Ein radikaler Erforscher neuer Klangwelten: PIERLUIGI BILLONE im mica-Porträt

Jedes Musikinstrument erreicht seine Vollkommenheit dadurch, dass zu seinen Eigenschaften ein ganzes Erbe an körperlichen Wahrnehmungen und Fähigkeiten hinzukommt, welches im Umgang mit der Materie, mit der Klangvorstellung und mit der Spiel- und Hörkultur, die es hervorgebracht hat, entstand. Mithilfe dieser Wachsamkeit (und einer fast archäologischen Feinfühligkeit) betrete ich Instrumentalräume, die mir noch unbekannt sind. Durch das konkrete Tun der InterpretInnen prägt sich die Klangpraktik und -intelligenz dem Körper und dem Raum ein, in der rituellen und impersonellen Dimension des gemeinschaftlichen Hörens.

Der 1960 in Italien geborene und seit Langem vor allem in Wien lebende Pierluigi Billone hat eine auffallend große Zahl von Solo- und Duostücken komponiert, auch in den größer dimensionierten Ensemble- und Orchesterwerken spielen SolistInnen oft eine wichtige Rolle. Mit Schlagzeugern wie Christian Dierstein und Adam Weisman, der Fagottistin Lorelei Dowling, der Bratschistin Barbara Maurer, dem Akkordeonisten Krassimir Sterev, dem Gitarristen Yaron Deutsch, dem Klarinettenduo Stump-Linshalm und den Sängern Frank Wörner und Alda Caiello, für die er Solostücke und Soloparts schrieb, verbindet ihn eine enge Zusammenarbeit. Trotzdem ist er es, der seinen Willen durchsetzt, ohne auf Trends und Moden zu achten, er agiert als Komponist völlig eigenständig und auch eigenwillig. Beim Hören seiner Musik vermeint man fast, einen kultischen Raum zu betreten, in dem sich im Verlauf von zwei, drei Sekunden alles völlig ändern kann, obwohl die lineare Zeit außer Kraft zu sein scheint.

Instrumentale Forschung, akribische Konzeption seiner Werke und unkonventionelles kompositorisches Denken prägten den Schüler von Salvatore Sciarrino und Helmut Lachenmann. Seine Musik wurde vom Klangforum Wien, dem Ensemble Intercontemporain, dem Ensemble Modern, dem Ensemble Recherche, dem Ensemble Contrechamps und anderen aufgeführt und er ist bei Festivals wie den Donaueschinger Musiktagen, Wien Modern, den Wittener Tagen für neue Kammermusik, der Ars Musica Bruxelles und dem Festival d’Automne à Paris zu hören. Mit Unterbrechungen unterrichtete er bis 2012 an der Kunstuniversität Graz, wurde mehrfach zu Gastvorträgen und Kompositionsseminaren, unter anderem nach Darmstadt, eingeladen und ist Träger zahlreicher Preise.

„Die Hand eines menschlichen Wesens ist der privilegierte Ort des Kontakts mit der Welt.“

Ab den 1990er-Jahren wurden Werke von Pierluigi Billone vor allem in Berlin und Stuttgart aufgeführt, allerdings kam es bereits 1992 auch in Wien zu einer Aufführung des Ensemblewerks AN NA durch das Klangforum Wien. Nach einer Rückkehr nach Italien kehrte Billone seinem Land den Rücken und ließ sich 2004 in Wien nieder, entscheidend dafür waren auch seine Verbindungen zu MusikerInnen des Klangforums. Mehrere Solostücke waren für Fagott entstanden, und bereits 2001 wurde ein Werk unter dem Titel „Mani“ uraufgeführt, einer bis 2012 wiederkehrenden Serie dieses Namens. „Mani.Long“ war ein Auftrag des Klangforums Wien und Billone erhielt für diese Komposition fünf Jahre später den Ernst-Krenek-Preis.

„Die hörende Hand trifft, entdeckt und durchquert in ihrer Arbeit auch die Spuren möglicher Wegstrecken und Verbindungslinien, wie Straßen, Brücken, Plätze einer Stadt, die es noch nicht gibt. Sie folgt ihnen, wie ein Fuß es täte (ungeteiltes Zusammenwirken aller Fähigkeiten). Während sie sich mit den Maßen und Entfernungen des Ortes vertraut macht, sucht und findet sie geduldig einen Weg. Es wird Aufgabe der schreibenden Hand sein, diesen Anfang fortzusetzen, zu verdichten und auszubreiten, ohne dass seine Frische verloren geht.“

In dem für den SWR geschriebenen Aufsatz über „Mani. De Leonardis“ (einem Stück für vier Autofedern und Glas, das der Perkussionist Christian Dierstein 2004 in Donaueschingen aufführte), zitiert Billone den italienischen Künstler Federico De Leonardis und dessen „Breve storia de la mano“ („Kurze Geschichte der Hand“): „Es wird allgemein angenommen, die Menschen hätten zwei Hände. Für mich gibt und gab es nur ganz wenige, welche wirklich so viele Hände besitzen, wie Mutter Natur uns verleiht. Giacometti war einer von ihnen: Die Rechte erweiterte, modellierte und formte, die Linke ritzte, entfernte und höhlte aus. Der Kopf saß genau dazwischen.“ „Mani. Giacometti“ (2000), ein Trio für Violine, Viola und Violoncello, ist übrigens das erste der Mani-Serie. „Eine halbe Stunde lang passiert in seiner Musik fast nichts“, schrieb Klaus Georg Koch in der Berliner Zeitung. „Ihr ganzes Pathos liegt in allerkleinsten Differenzen, die im Spiel der drei Streicher entfaltet werden, Differenzen zwischen zwei Intonationen der gleichen Sache, zwischen Knarzen und Knarren, Murmeln und Flüstern entsprächen dem an Bedeutung, was wir etwa in einem Streichquartett von Beethoven hören […] Form entsteht vor allem durch die Kontinuität des Zuhörens, und durch die Einheitlichkeit, die dem Ausschluss fast aller Klänge und Musiken, die in den Holzkörpern der Instrumente auch noch liegen würden, folgt.“ Unter diesem „Mani“-Titel entstanden auch bedeutende Solowerke, darunter vor allem für Schlagzeug bzw. explizit für Klangschalen, ChinaOpera- und tief liegenden Thai Gong, 2 Platten-Glocken („Mani. Δίκη“), oder für Marimba, Logdrums und Woodblock („Mani.Matta“).

Unter dem Motto „Soltanto Solo“ wurden bei der Konzertreihe open music in Graz im Juni 2014 drei solitäre Solostücke aufgeführt, darunter „Mani.Stereos“ (2009) für Akkordeon: Der Widmungsträger der Komposition, Krassimir Sterev, erzeugte eine ganze Palette an neuen Klangfarben, indem er das Instrument pochend, streichelnd, mit Vibrati und klopfend bearbeitete. Die ausgezogenen Falten des Instruments erschienen wie ein vergrößerter Lungenflügel des Interpreten. Auch Lorelei Downing demonstrierte in „Legno.Edre V. Metrio“ für Fagott, zu welchen Spielarten Instrument und Instrumentalistin imstande sind. Neben Mikrotönen, Multiphonics und nahtlosen Glissandi entstehen in manchen Passagen zwischen zwei oder gar drei Tönen, die als Einzelklänge unhörbar bleiben, Interferenzen und Schwebungen in allen möglichen Dichten und Geschwindigkeiten. Billone gelingt es, das Fagott nicht mehr wie ein Fagott klingen zu lassen, sondern wie einen ganz neuen, unbekannten Klangerzeuger. Über eine CD-Einspielung durch ein Mitglied des Ensembles Modern schrieb ein Kritiker: „Billones Meisterwerk führt die archaische Herkunft des Fagotts aus Erde und Ahorn in die avantgardistische Zukunft einer magischen Mehrklang-Ballade mit mikrotonalen Klangfärbungen, komplexen rhythmischen Schwebungen und vokalähnlichen Schwingungen.“ In Graz schließlich war Yaron Deutsch der dritte der Solisten. Er spielte „Sgorgo Y“ (2012) für E-Gitarre, das er demnächst zusammen mit „Sgorgo N“ (2013) bei MärzMusik in Berlin aufführen wird. Berno Odo Polzer, der langjährige Kurator von Wien Modern, hat Billone neben weiteren Österreichern wie Eva Reiter, Bernhard Gander und Peter Ablinger zum nunmehr von ihm betreuten Festival eingeladen, bei dem Billone auch beim Eröffnungsevent „Liquid Room“ mit dem Ictus-Ensemble und dem Ensemble Mosaik am 20. März 2015 dabei ist. Dort soll ein neues Format mit kammermusikalischer Musik in langer Zeitstrecke erprobt werden, das die Konventionen des Konzerts aufbricht und eine Art Live-Streaming von Musik in Gang setzt.

Einen Glanzpunkt der solistischen Solo-Kreationen stellt das auf immer wieder in Programmen zu findende, immerhin 70-minütige Bassklarinetten-Duo 1#1=1 dar, das im Auftrag der Jeunesse entstand und von Petra Stump und Heinz Peter Linshalm sowohl im Rahmen des eigenen Zyklus Fast Forward. 20:21 als auch bei Wien Modern gespielt wurde. „Ein Tropfen plus ein Tropfen ergibt einen größeren Tropfen, nicht zwei“, sagt der eigensinnige Domenico in Andrej Tarkowskis Film „Nostalghia“ und das ist das titelgebende Motto für Billones Stück. Auf zwei Podien im Abstand von fünfzehn Metern entfalten die beiden Solisten einen engen Dialog, werfen einander wie Bälle ihre Statements zu, niemals (eine ganz kurze Stelle ausgenommen) im Unisono-Einklang, stets asymmetrisch. Zart, aber auch heftig, meditativ und expressiv ist diese Zwiesprache, die so etwas wie Multiphonie und auch „impersonelle Dimension“ im Raum entwickelt, mal verdünnt, mal gestreut, einmal artikulierter, einmal unbestimmter. Silben werden zu Sätzen geformt, das bricht immer wieder ab, andere Töne, auch des Unsagbaren, Magischen, emotional Mehrdeutigen werden gesucht. Ein Stück für offene Ohren.

Ensemble- und Orchesterwerke

Natürlich hat Pierluigi Billone auch Musik für Orchester komponiert, aber auch die zumeist in Verbindung mit SolistInnen. So ist etwa „Scrittura.Presenza“ für E-Gitarre, Röhren und Orchester, 1999 vom WDR-Orchester uraufgeführt, neben Perkussion und Elektronik vor allem mit Blasinstrumenten besetzt. Das mit der Sopranistin Alda Caiello und dem Posaunisten Andreas Eberle 2007 in Wien vom ORF Radio-Symphonieorchester aufgeführte „Bocca.Kosmoi“ lässt in der Stimme eine „stilisierte Litanei“ hören oder wird wie ein Instrument behandelt, während die Posaune unabhängig davon zum „Mund“ wird. Die in Gruppen zusammengefassten und in einer speziellen Sitzordnung verteilten Orchesterinstrumente stellen einen sich verändernden Raum, eben den „Kosmos“, dar. In seinen „Phonogliphi“ für Stimme, Fagott und Orchester entfaltete Billone wiederum „ein subtiles Wechselspiel zwischen dem, wie er es nennt, ‚Orchesterkörper’ und den beiden Solisten, die im ‚Körper’ als ‚Herzen’ funktionieren. Billone entwickelt mit den beiden „Klangkörpern“ ein differenziertes Klangspiel voller zeichenhafter komponierter Gesten“, schrieb der kürzlich leider verstorbene Gerhard Rohde 2011 über Donaueschingen.

Andreas Eberle, der allerdings dann bei der Aufführung in Wien nicht spielte, ist einer der Widmungsträger des Ensemblewerks „Ebe und anders“ (2014), das im Auftrag der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung entstand; das „anders“ bezieht sich auf den Trompetensolisten des Klangforum Wien. „Trompete und Posaune bilden zusammen ein einziges Instrument, wie es oft in meinen Ensemblestücken mit Solisten der Fall ist. Folglich entwickelt sich das Stück wie eine ritualisierte Klangreise durch die expressiven (bekannten und weniger bekannten) Möglichkeiten der beiden Instrumente – wobei neben experimentellen Techniken auch gefrorene Spuren des Jazz erscheinen“, so Billone. Vielleicht, möchte man hinzufügen, ist „Ebe und anders“ auch als etwas ebe(n) anderes und Neues zu verstehen.

Heinz Rögl

Foto Pierluigi Billone 1 © Benjamin Chelly
Foto Pierluigi Billone 2 © Manu Theobald/Ernst von Siemens Musikstiftung

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