Lange wollte ich schon ein Interview mit Elisabeth Schimana machen. Ich hatte sie auf diversen Festivals gehört und beim Heroines of Sound Festival 2017 konnte ich ein Gespräch mit zahlreichen Protagonistinnen moderieren, bei dem sie über ihr Forschungsinstitut IMA berichtete. 2019 war ich tief beeindruckt von ihrem Projekt „The Art of Reproduction“ – mit Ausstellung, Festival und Wahllokal in St. Pölten. Inzwischen wohnte ich in Wien und schon vor Jahren lud sie mich in ihr Wiener Studio ein, aber wieder vergingen einige Jahre. Als sie 2022 den Preis für Musik der Stadt Wien erhielt war dies ein perfekter Anlass, um die Idee endlich in die Realität zu überführen. Und im Dezember 2023 war es endlich so weit, inzwischen war sie mit ihrem Studio aufs Land gezogen, nach St. Aegyd am Neuwalde in Niederösterreich, wo ich sie zum Zweck einer ausführlichen Konversation besuchte. Ihr Leben als Musikerin umfasst viele Jahrzehnte und Lebensabschnitte an verschiedenen Orten in Österreich sowie in Moskau (RU) oder York (UK), die das folgende Gespräch nachvollzieht. Dies ist der erste von zwei Artikeln über Elisabeth Schimana. Ein weiteres Interview, das die musikalische Praxis von Elisabeth Schimana fokussiert erfolgte 2024 und wird 2025 erscheinen.
Elisabeth, es freut mich, dass wir uns jetzt endlich sprechen. Ich habe kürzlich gelesen, dass du in Innsbruck geboren bist. Aber über diese Zeit habe ich nur wenig gefunden. Wie war es in Innsbruck aufzuwachsen? Und wie und wann bist du dann weg aus Innsbruck?
Elisabeth Schimana: Ja, ich bin in Innsbruck aufgewachsen, genauer gesagt im Stadtteil Wilten, der früher als Arbeiterstadtteil bekannt war. Die meiste Zeit meiner Kindheit habe ich bei meiner Urgroßmutter verbracht. Mein Großvater war Berufsmusiker, ein Unterhaltungsmusiker. Er spielte Ziehharmonika, sang, und begleitete sich gleichzeitig auf der Hi-Hat – alles gleichzeitig und irgendwie mit viel Charme.
Ich erinnere mich, dass mein Onkel Geige gelernt hat und meine Mutter Klavier spielte. Später, als Jazz populär wurde, begann sie auch Trompete zu spielen. Musik war jedenfalls immer ein großes Thema in unserer Familie. In der Volksschule war ich im Chor, und später habe ich Gitarre gelernt.
Dann kam eine schwierige Phase in der Familie, und ich wurde in ein Internat geschickt. In den 70er-Jahren habe ich in Innsbruck Straßenmusik gemacht, zusammen mit einer damaligen Freundin. Ich spielte Gitarre, sie Flöte, und wir haben in der Hippie-Zeit Songs von Bob Dylan und anderen dieser Richtung interpretiert. Wir standen auf der Straße, hielten ein Hütchen hin – genau so, wie man es heute noch oft sieht.
„Es gab eigentlich nur zwei Berufe – entweder Skilehrer oder Taxifahrer.“
Innsbruck ist ja immerhin die Hauptstadt von Tirol, und ich kenne es nur aus den 2010ern, und da ging schon relativ viel kulturell für so eine kleine Stadt. Wie war das damals in den 1970ern mit der Kultur dort?
Elisabeth Schimana: Also in den 1970ern war es eher schwierig, extrem schwierig. Es gab eigentlich nur zwei Berufe – entweder Skilehrer oder Taxifahrer. Also es hat alles immer irgendwie mit Tourismus zu tun gehabt. Auch die meisten Leute aus der Szene waren Skilehrer oder dann letztendlich Taxifahrer, um sich ihr Geld zu verdienen. Es gab halt das Café Central, das gibt es eh immer noch, und das war so der große Treffpunkt von allen möglichen Kulturmenschen. Aber viele gingen damals schon nach Wien. Ganz viele. In erster Linie Künstler, da muss man fast männlich bleiben, denn die Szene war sehr männerdominiert. Es gab sonst nur einen einzigen Jazz-Club in der Altstadt.
Gab es diesen Kulturverein Utopia da schon?
Elisabeth Schimana: Damals gar nichts. Es gab das MK Jugendzentrum, das ging aber alles von der Kirche aus. Und sonst war eigentlich nicht viel.
Und du wolltest nicht Skilehrerin werden oder Taxifahren?
Elisabeth Schimana: Nein, es war insgesamt eine schwierige Zeit. Es war die Hippie- und Drogenzeit, und auch familiär gab es viele Probleme. Letztendlich zog es mich oft Richtung Wien. Dort gab es den Flohmarkt am Hof, das Kleine Café und eine ganz andere Szene. Viele Leute aus Innsbruck waren bereits nach Wien gegangen. Gegen Ende der 1970er Jahre war ich viel unterwegs, vor allem mit Menschen, die in der Jazz-Szene zu Hause waren.
Das war ja auch ein wichtiger Einfluss damals, wenn man nicht an Volksmusik oder Klassik interessiert war. Wie alt warst du denn, als du nach Wien gegangen bist?
Elisabeth Schimana: Ja, es war nicht so, dass ich ganz nach Wien gegangen bin – ich war immer wieder mal dort, aber eigentlich in Tirol stationiert. So richtig in Wien gelebt habe ich erst mit 22 oder 23 Jahren. Dazwischen gab es eine lange Phase, in der ich überhaupt nichts mit Musik gemacht habe.
In Wien habe ich dann wieder angefangen, Musik zu machen, vor allem habe ich wieder viel gesungen. Ich nahm Gesangsstunden bei einer älteren Dame und lernte auch ein wenig Klavier, wobei der Schwerpunkt auf dem Gesang lag. Das war in den frühen 1980er Jahren. In dieser Zeit hatte ich meine erste Band, Combo Forte.
Ich war auch beim sogenannten Thermotheater aktiv – einer Gruppe rund um den bildenden Künstler Bernd Fasching. Das war damals etwas sehr Besonderes, weil die Initiative von jemandem aus der Bildenden Kunst ausging, aber Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen beteiligt waren. Heute würde man das wohl als Performance-Kunst bezeichnen, denn wir haben wirklich performt.
Damals gehörte das Palais Liechtenstein noch zum 20er-Haus, das heutige 21er-Haus, und dort war noch der Schrage. Wir hatten Auftritte im Herkules-Saal des Palais Liechtenstein. Das war schon eine ziemlich verrückte Erfahrung, weil der Raum extrem aufgeladen und beeindruckend war.
Unsere Performances arbeiteten mit Grundelementen wie Erde und Metall, und wir erzeugten den Sound direkt während der Performance, indem wir Metall schweißten – und das nackt. Ich glaube, so etwas wäre heute undenkbar. Man würde niemals die Erlaubnis bekommen, in einem solchen Raum so etwas Verrücktes zu machen.
Wer war da noch dabei beim Thermotheater? War das so eine Art Happening? Das kam dann ja auf in dieser Zeit.
Elisabeth Schimana: Nicht wirklich ein Happening, sondern eine sehr konzentrierte Performance, bei der es stark um den eigenen Körper ging. Ob es nun das Schütten von Farben, das Schweißen oder andere völlig absurde Aktionen waren – alles drehte sich um eine intensive körperliche Erfahrung. Die Truppe ist dann, wie viele andere Gruppen dieser Zeit, letztendlich zerfallen. Grund dafür war der Machtanspruch der Gründerperson, den die Gruppe nicht mehr akzeptieren wollte. Es erinnerte ein wenig an die Dynamik der Mühl-Kommune – alles kreiste um Fragen der Macht und Hierarchie.
Wenn man an so einem Projekt arbeitet, macht man alles gemeinsam: man isst zusammen, arbeitet zusammen, bespricht alles zusammen. Aber am Ende erhebt doch oft eine Person den Anspruch auf Kontrolle. Viele aus dieser Zeit sind inzwischen verstorben. Damals war unter anderem Alpi Schwarzenberger dabei, ein absoluter Stern am Grafikhimmel. Er machte herausragende Grafiken im Stil der 1950er-Jahre und wurde sehr bekannt. Alpi gestaltete quasi für die gesamte Szene.
Dann gab es noch Fritz Fritzke, der in die Projektionskunst ging und dadurch ebenfalls sehr bekannt wurde. Damals stand diese Kunstform noch am Anfang. Alpi, Fritz und ich waren sozusagen die drei Hauptfiguren der Gruppe, und wir holten uns immer wieder Musiker und Musikerinnen dazu – besonders für unsere Band Combo Forte.
Unter ihnen war zum Beispiel auch Lothar Scherpe, der viel Musik für österreichische Fernsehserien gemacht hat. Musikalisch bewegten wir uns in einer Mischung aus Jazz und Ska-Rhythmen, irgendwo im Stil von Sade und Soft-Jazz. Es war diese besondere Zeit der 1980er-Jahre.
Wir traten unter anderem im U4 auf – damals das Lokal in Wien. In den 1980er-Jahren war das U4 der angesagteste Ort, und dort spielen zu dürfen, war wirklich etwas Besonderes! Diese Wiener Szene war unglaublich vielfältig, mit Künstlern wie Ronnie Urini und Mo, die eine Art Wiener Popmusik gemacht haben.
Und hast du damals auch in so kollektiven Strukturen gelebt?
Elisabeth Schimana: Nein. Also ich habe schon in einer WG gelebt, lange Zeit, mit meinem ältesten Sohn. Und da hat sich Wien für mich erschlossen, sozusagen. Also erst einmal durch diese quasi Wiener Szene… Bands wie Viele Bunte Autos und Orte wie die Blue Box. Es gibt eh einen Film aus der Zeit, „Exit … Nur keine Panik“, wo diese Wiener Szene vorkommt. Es war doch eine sehr spannende Zeit. Und dann kam die Zeit meiner Band Combo Forte, die dann letztendlich auch zerbrochen ist. Und ich war die Einzige, die wirklich in der Musik geblieben ist. Und ich habe dann Leute kennengelernt, die eben die sogenannte ELAK, den Lehrgang für Elektroakustische und Experimentelle Musik, gemacht haben. Ich hatte einen Freund, der Tuchacek Alexander, der dann mit der Gruppe Knowbotic Research ein relativ bekannter Medienkünstler wurde.
„Und ich habe mir gedacht: jetzt ist aber bald mal genug, ihr macht jetzt mal gar nichts mehr, ich mache das selbst.“
Und der hat gesagt, wäre die ELAK nicht was für dich?
Elisabeth Schimana: Nein, so war das nicht. Das waren zwei Brüder, die Tuchaceks. Der eine war Schlagwerker, der andere hat Gitarre gespielt und nebenbei die ELAK gemacht. Gerhard Trimmel war am Computer dabei, und wir haben zusammen geprobt. Damals habe ich mit der Stimme sehr experimentell gearbeitet und mich auch ein wenig in andere Bereiche eingebracht.
Durch die Praxis haben sich bei mir bestimmte Klangvorstellungen entwickelt. Die anderen, alles Jungs, meinten dann oft: „Das müsste jetzt so oder so klingen, wir machen das schon.“ Und ich dachte mir irgendwann: „Jetzt reicht’s, ihr macht gar nichts mehr – ich mache das selbst!“ Das war der Moment, in dem ich beschlossen habe, die ELAK zu machen. Meine Klangvorstellungen wurden immer präziser, und ich wusste, dass ich das selbst umsetzen musste.
Gleichzeitig hatte ich eine weitere Gesangslehrerin, Elli – ihren richtigen Namen weiß ich leider nicht mehr. Sie war unglaublich. Ich war gerade auf der Suche und bin, wie es oft so ist, über andere Menschen zu ihr gekommen. Sie war damals schon 93 Jahre alt, aber ihre Energie und ihr Wissen waren beeindruckend.
Wow!!
Elisabeth Schimana: Sie war einfach unglaublich! Zu der Zeit war ich nicht gerade in bester Verfassung, und sie hat gleich zu Beginn eine Turnübung gemacht: gerade stehen, sich vorbeugen, die Hände auf den Boden legen. Dabei fragte sie: „Wie geht es dir heute?“ Das Einzige, was bei ihr nicht mehr so gut funktionierte, war, dass sie oft vergaß, wenn etwas auf dem Herd stand. Aber ansonsten war sie völlig fit und voller Energie.
Ich hatte damals sehr wenig Geld, doch sie hat mich einfach aufgenommen. Vermutlich hat sie etwas in mir gesehen, das sie fördern wollte. Ich war dann etwa drei Mal in der Woche bei ihr. Ihre Herangehensweise war außergewöhnlich: Sie dachte nicht in den klassischen Kategorien wie Alt oder Sopran. Für sie musste die Stimme nahtlos durch alle Lagen fließen. Ihre Übungen waren so gestaltet, dass man über die Brüche, die normalerweise zwischen den Stimmregisterlagen existieren, hinwegkommt. Für sie gab es diese Brüche einfach nicht.
Durch diese Arbeit habe ich enorm an Stimmumfang gewonnen. Gleichzeitig machten wir klassische Gesangsübungen, wie sie etwa in Die Kunst der Kehlfertigkeit von Lütgen beschrieben sind. Sie hatte eine klassische Ausbildung und war darin hervorragend – sie hatte sogar studiert, was damals keineswegs selbstverständlich war.
Ihr Neffe arbeitete in einem Klavierhaus auf der Mariahilfer Straße, und sie entschied, dass ich ein Klavier brauchte. Also bekam ich tatsächlich ein Klavier und musste bei ihr Klavier lernen. [lacht]
Damit du Stimmübungen zu Hause machen kannst?
Elisabeth Schimana: Nein, weil das muss man einfach lernen. Und dann hatte sie noch die Idee, dass ich Französisch lernen muss [lacht]. Also bin ich zu ihr gegangen und habe Französisch gelernt. Sie hat mich quasi wie eine Privatschülerin aufgenommen. Und das war schon super, das war wirklich eine wahnsinnig schöne Erfahrung! Das war noch vor der ELAK.
Du hast von deinem Sohn gesprochen, warst du damals alleinerziehend?
Elisabeth Schimana: Ja, ich war alleinerziehend, habe aber damals mit einer anderen Frau zusammengelebt, die ebenfalls ein Kind hatte. Das hat gut funktioniert, weil wir uns abgewechselt haben. Ich habe schnell verstanden: Allein mit einem Kind – das ist der Horror, das geht einfach nicht.
Zu der Zeit habe ich auch im WUK gearbeitet. Gemeinsam mit Christian Pronay habe ich den gesamten Veranstaltungsbetrieb aufgebaut, der damals noch nicht existierte. Das war ein Erfolg, und ich hätte damit gut ins Kulturmanagement gehen können. Aber ich stand vor der Entscheidung: Kulturmanagement oder Musik? Und schließlich habe ich mich wieder für die Musik entschieden.
Im WUK habe ich mit Manfred Winter ein Festival organisiert, das Obligat hieß. Das war überhaupt die erste große Veranstaltung im WUK. Der Saal war damals noch eine Ruine – mit Säulen, roh und ungestaltet. Genau solche Räume mag ich, weil sie noch nicht definiert sind und akustisch unglaublich interessant sein können.
Bei diesem Festival habe ich das Plattenlabel nato records kennengelernt. Dahinter steckte ein Franzose, der Künstler wie John Zorn, Arto Lindsay, Kahondo Style, die gesamte englische Improvisationsszene, Steve Beresford, Tony Coe und andere produzierte. Einige von ihnen waren auch bei unserem Festival dabei, darunter der Klarinettist Alan Hacker.
Das Festival war unglaublich spannend. Zum Beispiel Alan Hacker: Er saß im Rollstuhl und fuhr während seines Auftritts mit dem Rollstuhl durch das Publikum, während er Mozart spielte – das war eine beeindruckende Erfahrung. Oder Kahondo Style, die Improvisationsmusik machten. Max Eastley zeigte eine Installation.
Der englische Kulturattaché vom British Council war so begeistert vom Festival, dass er mir anbot, zwei Monate Aufenthalt in England zu finanzieren, wenn ich dorthin wollte. Also habe ich beschlossen, nach England zu gehen.
Ich hörte auf, im WUK zu arbeiten, brachte meinen Sohn Matthias zu meiner Mutter – er war noch nicht in der Schule, also war das gerade noch möglich – und ging nach England. Ich verbrachte einen Term in York, wo damals viele der Musiker aktiv waren. Alan Hacker unterrichtete dort, und die Leitung hatte John Painter, der ein Buch über Musikpädagogik und Musik in der Community geschrieben hat.
In York konnte ich mir aussuchen, welche Kurse ich besuche. Ich wählte Musik in der Community, Improvisation, Gamelan und frühe bzw. Alte Musik. Dort habe ich verstanden, wie eng Alte Musik mit zeitgenössischer Musik verbunden ist – viel mehr, als es die Klassik ist. Das war eine unglaublich spannende Erkenntnis.
Und der ELAK-Lehrgang, wann kam der? Der Lehrgang kostet doch Geld, wie hast du das gemacht?
Elisabeth Schimana: Als ich wieder zurückkam, habe ich gesagt, ich möchte die ELAK machen. Also 1987 habe ich mit der ELAK dann begonnen, das hat damals nichts gekostet, war frei. Und so hat sich einfach eines zum anderen gefügt. Ich hatte in England mit dieser Art Musik schon begonnen. Da habe ich ein Stück mit einem Sänger gemacht, wo ich schon mit Sinustönen gearbeitet habe. In York, hatten sie, basierend auf der Software Csound, CDP – the Composers Desktop Project, eine Software entwickelt, mit der man einfach elektronische Musik machen konnte. Und mit dem, was ich da gemacht habe, bin ich dann auf der ELAK aufgenommen worden, und habe dann von 1987 bis 1989 die ELAK gemacht.
Ich habe keine Matura gehabt, weil ich die Schule abgebrochen habe, und wollte dann Musikwissenschaften studieren, und der erste Lehrgang überhaupt, den ich noch vor der ELAK gemacht habe, war auf der Musikuniversität, ein “Lehrgang für harmonikale Grundlagenforschung”. Und das war eine sehr schräge Angelegenheit, weil da ging es darum, dass die Proportionen in der Musik, so etwas wie ein Weltgefüge sind. Da ging es zum Beispiel auch um Pythagoras, und das Monochord. Das war eine eher mathematische Geschichte. Das ist so der Standard, aber in der zeitgenössichen Musik wird es dann eh alles aufgebrochen. Es war halt schon diese Idee, dass diese Proportionen etwas Göttliches sind, sozusagen. Und es ging auch zur Weltharmonik… Lauter solche Dinge haben wir da gelernt, das war schon spannend, und ich möchte das auch nicht missen. Und ich habe dann auch einige Kompositionen gemacht, die dann eben alle in diesen ganzzahligen Proportionen waren. Goldener Schnitt, und so weiter.
Und wie war vor diesem Hintergrund deine Erfahrung danach mit dem ELAK-Studiengang?
Elisabeth Schimana: Mit der ELAK hat sich plötzlich ein neuer Raum eröffnet – der gesamte Frequenzraum. Plötzlich war da dieser unglaubliche Raum, mit dem man arbeiten konnte. Anfangs war alles sehr streng, mit diesen göttlichen Proportionen, und dann kam dieser riesige Frequenzraum dazu. Das war schon beeindruckend. Obwohl ich strukturellen Ansätzen weiterhin offen gegenüberstehe – damals zum Beispiel die Fibonacci-Reihe, ein großartiges Mittel, um Zeit zu strukturieren. Es war definitiv bereichernd, diesen Lehrgang zu absolvieren. Und später kam dann die Musikwissenschaft dazu, und als Zweitfach Ethnologie.
Da ich auch Ethnologin bin, interessiert mich: Wie kam es zu dieser Fächer-Auswahl? Was waren deine Beweggründe?
Elisabeth Schimana: Musikwissenschaft natürlich wegen der Musik, das war klar. Aber da ich keine Matura hatte, wollte man mich nirgendwo zulassen. Also habe ich die Studienberechtigungsprüfung gemacht – ich hatte ja nur den Lehrgang für harmonikale Grundlagenforschung abgeschlossen. Es ist wirklich schade, dass ich den Brief nicht mehr habe, in dem der Dekan geschrieben hat, meine geistigen Fähigkeiten würden nicht ausreichen, um ein Studium zu absolvieren.
Wirklich? Das ist aus heutiger Perspektive ja unglaublich!
Elisabeth Schimana: Ja, tatsächlich. Sie wollten mich nicht einmal zur Studienberechtigungsprüfung zulassen. Also bin ich zur Studentenvertretung gegangen, und die haben gesagt: „Nein, das geht so nicht.“ Das werde ich nie vergessen – ich musste dann in irgendeinem seltsamen Raum vor der Studienkommission vorsprechen. Da saßen fünf oder sechs Männer, die darüber entscheiden sollten. Am Ende haben sie befunden, dass meine geistigen Fähigkeiten ausreichen, um die Studienberechtigungsprüfung zu machen.
Wahnsinn.
Elisabeth Schimana: Ja, das war wirklich absurd. Damals gab es noch die alte Studienordnung, das heißt, ein Zweitfach war verpflichtend. Ich habe mich dann für Völkerkunde entschieden. Die Völkerkunde hat mir noch einmal einen riesigen Raum eröffnet – voller Lebenskonzepte und Weltanschauungen. Einerseits hatte ich durch die ELAK diesen faszinierenden Frequenzraum, andererseits durch die Ethnologie diesen weiten Zugang zum Weltdenken. Ich glaube, das waren extrem wichtige Zugänge, die ich dadurch gewonnen habe.
Und du hast dann deinen Magister in Musikwissenschaft und Ethnologie gemacht?
Elisabeth Schimana: Eigentlich nicht. Schreiben war mir immer ein Graus. Ich habe zwar alle notwendigen Prüfungen abgeschlossen und hätte nur noch die Diplomarbeit schreiben müssen, aber dazu kam es nie. Ich habe die Diplomarbeit so lange aufgeschoben, bis es nicht mehr möglich war, sie einzureichen. Es gab damals eine lange Übergangsfrist zwischen der alten und der neuen Studienordnung, aber irgendwann war diese Frist vorbei.
Wann war das, in welchem Jahr sind wir jetzt?
Elisabeth Schimana: Musikwissenschaft und Völkerkunde habe ich in den frühen 1990ern begonnen. Und irgendwann in den frühen 2000ern kam mir die Idee, den Master für Computermusik am Institut für Elektronische Musik und Akustik (IEM) an der Kunstuniversität Graz zu machen. Früher gab es ja für elektronische Musik nur die ELAK, bis die Grazer diesen Master ins Leben gerufen haben. Viele wollten ihn machen, wurden aber nicht angenommen, weil man vorher Komposition studiert haben musste. Alle, die ich kannte und die eher aus der Technik oder anderen Bereichen kamen, konnten ihn also nicht machen – wegen dieser unsinnigen Regeln dort.
Man musste schon Komponist sein, bevor man diesen Master machen konnte? Das ist ja ungünstig, vor allem für die vielen Autodidakten in der Computermusik oder Produzent:innen aus der Sub- und Clubkultur.
Elisabeth Schimana: Genau, der Studiengang war eher für diejenigen gedacht, die bereits Komposition studiert hatten und sich dann noch im Bereich Computermusik spezialisieren wollten. Es war letztlich wieder dieselbe Geschichte wie bei meiner Zulassung zur Musikwissenschaft.
Aber du hattest doch schon so viel gelernt. Warum wolltest du diesen Master unbedingt machen?
Elisabeth Schimana: Ich wollte es einfach machen. Aber um überhaupt eine Chance zu haben, musste ich zuerst den Bachelor in Musikwissenschaft nachholen. Allerdings hatten sie in der Zwischenzeit die Zulassungsbedingungen geändert, und in den 2000ern war plötzlich Latein Pflicht. Das hieß, ich musste eine Lateinprüfung ablegen.
„Als Performerin entwickelt man eine besondere Fähigkeit: in den Tunnel zu gehen.“
Was?! Das wird ja immer verrückter. Wer braucht heute noch Latein in technischen oder angewandten Studiengängen? Besonders nicht in der Computermusik.
Elisabeth Schimana: Ja, das war wirklich absurd. Aber so war es. Also habe ich 2010 diese Lateinprüfung gemacht. Da kam mir meine Erfahrung als Performerin und mit Live-Auftritten zugute. Als Performerin entwickelt man eine besondere Fähigkeit: in den Tunnel zu gehen. Man lernt, sich so extrem zu konzentrieren, weil man live nur diese eine Chance hat – diese eine Zeitspanne, in der alles passieren muss. Genau das hat mir geholfen. Ich habe in drei Monaten das Latein gelernt, das ich für die Prüfung brauchte. Heute weiß ich davon nichts mehr, aber ich habe die Prüfung bestanden [lacht]. Zusätzlich musste ich noch ein oder zwei Seminare machen, und dann hatte ich meinen Bachelor. Doch als ich mich für den Master am IEM beworben habe, wurde ich wieder abgelehnt.
Oh nein, schon wieder. Aber sicher gab es auch hier eine Lösung?
Elisabeth Schimana: Natürlich. Der Klassiker. Ich bin zum Dekan gegangen und habe gesagt: „Schauen Sie, ich habe schon das, das und das gemacht, warum werde ich jetzt nicht zugelassen?“ Der Dekan war diesmal sehr nett und fast schon entschuldigend, als er sah, was ich alles vorzuweisen hatte. Er meinte, ich solle die Kompositionsstunden von der ELAK zusammenzählen. Mit diesen Stunden und meinem Bachelor in Musikwissenschaft wurde ich letztendlich doch zugelassen. Es war irgendwie immer so in meinem Leben: Zuerst heißt es „Nein, Sie sind nicht qualifiziert“ oder „Das geht nicht.“ Aber das hat mich nie beeindruckt. Ich habe immer gedacht: Es muss doch einen Weg geben.
Und war der Master für dich dann wichtig?
Elisabeth Schimana: Für die künstlerische Arbeit ist so ein Titel völlig irrelevant – niemand fragt danach, wenn du performst. Aber bei Förderungen oder wenn man Institutionen wie das IMA leitet, ist ein Titel wichtig. Und es hat mich auch wirklich interessiert. Ich wusste, wer dort arbeitete, und wollte gezielt zu Gerhard Eckel, einem Max/MSP-Programmierer, der am IRCAM gearbeitet hat. Von ihm wollte ich bestimmte Informationen. Es ist generell wichtig, nie mit dem Lernen aufzuhören.
War es nicht seltsam, viel älter zu sein als die anderen Studierenden? Wie alt warst du während deines Masterstudiums?
Elisabeth Schimana: Ich war um die 50. Natürlich ist es seltsam, mit so Jungspunden zusammenzusitzen, aber es hat auch Spaß gemacht. Die Computertechnik hatte sich stark weiterentwickelt, und der Fokus lag sehr auf der technischen Seite – Algorithmen und richtiges Hardcore-Zeug. Das war genau das, was ich noch einmal lernen wollte. Und das bekommst du dort quasi gratis. Natürlich musste ich auch Dinge machen, die weniger spannend waren, aber das gehört eben dazu.
An der ELAK hat man das damals vermutlich nicht lernen können, oder?
Elisabeth Schimana: Nein, an der ELAK lag der Fokus damals auf der Ästhetik – was ich großartig finde. Es ging um die künstlerische Seite, nicht um die technische. Natürlich haben wir gelernt, Tonbänder zu schneiden und zu kleben, Stücke zu komponieren und so weiter. Es gab erste Computer, aber das war Ende der 1980er, gerade der Übergang vom Analogen ins Digitale. Computer, mit denen man zu Hause Musik machen konnte, waren damals noch selten. Das IEM war technisch gesehen großartig, aber künstlerisch eher schwach. So habe ich es zumindest empfunden.
War es viel Mathematik?
Elisabeth Schimana: Ja, definitiv. Wir haben Algorithmen und Programmieren gelernt, auch Akustik. Allerdings war die Psychoakustik dort sehr schwach, im Vergleich zu dem, was ich bereits auf der Universität gelernt hatte. Interessanterweise wird das Thema Psychoakustik in normalen Kompositionsstudiengängen gar nicht behandelt, was ich schade finde. Meiner Meinung nach sollte es zur Grundausbildung in der Komposition gehören. Mein Werdegang war eben etwas anders: viele Jahre hatte ich mit der akademischen Seite gar nichts zu tun, bevor ich mich schließlich doch für eine Art akademische Karriere entschied. Ich denke, diese Mischung ist nicht schlecht. Ich bin froh, dass ich nicht ständig in dieser akademischen Blase war, sondern einen anderen Hintergrund habe. Vieles habe ich durch Experimentieren und Ausprobieren gelernt.
Es liegen ja einige Jahre dazwischen. Hast du in dieser Zeit dein Wissen angewendet, oder lag der Fokus auch mal auf dem Familienleben? Es fällt auf, dass du nie erwähnst, dass du Kinder bekommen und großgezogen hast – als wäre das so etwas, das man nebenbei macht.
Elisabeth Schimana: Ich finde, dass Kinder in einer Biografie nicht besonders viel verloren haben. Welcher Mann wird gefragt, wie viele Kinder er hat?
Genau, aber in der Regel verbringt ein Mann auch nicht so viel Zeit mit ihnen wie eine Frau.
Elisabeth Schimana: Das ist wahr. Aber ehrlich gesagt finde ich es irrelevant. Es ist seltsam, dass bei Frauen das Privatleben oft so stark in den Vordergrund gestellt wird. Das sollte doch eigentlich keine Rolle spielen.
Einerseits stimmt das. Andererseits lernt man in der Kulturwissenschaft – und du hast ja selbst Ethnologie studiert –, dass der Kontext und die Lebensumstände immer eine Rolle spielen und in alles hineinwirken.
Elisabeth Schimana: Natürlich machen die Lebensbedingungen etwas aus. Es ist ein Thema, das mich auch lange beschäftigt hat, und ich habe mit dafür gekämpft, dass sich etwas ändert. Heute wird bei Stipendien berücksichtigt, ob jemand Kinder hat. Das macht einen großen Unterschied.
Ja, ich bin ein Kind der Sozialdemokratie. Ohne Frauen wie Johanna Dohnal, die dafür gekämpft haben, dass auch alleinerziehende Mütter ihren Lebensunterhalt bestreiten können, hätte ich das nie geschafft. Aber das ist eine allgemeine Geschichte.
Inwiefern allgemein?
Elisabeth Schimana: Es ist eine allgemeine Geschichte, die hauptsächlich Frauen betrifft. Auch heute sind es selten Männer, die die Kinder erziehen und gleichzeitig studieren oder arbeiten. Es hat sich viel geändert, aber vieles bleibt auch gleich. Ich habe damals explizit gefordert, dass bei Förderungen berücksichtigt wird, ob jemand Kinder hat – und ich war nicht die Einzige. Heute wird das gemacht, und das finde ich gut, egal ob bei Männern oder Frauen. Die Situation ist eine andere, wenn man allein mit Kindern ist. Dann kann man nicht einfach sagen: „Ich mache jetzt eine Residency im Ausland.“ Es gibt heute eine ganze Residency-Generation, die von einem Projekt zum nächsten reist. Das ist mit Kindern nicht möglich. Deswegen war ich begeistert, als in den frühen 1990ern das Internet aufkam.
Du meinst, als Mutter und Musikerin war das Internet ein großer Vorteil für dich?
Elisabeth Schimana: Absolut! Plötzlich konnte man mit der Welt kommunizieren, ohne das Haus verlassen zu müssen. Das war doch großartig, oder?
Ja, sicher.
Elisabeth Schimana: Es gab Foren und viele andere Möglichkeiten, und ich war von Anfang an dabei.
Damals gab es noch diesen utopischen Ursprungsgedanken des Internets. Aber heute hat sich viel verändert. Foren gibt es kaum noch, und das meiste ist in privater Hand. Aber das ist ein anderes Thema. Erzähl lieber weiter von deiner Zeit in Moskau. Du wolltest da noch mehr berichten.
Elisabeth Schimana: Vor der Gründung des IMA war ich von 2001 bis 2003 mit meinem jüngsten Sohn in Moskau. Ich war am Theremin-Center und habe dort auch Theremin gelernt – allerdings nicht klassisch, sondern ich habe es immer als Controller verwendet. Durch Andrey Smirnov habe ich viel über die russische Musikgeschichte gelernt.
Wie kam es, dass du nach Moskau gegangen bist?
Elisabeth Schimana: In den 1990er-Jahren sah ich zufällig eine Dokumentation im Fernsehen über Galina Brezhnewa, die Tochter von Leonid Breschnew. Ich erinnere mich nur noch an einige Bilder. Zum Beispiel eine Szene, die in einem riesigen Raum spielte, der offenbar ein ehemaliges Restaurant für die höheren Kreise war. Es war nach der Öffnung, nach der Perestroika. Der Raum sah wie eine halbe Ruine aus, und an einem Tisch mit weißem Tischtuch saß Galina, umgeben von Champagner – denn sie trank immer nur Sekt, russischen Sekt. Und dieses Bild… Es wurde viel von Moskau gezeigt, und es war für mich einfach nur: „Ich muss dorthin!“
Damals gab es auch Rudolf Scholten, einen unserer besten Kulturminister überhaupt, der übrigens Banker war, aber als Kulturminister großartig arbeitete. Er setzte für verschiedene Genres Kuratoren ein – in der Musik waren das Lothar Knessl und Christian Scheib. Er stattete sie mit reichlich finanziellen Mitteln aus, und diese Projekte liefen dann über drei bis vier Jahre. In dieser Zeit wurde die zeitgenössische österreichische Musikszene überhaupt erst wiederbelebt und international kommuniziert. Es entstanden die Klangnetze, und das Soundweb der Engländer wurde quasi übernommen und als Klangnetze in Österreich etabliert – eine Initiative, die es heute nicht mehr gibt. Mit Hilfe der Klangnetze wurden mit Schulklassen Werke der zeitgenössischen Musik komponiert und interpretiert, um die Schüler an diese neuen Hörstrukturen heranzuführen. Es war wichtig, dass sie selbst damit arbeiteten, weil man etwas nur dann richtig versteht, wenn man es selbst macht. Das war in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, zu der Zeit wurde auch das mica – music information center austria gegründet.
Ich lernte Christian Scheib kennen und begann sofort, bei den Klangnetzen mitzuarbeiten, weil ich ihm von meiner Zeit in England erzählte, wo ich etwas Ähnliches gemacht hatte. Dieser Ansatz war in Österreich damals noch völlig unbekannt, mit der Community oder mit Schulen zeitgenössische Musik zu erarbeiten. In England war es so, dass jedes Orchester ein zeitgenössisches Werk aufführte, und zwar gleichzeitig mit Schüler:innen. Oft nahm man Werke von Pierre Boulez oder György Ligeti und versuchte, diese gemeinsam mit den Schüler:innen zu interpretieren. Wir stellten den Schüler:innen die Strukturen der zeitgenössischen Musik vor, aber sie sollten selbst damit arbeiten. Wir wollten, dass die Schüler:innen komponieren und nicht nur bestehende Werke interpretieren. Bei den Klangnetzen waren viele Musiker:innen vom Klangforum aus der Improvisationsszene dabei – es war eine großartige Zeit.
Dann gab es einen Umbruch, und man wollte das Konzept der Engländer nicht mehr weiterverfolgen. Auch die Lehrer:innen waren schließlich eingebunden, und es war spannend, zu sehen, wie sich alles weiterentwickelte. Der Beginn dieser Entwicklung fiel in die Scholten-Zeit, als es noch genug Geld für große Projekte gab, die über mehrere Jahre hinweg finanziert und umgesetzt werden konnten. Vor dieser Zeit gab es in Österreich kaum etwas, das in der Welt für zeitgenössische Musik Aufmerksamkeit erregte – Österreich war in diesem Bereich wenig bekannt. Es gab die neuen Elektroniker, die teilweise international bekannt wurden, aber in der klassischen zeitgenössischen Musik war Österreich nicht präsent. Doch plötzlich entstand eine Szene, ein Bewusstsein, und auch der Export nach Moskau wurde möglich. Und ich war Teil dieses Exports.
Also, das war jetzt reiner Zufall, quasi mit Scheib und dem Film? Du wolltest doch bestimmt nicht dahin, um an so einer schön gedeckten Tafel Champagner zu trinken? Hat dich die dortige Experimental-Szene interessiert? Russland war ja in mancher Hinsicht ein Vorreiter.
Elisabeth Schimana: Nein, ich war einfach durch diesen Film so inspiriert. Ich habe Christian Scheib von dem Film erzählt, und irgendwann bekam ich eine Postkarte, auf der stand: „Elisabeth, du fährst nach Moskau.“ Genau. Und dann war ich in Moskau. Ich wusste vorher eigentlich gar nichts darüber. Null. Komplett blank. Ich wusste nur, dass ich dorthin wollte. Und heute gibt es das alles nicht mehr. Es ist alles kaputt, seit dem Ukraine-Krieg. Das Ensemble Studio für Neue Musik wurde von Vladimir Tarnopolski und Igor Dronov dort am Konservatorium gegründet, und Andrey Smirnov hatte das Theremin-Center am Konservatorium aufgebaut und geleitet.
Ich hatte 1996 ein Stück namens „Berührungen“ für die Minoritenkirche in Krems gemacht. Die Kirche war damals noch nicht besonders akustisch optimiert. Es war einfach der Raum der Kirche, und mit diesem Raum musste man umgehen. 1995 haben Scheib und Knessl mit diesem Geld unter anderem in der Minoritenkirche das Festival „Tuned“ veranstaltet, mit Konzerten, Workshops und einem Seminar. Ich bin dorthin gegangen, weil viele interessante Komponist:innen wie Marianne Amacher, La Monte Young und James Tenney dort waren und etwas für die Kirche gemacht haben. Und bei einer anderen Veranstaltung in Wien waren die Freiburger da und haben Nono präsentiert, oder Helmut Lachenmann hat über seine Arbeit gesprochen. Das war beeindruckend zu erfahren, wie sie gearbeitet haben.
Wer sind die Freiburger?
Elisabeth Schimana: Das Experimentalstudio des SWR in Freiburg. Sie haben in den 1980er-Jahren mit Luigi Nono gearbeitet, und viele der Nonostücke, also alles, was die Elektronik betrifft, ist dort entstanden. Ich glaube, deswegen bin ich überhaupt hingegangen, weil ich das gelesen habe und es mich total interessiert hat. Und plötzlich kamen ganz tolle Musiker:innen dorthin, es war super.
Das alles dann in Krems? Was war das für ein Event oder Programm?
Elisabeth Schimana: Nein, nicht alles in Krems. Aber es gab eine Reihe von super-spannenden Dingen, die es bei uns noch nie gegeben hat. Ich war nur als Besucherin dort, so etwa 1994/95, da bin ich gerade das erste Mal überhaupt wieder weggegangen. Als die anderen zwei noch klein waren, bin ich nirgends hingegangen. Und 1996 habe ich dann „Berührungen“ in der Minoritenkirche aufgeführt und die ganze Kirche bespielt. Zwei Dinge waren dabei sehr speziell, auch hinsichtlich der optischen Umsetzung. Zu der Zeit begannen gerade erst die ganzen Übertragungsgeschichten, und ich habe eine Übertragung gemacht. Das heißt, ich habe unten in der Krypta begonnen, weil man alle Räume irgendwie bespielen konnte, und oben gab es nur das übertragene Videobild von mir. So habe ich mit der Performance begonnen, quasi als Übertragung. Damals habe ich noch mit Stimme gearbeitet und mit der Stimme eigentlich alles gesteuert – die Samples und so weiter. Ich habe die Stimme als Steuerinstrument verwendet. Am Ende gab es eine Projektion auf meinen Körper. Das visuelle Konzept orientierte sich – hier kommt das Völkerkundestudium zum Tragen! – an der Kosmologie der Kikongo sprechenden Gruppen im Südwesten des Kongo und Zaire. Das Schwarze, das Dunkle steht für die Erde und den physischen Körper, das Weiße für den inneren Körper, den Geist, die Debatte, und das Rote für das Dazwischen, also jeden Ort der Begegnung zwischen dem Selbst und dem Anderen. Für die Körperprojektionen verwendete ich die inneren Kreisläufe, also Nervensystem, Blutsystem und Lymphsystem. Und das war dann sozusagen der Schluss – eine Körperprojektion. Das war für die damalige Zeit ziemlich außergewöhnlich. Aber ich musste so dastehen wie in den Anatomiebüchern, wo die Figuren immer so stehen – [Elise macht es vor] ein Arm so und einer so. Ich musste natürlich komplett weiß angezogen sein und eine Glatze haben, damit diese Projektionen wirklich gut funktionierten. Bei diesen Projektionen auf mich ist der Körper einfach komplett verschwunden, und man hatte wirklich das Gefühl, man schaut in den Körper hinein, weil diese Kreisläufe animiert und in Bewegung waren.
Und inwiefern steht die Performance von „Berührungen“ in Verbindung zu Moskau?
Elisabeth Schimana: Dieses Stück habe ich dann in Moskau gespielt. Und das war natürlich ein Hammer. Tarnopolski hat gesagt, ich solle ins Theremin-Center gehen, zu Andrey Smirnov, weil er mir sicher helfen könne. Es war ja Perestroika und der ganze Umbruch, das war 1996, also relativ kurz danach, und es war eine völlig wilde Zeit. Der Ausverkauf aller kommunistischen sowjetischen Symbole und so weiter, die ersten Firmen, die sich dort ansiedelten. Wir haben von Österreich aus eine Vertretung der Firma JBL gefunden, und die haben uns das ganze Soundequipment zur Verfügung gestellt. Über das Kunstradio, also über den ORF, haben wir die Videoprojektoren von der Moskauer Fernsehstation bekommen.
Die haben ein ganzes Theater gemietet, und im Ovalni Saal habe ich dann den ganzen Raum umgedreht, habe in der Loge performt und im gesamten Zuschauerraum. Das Publikum war im Bühnenraum, und sie waren einfach alle komplett hin und weg. Es war unglaublich, wie ich es zu dieser Zeit in Moskau geschafft habe, das ganze Equipment für diese Performance aufzustellen. So kam es dann auch zur Kommunikation mit den Leuten vom Theremincenter und Andrey Smirnov, der natürlich mit seinen Leuten auch dort war. Nach mir hat dann Dorfmeister gespielt, von Kruder & Dorfmeister, quasi die zwei Punks aus der zeitgenössischen Musik. Und dadurch entstand eine enge Beziehung zu Andrey, wir haben uns einfach wahnsinnig gut verstanden.
Ich war dann von 1996 bis 2001 jedes Jahr einmal in Moskau und habe mit dem Theremincenter ein Projekt gemacht. 2001 habe ich mir dann ein Stipendium organisiert, weil es zu der Zeit kein Stipendium für Moskau gab – das hat nicht existiert. Ich hatte das Glück, letztendlich so viel Geld vom Bund, vom Land Niederösterreich und von der SKE zu bekommen, dass ich für ein Jahr nach Moskau gehen konnte. Dort habe ich mich mit der damaligen Kulturattaché Veronika Seyr angefreundet und angefangen, für das Kulturforum an der Österreichischen Botschaft zu arbeiten, und so wurden es dann zwei Jahre.
Und als du wieder in Österreich warst, wie kam es dann zur Gründung von IMA?
Elisabeth Schimana: Ich wollte in Moskau gemeinsam mit Andrey und dem Goethe-Institut ein Festival machen. Es war die Idee, einerseits den Komponisten Oskar Sala einzuladen, also mit dem Trautonium, und andererseits die frühen russischen elektronischen Musikinstrumente wie eben auch das Theremin zu präsentieren. Und genau in dem Jahr, in dem das stattfinden sollte, ist Sala gestorben. Also bin ich zurück nach Hainburg, und es war irgendwie so: Okay, was mache ich jetzt? Ich dachte, ich muss etwas tun. Und da kam die Idee, das IMA – Institut für Medienarchäologie – zu gründen. Ich hatte gerade einen guten Zeitpunkt erwischt, weil Friedrich Grassegger im Land Niederösterreich stellvertretender Kulturabteilungsleiter war. Ich ging zu ihm und sagte: „Herr Grassegger, ich möchte jetzt ein Institut in Hainburg gründen.“ Und er sagte: „Ja.“ Weil seine „Baby“-Idee in Hainburg die Kulturfabrik war, die gerade erst entstand. Er beauftragte mich, eine Bedarfsstudie für Hainburg und Umgebung zu machen, zu untersuchen, welche kulturellen Vereine es gab und was es noch brauchte. Es passte ihm also gerade sehr gut, dass da etwas entstehen würde, und so ging es dann relativ einfach, IMA zu gründen. Basierend auf meinen Erfahrungen in Moskau hatten wir die Idee, die Geschichte der elektronischen und elektrischen Musikinstrumente in einer großen Ausstellung zu präsentieren. Daraus entstand die Ausstellung „Zauberhafte Klangmaschinen“ von 2008 bis 2009. Dafür hatte ich 40 Objekte in der Ausstellung, von der Sprechmaschine bis zur Soundcard. Es war eine extrem erfolgreiche Ausstellung, und dazu erschien das Buch „Zauberhafte Klangmaschinen“ bei Schott, das mittlerweile vergriffen ist. So setzte sich die Geschichte, die in Moskau begann, in Hainburg fort.
Das Institut existierte also zunächst als Projekt? Oder hatte es auch einen physischen Ort?
Elisabeth Schimana: In der Zeit erschien auch das Buch „Die Archäologie der Medien“, und ich schrieb gleich an Siegfried Zielinski, dass wir nun ein Institut für Medienarchäologie gründen. Denn das war ja ein Begriff, den er eigentlich etabliert hat, und fragte ihn, ob es für ihn in Ordnung sei. Ich finde es extrem wichtig, solche Referenzen zu machen und mit der Person in Kontakt zu treten, solange sie noch unter uns weilt. Er antwortete sofort, dass er das total super fand und war sozusagen irgendwie mit dabei und schrieb einen großen Artikel für das Buch. Das IMA-Büro war damals noch bei mir zu Hause in Hainburg. Und von der Idee von Zielinski, eben nicht von Mediengeschichte, sondern von Medienarchäologie zu sprechen, weil die Archäologie, wie er es schön beschreibt, kein gerader Zeitpfeil ist, sondern ein gebogener Zeitpfeil – das bedeutet, man geht immer wieder zurück und aktiviert ein Medium im Jetzt, immer wieder neu. Das ist ein Ansatz, den ich sehr passend finde. Fast alle, die bei IMA sind, kommen ursprünglich aus dem Bereich der akustischen Medien, aber in der Medientheorie ging es eigentlich immer in erster Linie um die visuellen Medien. IMA konzentriert sich auf die akustischen Medien, und das machen wir immer noch. Über lange Zeit standen die Klangmaschinen im Fokus.
Wie finanziert sich das Forschungsinstitut, beantragt ihr Förderungen? Reicht ihr jedes Jahr ein Projekt ein?
Elisabeth Schimana: Bei den Niederösterreichern war es von vornherein ein Jahresprogramm, und beim Bund hat es sehr, sehr lange gedauert, bis wir eine Jahresförderung bekommen haben. Jetzt erhalten wir auch eine Förderung von der Stadt St. Pölten. Diese Förderungen sowie Kooperationen sind die hauptsächlichen Finanzierungsquellen von IMA.
Und wie kam es zu der IMAfiction-Serie?
Elisabeth Schimana: Das war eigentlich von Anfang an dabei. Die IMAfiction-Serie haben wir 2005 begonnen, und 2006 bereits das erste Porträt gemacht. Insgesamt haben wir zehn Porträts erstellt, fünf über österreichische und fünf über internationale Künstlerinnen. Das letzte war dann über mich. 2018 war ich Featured Artist bei der Ars Electronica und erhielt eine Ausstellung im Lentos während der Ars Electronica, in den unteren Räumen. Ich habe diese Gelegenheit genutzt, um die Ausstellung „Hidden Alliances / versteckt_verbunden“ zu realisieren. Dort gab es alle zehn Porträts der Pionierinnen, und ich habe von allen Künstlerinnen auch Artefakte ausgestellt. Es war einfach total schön, von allen gab es Bücher, Instrumente oder Partituren. Maryanne Amacher war die Einzige, die nicht mehr lebte, deshalb war es nicht möglich, Artefakte von ihr auszustellen. Wir hatten zwei Räume, und im zweiten Raum gab es eine Hörstation, an der man von jeder der zehn Künstlerinnen Dinge anhören und Filme anschauen konnte. Das Performance-Programm war ebenfalls dort. Vor allem diese Woche während der Ars Electronica war wirklich toll! Es waren so viele gekommen, besonders junge Menschen, die wirklich lange drinnen geblieben sind. Wir kennen doch alle die Ars Electronica im Bunker, wo es immer so ein Durchgehen überall ist. Bei uns haben sich die Leute hingesetzt, die Kopfhörer aufgesetzt und sich die Filme angeschaut oder gelesen. Es war außergewöhnlich, finde ich.
Dann gab es keinen Katalog, und weil ich nicht einfach einen Katalog im Nachhinein machen wollte, habe ich das Ganze noch erweitert. Jede Porträtierte sollte jemand anderen empfehlen. So spannte sich das Netzwerk noch weiter. Da Amacher schon verstorben war, aber ich wusste, dass sie viel mit Helga de la Motte zu tun hatte, habe ich sie als Empfehlung von Amacher in das Buch aufgenommen. Helga de la Motte ist eine wichtige Person, die auch den Begriff der Klangkunst geprägt hat.
Danke, Elise, für diese spannenden Einblicke in deine unterschiedlichen Schaffensphasen und auch in die lokale Musikgeschichte. Nächstes Mal reden wir dann ausführlicher über deine Musikpraxis.
Bianca Ludewig
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