„EGAL WORAN ICH ARBEITE, ES RESULTIERT IN EINER DYSTOPISCHEN STIMMUNG“ – MICA-INTERVIEW MIT CHRISTINA NEMEC A.K.A. CHRA

Sie gehört sicher zu den umtriebigsten Aktivist:innen der noch bestehenden elektronischen Subkulturszenen in Österreich – und darüber hinaus. Als Musikerin (Shampoo Boy), Labelbetreiberin (comfortzone), Radiomacherin und Netzwerkerin mischt Christina Nemec unter ihrem Alias chra nicht nur in zahlreichen Projekten mit, sondern bricht auch gerne genussvoll eingerostete Verhältnisse auf. Mitwondereel“ präsentiert sie nun darke Techno-Entwürfe für postfaktische Zustände und eine erodierende Weltordnung jenseits befreiender Dancebeats. Für mica hat sich Didi Neidhart mit chra zum Interview getroffen.

Die Tracks von wondereel sind ja alle schon 2014 entstanden. Wie ist es eigentlich dazu gekommen?

chra: Ein DJ-Kollege hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, ein Tape aufzunehmen – konkret eine C-60-Kassette, weil sie gerade dabei waren, ein Kassettenlabel zu gründen. Das war sogar noch einige Jahre bevor das große Taperevival begann. 2017 habe ich zum Beispiel bei JSME den Track a wounded deer veröffentlicht. Da wurde mein „Ehrgeiz“ geweckt, und ich wollte so viel wie möglich analog arbeiten. Naja, am Ende lief es damals so: Das Label kam nie zustande, die Tracks wurden zwar digitalisiert, aber verschwanden dann auf der Festplatte.

Wie war es, diese fast zehn Jahre alten Tracks wiederzuhören?

chra: Es war zugleich eine Freude und eine Überraschung. 2018 habe ich die Aufnahmen mit Peter Rehberg von Mego gehört, weil mir sein Feedback sehr wichtig war. Aber ich wollte daraus kein Editions-Mego-Album machen, weil ich zu der Zeit bereits an meinem Mego-Album SEAMONS gearbeitet habe.

„Die Tracks stellen ja auch Versuche dar, den dreckigen Ravehall einzufangen.“ 

In der Review für das Wiener skug-Magazin ist von „Tape-Techno“ die Rede. Würdest du dem zustimmen? Und was versteht man darunter?

chra: Ja, das trifft es definitiv. Die Tracks sind ja auch der Versuch, diesen dreckigen Rave-Hall einzufangen – also diese Mischung aus Staub, Stroboskop, warmem Bier (bei mir) und lustigen Drops.

Im Vorgespräch zum Interview hast du die Arbeit an den Tracks als eine Art Challenge beschrieben, bei der es um ein eher minimales Setup ging: ein Vier-Spur-Tascam-Kassettenrecorder, alles weitgehend in Echtzeit mit wenigen Overdubs analog aufgenommen. Wie kann man sich diese Arbeitsweise vorstellen?

chra: Ich war immer schon – und bin es immer noch – ein Fan von leicht aufzubauenden Setups. Die konkrete Idee, aus der dann ein Track entsteht, stammt von mir. Dann hangel ich mich durch die Spuren und die Aufnahme. Wenn der Drumcomputer nichts vorgibt, klopfe ich eben mit dem Fuß mit oder zähle – fast wie eine Dramaturgie im Theater, also eine Art Gerüst.

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Mit welchem Instrumentarium hast du dabei gearbeitet?

chra: Roland TR-909, Microkorg, Diktiergerät, Walkman, Minidisc, Bassgitarre.

„Ich liebe ja auch dieses Hineinfallen in Soundschleifen.“

In digitalen Workstations (DAWs) hat man ja im Grunde unendlich viele Spuren und (nachträgliche) Bearbeitungsmöglichkeiten. Worin liegt der Reiz, es wieder wie früher zu machen – also mit nur vier Spuren, wo Fehler nicht einfach per Mausklick korrigiert werden können?

chra: Ich liebe ja auch dieses Hineinfallen in Soundschleifen. Deshalb korrigiere ich auch in Ableton Live oder Logic nur selten. Meine Regel ist: Entweder die Aufnahme passt, oder sie wird neu gemacht.

Wie gehst du grundsätzlich mit „Fehlern“ in deinen Arbeiten um?

chra: Siehe oben! Wenn es passt, bleiben die Fehler drin. Wenn nicht, nehme ich es neu auf – mit neuen Fehlern. Oft merke ich aber erst später, ob etwas wirklich passt oder nicht.

Und woher kommen all diese Sounds? Sind es eher Fieldrecordings oder doch mehr elektronische Klangtools als vermutet?

chra: Fieldrecordings machen fast zwei Drittel der Sounds aus. Beim Hören und Zusammenstellen merke ich sofort, was ich davon verwenden kann und was nicht. Oft fallen auch Sounds weg, die zwar großartig klingen, aber im konkreten Kontext nicht funktionieren. Klangtools helfen vor allem beim Nachschärfen – etwa mit Reverb oder Panning.

„Manchmal klingt das dann halt nach einem verstaubten, halbverfallenen Bunker.“

Die Tracks haben alle ja schon eine gar nicht mal so versteckte Strukturen. Wie entstehen diese? Gibt es vorher schon Pläne, Konzepte oder Loops, mit denen du schon immer etwas machen wolltest, oder entstehen die Tracks eher intuitiv und spontan?

chra: Durch die Wiederholung bei der Aufnahme ergibt sich ein Rhythmus, der sich in der Wahrnehmung synchronisiert. Das Konzept wird dadurch nicht unbedingt offener, aber es ist völlig klar, dass ein 4-to-the-floor-Berghain-Track beim Aufnehmen nie mein Ziel war. Manchmal klingt es dann eben nach einem verstaubten, halbverfallenen Bunker, manchmal gibt es eine kleine Lichtquelle – also sehr nach den 1980er- oder 1990er-Jahren.

Tracktitel wie „AGFA“, „GAFFA“ oder „MAGNET“ mögen auf den ersten Blick als Referenzen an die Tape-Culture erscheinen, doch eigentlich verweisen sie auf etwas ganz anderes – nämlich auf für dich wichtige feministische Ikonen. Um welche Frauen geht es da?

Bild des Albumcovers wondereel
Cover “wondereel”

chra: Agfa war Anfang der 1980er Jahre in Wien eine von mir idealisierte wunderschöne coole Punkerin. Wie auch Nivea und Schund Doris. Ich war 14 und Punk war meine Welt. „GAFFA“ ist klar eine Referenz an Chicks on Speed, die ihre DIY-Kunst mit Verve in die Welt getragen haben und zitiert dabei auch Magnet the Noble, also Margaret Noble, eine Kollegin aus dem Female Pressure-Umfeld. Da fand ich auch den Namen so schön. Und „CHERRY“ steht für meine Freundin und Künstlerin/Musikerin Cherry Sunkist, von der ich mir ja auch den Tascam-Mehrspur-Kassettenrecorder damals ausgeborgt habe.

Was bei Tracks wie „AGFA (viennese punk girl)“ und „GAFFA (rrrtioladyz)“ besonders auffällt, sind harsche Brumm-Sounds, hochfrequentes Fiepen sowie eine Art von (Metal-)Industrie-Fließband- oder Schnellzug-Loops, zu denen es maximal nochmals minimalisierte Minimal-Techno-Beats gibt. Das Ganze hat eine deutliche Techno-Ruinenästhetik. Ging es dir (damals) auch um eine dystopische Post-Techno-Stimmung?

chra: Egal, woran ich arbeite – es endet immer in einer dystopischen Stimmung. Selbst wenn es um blühende Tulpen, Vögel oder Insekten geht. Mein Album Empty Airport von 2015 war wohl schon ein Vorbote davon. Und dann kam auch noch Covid.

Techno scheint ja ein Comeback zu erleben, hat aber durch die diversen Verwässerungen der letzten Jahrzehnte – zwischen Ballermann, Après-Ski und EDM (Electronic Dance Music) – teils einen schlechten Ruf. In diesem Zusammenhang wirken Tracks wie „MAGNET (the Noble)“ oder „CHERRY (Wood)“ fast wie Studien darüber, was innerhalb jener Parameter noch möglich ist, die Techno einst als avantgardistische Dance-Music definiert haben. Geht es vielleicht auch darum, sich Techno und Rave von EDM zurückzuholen?

chra: Als tanzendes Kopfkino auf jeden Fall – verspielt und als Sensation sowieso. Aber ohne den ganzen 4-to-the-floor-Zwang und auch ohne jegliche Esoterik. Zu Techno als Subkultur im klassischen Konzertraum kann ich nur sagen: Ja und nein. Wenn es nur der Vereinfachung dient, dann eher nein. Und als elitärer Scheiß hat es sowieso keine künstlerische Relevanz.

Bild Chra
Bild © Chra

Ich habe letztes Jahr beobachtet, dass vor allem Jüngere – also Menschen, die altersmäßig zwischen Millennials und der Generation Z liegen – plötzlich wieder auf sehr harte Techno-Sounds (die Berlin-Detroit-Connection) abfahren. Sie verlassen auch dann nicht die Tanzfläche, wenn diese mit Late-70s/Early-80s-Industrial- und Post-Punk-Sounds gemischt werden. Kurz nach Corona waren hingegen eher euphorische House-Tracks angesagt. Deine Tracks haben ja ebenfalls dieses Industrial-Feeling. Glaubst du, dass diese Art von Techno – die ja auch etwas von dem verkörpert, was Adorno einmal ein „beschädigtes Leben“ genannt hat – heute den dystopischen Zustand der Welt vielleicht sogar besser trifft als 2014?

chra: Ja, genau. Es gibt enorme Unterschiede in der Rezeption vor Corona, während Corona und nach Corona. Ich finde mich da regelrecht in einer surrealen Situation wieder – und gealtert. Zudem haben sich seit dem Ukrainekrieg und dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 meine internationalen Kontakte ungefähr halbiert. Und der Begriff Dystopie wurde mit der Wahl Trumps sowieso wahrer als wahr. Dialektisch ausgedrückt: absolut beschädigte Leben – und währenddessen feiert Princess Superstar ein unerwartetes Comeback!

Bei „FIBER (reinforced)“ gibt es zudem Anklänge an Doom-Metal, und „BIRDTAPE“ erinnert sicher nicht von ungefähr an den Horror von Hitchcocks „Die Vögel“. Leben wir in „Gothic Times“, wo der Ausnahmezustand das eigentlich Normale darstellt?

chra: Ja, klar! Die 1980er-Jahre waren Sisters of Mercy und James G. Ballard. Dazu Büchner und Georg Heym und viele andere. Ich trug schwarz und war es auch. Hatte Asthma, 45 Kilo und Augenringe – also perfekt Goth. Aber ich hatte auch Humor und war Metal-Fan, außerdem Bassistin in einer Industrial-Metal-Band namens Bray.

Durch die Track-Titel, die auf feministische Ikonen verweisen, verortest du deine (instrumentalen) Tracks auch in einem außermusikalischen sozialen Feld. Es geht also nicht nur um Klänge/Frequenzen als Klänge/Frequenzen an sich, sondern auch um ihre sozialen und politischen Verbindungen und Kontexte. Wie wichtig sind die politischen Implikationen und Statements bei und mit deiner Musik? Geht es immer noch um „Soundpolitisierung“?

chra: Danke, dass du das aufgreifst. Ja, Soundpolitisierung war 2000 bei Schwarzblau eine Initiative, die ursprünglich von Tanya Bednar angestoßen wurde. Auch wenn es so aussehen mag, als wäre ich schon lange in innerer Emigration, beschäftigen mich politische Themen natürlich immer noch und immer wieder. Gerade jetzt auch in meiner Arbeit bei und mit Radio Orange und OKTO-TV. Derzeit arbeite ich an einer Radiosendung zum Internationalen Frauentag am 8. März zum Stück Weiberrat. Da geht es um eine Machtergreifung und damit verbunden auch um mehr Mut!

Danke für das Interview.

Didi Neidhart

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Link:
Christina Nemec /chra (Instagram)
chra (bandcamp)
comfortzone