Eine Nonne. Auf einem Skateboard. In einer Halfpipe. Mit Orchesterbegleitung. So oder so ähnlich kann man sich das neue Stück von FLORENTINA HOLZINGER vorstellen, das am 30. Mai in Schwerin seine Uraufführung hatte. Am 10. Juni 2024 kommt „Sancta“ auch erstmals im Rahmen der Wiener Festwochen auf die Bühne. Die Handlung, die ursprünglich einer Ein-Akt-Oper von Paul Hindemith, unter dem Namen „Sancta Susanna“ (uraufgeführt 1922) entstammt, wird dabei von HOLZINGER in gewohnter Weise performativ und musikalisch dekonstruiert: Die Geschichte von Sexualität und Glauben wird in einen zeitgenössischen Kontext gestellt. Dabei spielt Musik in „Sancta“ eine besondere Rolle. Eine der zentralen Figuren in deren Produktion, war die österreichische Komponistin JOHANNA DODERER, die in Zusammenarbeit mit anderen Musiker:innen nicht nur Stücke von Bach oder Rachmaninow bearbeitete, sondern auch komplette Eigenkompositionen beisteuerte. Dass in der weiteren Bearbeitung der Musik durch HOLZINGER vielleicht keine Note an ihrer ursprünglichen Stelle blieb, war sich DODERER bewusst: „Sie konnten damit tun und lassen, was sie wollten.“ Im Kontrast dazu war sie zur selben Zeit mit der Auftragskomposition einer Friedensmesse für die Hofmusikkapelle beschäftigt. Die erste, die von einer Frau komponiert wurde. Inwiefern DODERER diese Gleichzeitigkeit ganz praktisch sah und warum die Komponistin an die „Tiefe der Schrift“ glaubt, sowie die Trennung von E- und U-Musik für längst überholt hält, erzählt sie im Interview mit Ania Gleich.
Wie ist es zur Zusammenarbeit mit Florentina Holzinger gekommen?
Johanna Doderer: Ihre Managerin hat mich im Februar 2023 angerufen und fragte mich, ob ich Holzingers Arbeit kenne und Lust hätte, eine Komposition dazu zu schreiben. Nachdem ich sie nicht kannte, habe ich mir dann einiges angeschaut – und fand Florentina sehr stark. Ihre Arbeit ist wirklich fantastisch. So habe ich zugesagt. In dieser Zeit habe ich ohnehin gerade an einer Messe für die Hofmusikkapelle gearbeitet. Es ist schon lustig, dass wenn man sich in so eine “Messenergie” begibt, auch die Anfragen für Messen eintrudeln: Wie ein Wasser, in dem ich mich bewege. Nachdem mir Florentina erklärt hat, wie sie sich die einzelnen Abschnitte vorstellt, habe ich schon gemerkt, dass das ein sehr offenes Projekt wird. Es ist keine Oper im engen Sinn, sondern eine Messe mit Übergängen. Diese enthält einerseits einige Arrangements von Bach, Rachmaninow oder Bird, die von mir bearbeitet wurden. Das Agnus Dei, das Credo, aber auch das Benedictus andererseits sind reine Kompositionen von mir. Genauso wie ganz viele Übergänge, die wir jetzt “Metamorphosen” nennen. Das sind diese Stücke zwischen den Szenen. Ich nenne das ganz brutal “Füllmaterial”.
Musikalischer B-Roll?
Johanna Doderer: Ja, ganz genau! Das kann man verlängern und verkürzen, wie man will.
Wie habt ihr an dem Material gearbeitet?
Johanna Doderer: Von der Produktion her fingen die anderen aus Florentinas Team mit Noten relativ wenig an. Dieser übliche Gang, dass man einen Klavierauszug schreibt, den dann einstudiert, worauf dann die Bühnenproben folgen und dann erst das Orchester, wo man dann zum ersten Mal hört, wie es zusammen klingt: Das war in diesem Fall nicht so. Zusammen mit mir waren ja auch andere Musiker:innen beteiligt, wie Stefan Schneider oder Nadine Neven Raihani. Und die kommen halt von der U-Musik, wenn ich das jetzt so böse sagen kann. Deswegen haben wir mit digitalen MP3s gearbeitet. Also Soundfiles, damit die anderen eine Vorstellung haben können, was ich mache. Die wurden zwischen Florentina und mir immer wieder hin- und her geschickt. Dabei hat sie mir gesagt, ob etwas gut ist oder ob es bitte länger oder kürzer sein sollte. So hat sich das langsam entwickelt. Das Schönste war, dass ich das Orchester digital hergestellt habe und der Chor beauftragt wurde, da drüber zu singen. Denn sie brauchten die Musik ja schon für die Choreografie. In dieser Weise haben sie das jetzt weiterverarbeitet und ich weiß auch gar nicht, was dabei herausgekommen ist. Ehrlich gesagt glaube ich, dass sie meine Musik nochmal voll auf den Kopf gestellt haben. Sie wurde vermutlich durch die anderen Musiker:innen mit E-Gitarren und Techno komplett zerlegt.
„WAS MICH GLEICH AM ANFANG SEHR BEGEISTERT HAT, WAR DIE IDEE, DASS DER CHOR NICHT NUR KLANGKÖRPER IST, SONDERN SICH AUCH INSZENIERT BEWEGT.”
Wie fühlt sich diese Dekonstruktion deiner Musik für dich an?
Johanna Doderer: Gut! Normalerweise bin ich ja eine Komponistin, die bei den Proben immer dabei ist und allen auf die Nerven geht. Ich arbeite sonst auch sehr eng mit den Sänger:innen zusammen, das ist für mich ganz wichtig. Bei den ersten Proben sage ich deshalb immer: Jetzt bin ich da, was liegt schlecht, was gut – wo muss man etwas ändern? Wie tun wir weiter? Schließlich ist es ja nicht meine erste Oper, sondern meine neunte Oper! Ich liebe es, mit Musiker:innen und Sänger:innen zu arbeiten und für sie zu schreiben, das wirklich herauszuarbeiten und zu schauen, was die Schwächen und Stärken sind. Normalerweise funktioniert es auch gut und sie arbeiten gerne mit mir.
Wann ist die Musik dann “fertig”?
Johanna Doderer: “Sancta” war erst mit der Uraufführung Ende Mai fertig. Bis dahin wurde das alles noch verändert. Allein der Titel war bis kurz davor ein Arbeitstitel. Meine Arbeit dazu war lange davor abgeschlossen. Die Orchester-Auszüge waren tipptopp und sie konnten damit tun und lassen, was sie wollten.
Wieso hat Florentina Holzingers Arbeit mit dir räsoniert?
Johanna Doderer: Was mich gleich am Anfang sehr begeistert hat, war die Idee, dass der Chor nicht nur Klangkörper ist, sondern sich auch inszeniert bewegt. Das gibt es natürlich alles schon, aber das, auf die Spitze getrieben in Kombination mit zeitgenössischer U-Musik, ist schon sehr aufregend. Bei der Gelegenheit möchte ich hier ganz ausdrücklich sagen, dass die Begriffe der U- und E-Musik – also Unterhaltungs- und ernste Musik – vollkommen veraltet sind und längst miteinander verschmelzen müssten. Das finde ich gut und spannend. Diese unendlich langweilige Diskussion, was man tonal oder nicht-tonal machen kann, ist komplett überholt. Es ist längst fällig, dass sich diese beiden Medien einander annähern. Es gibt wahnsinnig gute Leute, die tolle Sachen machen und diese Grenzen überschreiten. Der Nachteil von der U-Musik ist, dass viele keine Noten mehr lesen können – natürlich gibt es Ausnahmen! Ich glaube an die Schrift und die Entwicklung, die mit ihr kam. Denn das geschriebene Wort ist schon eine gute Sache und wir brauchen sie. Improvisationen sind alle gut und recht, aber die Schrift bringt eine andere Dimension der Tiefe. Alle, die eine klassische Ausbildung genossen haben, wissen das. Wenn wir jetzt aus der ersten Musik aber mit diesem Medium arbeiten, das aus dieser ganz anderen Richtung kommt, dann ist das einfach sehr spannend.
Inwiefern birgt die Schrift für dich ein Potenzial für Tiefe?
Johanna Doderer: Wenn man sich die Musikgeschichte anschaut, ist die Linearität aus der Schrift entstanden. Geschriebene Gleichzeitigkeit. Lange kam keine Dynamik und als sie dann kam, entstand dadurch auch der Raum. Und dann die Tonalität: Dieser Raum in der Tonalität ist gewaltig. Es gab durch Schönberg die Versuche, genau das aufzulösen, aber es hat nicht funktioniert. Ich glaube, dass die Tonalität auch noch nicht ausgeschöpft ist. Denn man sieht wiederum in der U-Musik: Dort ist alles tonal. Die Harmonien der U-Musik in Techno sind ja eigentlich sehr einfach. Es sind hauptsächlich Geräusche und Obertöne. Dabei muss ich sagen: Ich höre sehr gerne Techno. Da ist die Dynamik und wie es ineinanderfließt, das Spannende. Wenn das aber einmal geschrieben wäre, gäbe es noch ganz andere Möglichkeiten. Nur macht das niemand, also sollte das mal jemand tun!
Wie bist du in “Sancta” mit dem historischen Material und dem Inhalt des Stücks umgegangen?
Johanna Doderer: Nur der erste Teil besteht aus dem historischen Material. In diesem Projekt habe ich ausschließlich mit Bildern und Bewegungen gearbeitet. Das war auch das Einzige, das ich bekommen habe. Inhaltlich war es klar, dass ich mich an die Messe und die Messtexte halte und das habe ich auch gemacht. Ich glaube, dass Musik immer für sich steht. Die Handlung machen die anderen. Ich habe die Musik geschrieben. Für Handlung hätte ich Texte gebraucht, aber die hatte ich nicht. Weil ich Komponistin bin, habe ich deswegen gemacht, was gut klingt.
„ICH DENKE, DASS GUTE MUSIK AUCH IM LETZTEN DORF, MIT DEM LETZTEN KLAVIER UND DEM MIESESTEN PIANISTEN AUFFÜHRBAR SEIN MUSS. UND SIE MUSS DANN IMMER NOCH GUT KLINGEN.”
Sonst arbeitest du aber schon mit Text, oder?
Johanna Doderer: Ja, klar! Aber hier hatte ich keine klare Handlung.
Glaubst du, du willst das in Zukunft öfter so machen?
Johanna Doderer: Die absolute Musik ist die, die mich am meisten interessiert. Also Musik, die für sich spricht und steht. Was ich spannend finde, ist die Zusammenarbeit mit Musiker:innen aus anderen Bereichen. Das fasziniert mich. Und ich glaube, dass Musik so stark ist, dass sie für alles verwendet werden kann. Umgekehrt geht es nicht, denn dann wäre ich wie eine Filmkomponistin, das bin ich aber nicht. Also wenn es darum ginge, nur ein Sujet zu untermalen. Für mich muss Musik funktionieren und dadurch für sich stehen. Ich glaube andererseits, dass die Produktion “Sancta” auch ein großes Infrage stellen des Religiösen ist. Inhaltlich werden in diesem Stück sicherlich starke Angriffe passieren, die politisch oder gesellschaftskritisch sind. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Es ist nie politisch, was ich mache. Ich schreibe keine politische Musik. Musik ist viel größer als das und das muss sie auch sein!
Ich habe das Gefühl, dass das Thema von Politik und Musik gerade auch durch die globale Vernetzung von Künstler:innen wieder groß diskutiert wird.
Johanna Doderer: Ich glaube, das kommt und geht. Spätestens, wenn wir keinen Strom mehr haben, ist das alles vorbei!
Was ist für dich die Essenz von Musik?
Johanna Doderer: Eigentlich ist es immer nur die Frage: Wie komme ich von einem Punkt zum nächsten? Und es ist völlig wurscht, ob ich das auf Papier mache oder mit unglaublich vielen technischen Hilfsmitteln. Letztendlich sind es zwölf Töne und wie du sie, wann, wo einsetzt, ist völlig egal. Ich denke, dass gute Musik auch im letzten Dorf, mit dem letzten Klavier und dem miesesten Pianisten ausführbar sein muss. Und sie muss auch dann immer noch gut klingen. Das ist Musik! Was da in der Musik drinnen ist, das Herz, dieses ganz Essenzielle, das sind manchmal drei, vier Töne, die richtig gesetzt werden – aber die sind entscheidend. Denn, wenn du das schaffst, gibst du dich selbst.
Wie näherst du dich diesem Kern von Musik an?
Johanna Doderer: Hingabe! Nichts anderes. Du ziehst dich total aus, das ist das Wichtigste von allem. Und das ist auch das, warum wir Musik hören. Du kannst natürlich Blendwerk machen. Aber wenn da kein Herzblut drinnen ist, dann hörst du es dir fünfmal an und kannst es dann wegschmeißen. Und dann gibt es Musik, die du hunderttausendmal hörst und die sich nicht verbraucht. Diese Musik ist der einzige Grund, warum ich schreibe.
Wie hat sich die Parallelität zwischen “Sancta” und der Friedensmesse angefühlt, die du gleichzeitig für die Hofmusikkapelle geschrieben hast?
Johanna Doderer: Praktisch! Das klingt jetzt sehr esoterisch, aber das sind Energiefelder, die man aufmacht und dann kommen diese Dinge plötzlich von selbst. In der Hofmusikkapelle hatte ich Sängerknaben, Männerchor und ein kleines Orchester. Und bei “Sancta” hatte ich ein großes Orchester und Sängerinnen. Punkt. Ganz einfach. Die Hofmusikkapelle wollte zwanzig Minuten und eine ganze Messe nur von mir. “Sancta” wollte nicht nur von mir etwas, sondern auch von anderen Musiker:innen und die Länge war wieder anders. Dafür war ich freier und konnte mich viel austoben. Der einzige Unterschied war also das Praktische. Egal ob Männerchor oder Dekonstruktion: Ich bin immer ich. Das wird sich nie ändern. Das klingt vielleicht fad, aber mehr kann ich dazu nicht sagen!
Danke für das Gespräch!
Johanna Doderer: Danke dir!
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Ania Gleich
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Links:
Sancta (Wiener Festwochen)
Johanna Doderer (Homepage)
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Florentina Holzinger (Homepage)
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