Dinge schickten, was wir normalerweise nie tun, und in verschiedenen Räumen operierten.

John Norman: „Distorted Rooms“ hat für mich viel mit Aufnahmeprozessen zu tun. Für die Titelfindung war aber auch etwas verantwortlich, das nicht direkt auf dem Album hörbar ist, sondern sich mehr atmosphärisch niedergeschlagen hat, dass sich nämlich durch die Pandemie und die Lockdowns gesellschaftlich viele Dinge verschoben haben. Durch Verschwörungstheorien und dergleichen waren einst gute Freunde plötzlich miteinander zerstritten. Atmosphärisch haben sich da viele Dinge verschoben und verzerrt, und das hat man auch gespürt. Der Titel bezieht sich also nicht nur auf die produktionstechnische Entstehungsgeschichte, sondern auch auf die gesellschaftlich spürbaren Auswirkungen.

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Im Stück „Skyskryp12″ gibt es eine Stelle, wo einen die verzerrte Gitarre eine Weile begleitet und den Song in dauerhafter Distortion zum Crescendo vorantreibt. Sind es diese loop-basierten gitarrenverzerrten Muster, die einen wie Bilder begleiten, die eure Musik ausmachen?

Martin Siewert: In dem Stück ist es tatsächlich ein Charakteristikum, dass diese sehr epische, mit diversen Bitcrashing-Algorithmen prozessierte Breitwandgitarre erst gegen Ende als solche hörbar wird. Über weite Strecken ist die akustisch mikrofonierte E-Gitarre, die genau dasselbe spielt, das Einzige ist, was im Mix hörbar ist. Indem der Breitwand-Sound erst gegen Ende aufblitzt, wo er gezielt für diese Apotheose eingesetzt wird, spielen wir mit der Erwartung. Vorher ist die Gitarre nur andeutungsweise, fast schon als Fehler zu hören,

ganz schmal und scheppernd. So wird eine Erwartungshaltung geschaffen, die erst wesentlich später eingelöst wird. Mit solchen Dingen spielen wir gerne. Ich würde „Distorted Rooms” schon auch auf die Möglichkeit verschiedener Sichtweisen oder Perspektiven beziehen. Als eine Art Analogie zu Bildern von Edward Hopper, die nur auf den ersten Blick harmonisch erscheinen, bei näherem Hinsehen aber lauter merkwürdige Winkel und Perspektiven offenbaren, die in der wirklichen Welt gar nicht möglich sind. So sehe ich das bei uns auch. Dinge aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und wahrnehmen zu können und sich zu fragen: Was ist real? Was ist akustisch und was ist elektronisch generiert? Die Frage nach echten und virtuellen Realitäten. Das ist eine Deutungsmöglichkeit, aber wir wollen gar nicht vorgeben, wie ein Titel zu deuten ist.

Ich wurde erst gestern gefragt, wie Radian denn eigentlich klinge. „Gute Frage”, habe ich geantwortet. „Das ist ein eigener Kosmos, und er hat, obwohl abstrakte Musik, einen hohen Wiedererkennungswert. Tatsächlich würde ich Radian aus hunderten Platten zeitgenössischer elektronischer Musik heraushören. Diese breite Dynamik, das gerade erwähnte Spiel mit den Erwartungshaltungen. Das ist unverkennbar Radian. Aber jedes Album bringt trotzdem auch etwas Neues.“ Was wäre das aus eurer Sicht, was das Album speziell macht?

Martin Siewert: Dass das Gitarren-Material, das die Identität der Stücke definiert, abstrahierter oder weniger konkret ist als etwa auf dem letzten Album. Es gibt durchaus Stücke, die von ehemals Gitarre-generiertem Material ihren Ausgang genommen haben, aber meistens loop-basiert und weniger als gespielte oder spielbare Gitarre. Da gibt es schon einige Stücke, die auf seltsamen Loops basieren, die in teils improvisatorischen Prozessen passiert sind, die aber gar nicht mehr eindeutig als Gitarren dechiffrierbar sind also vom Klangbild her durchaus auch Synths sein könnten. Das gilt ebenso für den Bass. Auch da gibt es ein paar Ostinati, die auf eine andere, abstrahiertere Art und Weise als beim letzten Album entstanden.

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Martin Brandlmayr: Wir haben dieses Mal auch mehr mit Patterns auf elektronischer Basis gespielt, wo wir durchaus auch mit konkretem Material, mit Drum-Machines arbeiteten. Bei „Cold Suns” etwa, dem ersten Stück des Albums, gibt es eine ganz prominente Drum Machine. Auch bei „Stak” gibt es einen 4-to-the-floor Beat, mit dem wir spielen. Dass wir nicht nur mit abstraktem Material spielen und versuchen, uns in einem möglichst hermetisch abgeschlossenen Raum zu bewegen, der nicht zuordenbar ist, würde ich schon als neu bezeichnen. Das war eine bewusste Entscheidung wie auch jene, dass wir mit Genres spielen. Dass da ab und an etwas in den Raum geworfen wird, durchaus auch konkreteres Material wie Techno oder Rock, dass wir also ein Genre quasi andeuten und damit auch spielen und uns dieses Mal mehr mit Atmosphäre beschäftigt haben.

„Wenn wir mit Genres spielen, dann ist es ja oft nur ganz zart angedeutet.“

Alles, was du jetzt gesagt hast, also mal hier dieses Genre, dann wieder ein anderes anzudeuten, würde dem Gefühl, das ich beim Anhören hatte, eigentlich widersprechen, dass die Musik nämlich so homogen wie nie zuvor ist. Ich fühlte mich beim Hören mehr als einmal an einen Soundtack zu einem imaginären Film erinnert.

Martin Brandlmayr: Wenn wir mit Genres spielen, dann ist es ja oft nur ganz zart angedeutet. Das Filmische begleitet uns in den letzten Jahren intensiv und immer wieder, und hat auch für dieses Album eine starke Rolle gespielt. Material, das wir z.B. für „Cold Suns” verwendet haben, ist im Zuge der Arbeiten an einem Film entstanden, den wir gemeinsam mit Billy Roisz und Dieter Kovacic erarbeitet haben. Wir haben mit den beiden auch ein paar Mal live gespielt. Aus Versatzstücken dieses Materials, die wir dann weiterentwickelt haben, wurde das erste Stück gebaut. In der Mitte findet sich auch der Teil eine Live-Performance von uns, d.h. von Radian gemeinsam mit Roisz und Kovacic.

Das heißt, eure Arbeit an Soundtracks hat einen ganz konkreten Einfluss auf das Album genommen?

Martin Brandlmayr: Ja, auf jeden Fall.

Ihr habt wieder auf dem Chicagoer Label Thrill Jockey veröffentlicht. Ist das schon eine eingespielte Geschichte? Und bringt sich das Label ein oder lässt es euch gewähren und schaltet sich erst dann ein, wenn ihr die fix fertigen Bänder abliefert?

John Norman: Eher das letztere. Die bringen sich nicht ein, die streichen nichts und machen uns auch keine Vorschriften. Sie bekommen das fertige Master und dann bekommen wir einen Kommentar.

Und was war das für ein Kommentar? “Super Album”?

John Norman: Das war tatsächlich: “Whoah, what an album.” Und eine der techno-beeinflussten Nummern hat besonders gefallen. Ich weiß nicht mehr, ob es „Stak” oder „Cicada” war. Auf den letzten Alben gab es ja auch nie eine auf 4-to-the-floor-basiertem Beat aufbauende Nummer. Das war auf der rhythmischen Ebene schon etwas Neues.

Würdet ihr sagen, es ist deshalb oder auch aus anderen Gründen euer zugänglichstes Album?

John Norman: Zugänglichkeit und Radian waren immer Sachen, die sich nicht so gut vertragen haben, aber auf eine gewisse Art und Weise schon, obwohl ich unser letztes Album auch schon recht zugänglich fand, vielleicht auf eine andere Art und Weise.

Stichwort: Live-Umsetzung. Dass ihr das, was man auf Platte hört, 1:1 genauso auch live spielt, so wie das viele Pop-Bands gerne machen und es von einem bestimmten Publikum auch erwartet wird, kann ich mir kaum vorstellen. Bei euch darf ich mir da sicher teils Neues erwarten, oder? Wie ist das mit der Umsetzung?

Martin Siewert: Komplex.

John Norman: Wir haben nicht nur an den Studio-Fassungen, sondern auch an den Live-Fassungen sehr lange gearbeitet. Wenn jemand die Studio-Fassungen in- und auswendig kennt, würde er die Nummern schon wiedererkennen, aber grundsätzlich sind die Versionen schon durchaus anders als auf Platte.

Entwickeln sich die Versionen auch weiter?

John Norman: Die meisten Sachen schon, ja.

Martin Siewert: Es gibt natürlich auch Dinge, die man live aus ganz pragmatischen Dingen anders gestalten muss als auf Platte. Bei meinen Gitarren-Parts etwa sind manche Loops einfach nicht in der Form live reproduzierbar, weshalb ich live auch mal nur Sampler spiele und nicht Gitarre. Änderungen im Live Set Up gibt es also, aber nicht in ein einem riesigen Ausmaß, aber doch so, dass ich auf der Bühne bei zumindest einem Stück im gleichen Maße Sampler wie Gitarren bediene.

Ihr habt das Album vergangenen Frühling schon vorab auf dem Donaufestival vorgestellt. Wie war das?

John Norman: Herausfordernd, weil es eine Challenge war, bis zu diesem Zeitpunkt das Live-Material unter Dach und Fach zu bringen. Von der Response her war es super.

Vielen Dank für das Gespräch.

Markus Deisenberger

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