„El ultimo aliento“ ist ZSÓFIA BOROS´ dritte CD, die auf dem legendären Jazz-Label ECM erscheint. Die Einspielung enthält zeitgenössische Kompositionen aus Argentinien und Musik des französischen Komponisten Mathias Duplessy, die BOROS auf Gitarre und Ronroco so künstlerisch frei wie technisch und lyrisch glänzend vorträgt. Mit Markus Deisenberger sprach sie über die Freiheit der Interpretation, ihre Grenzen und den Flow, den Produzent MANFRED EICHER zu erzeugen weiß.
Dein neues Album auf ECM erschienene Album heißt “El último aliento” – auf Deutsch “der letzte Atem” – und stammt von der gleichnamigen Carlos-Moscardini-Komposition, die das Album abschließt. Das ist doch eher ungewöhnlich, finde ich, denn normalerweise ist es meist der so genannte Opener, mit dem man Aufmerksamkeit erzeugen will und der als Namensgeber fungiert. Hier ist es die letzte Nummer. Wie kam es dazu?
Zsófia Boros: Der letzte Atemzug, das wirkt natürlich sehr dramatisch. Als wir aufnahmen, hat Produzent Manfred Eicher überlegt, welcher Titel zusammenfassen und eine Ahnung darüber geben könnte, worum es auf der Platte geht. Vom Musikalischen abgesehen klingt “El último aliento” erst mal als Titel gut. Zweitens ist es ein sehr schönes Stück, und mit dem letzten Atemzug anzufangen wäre komisch gewesen. Aber “der letzte Atemzug” bedeutet auch für jeden etwas anderes. Die meisten bringen es gleich mit dem Sterben in Verbindung, aber letztendlich, wenn man darüber nachdenkt, ist es etwas, das uns alle betrifft und miteinander verbindet, und es kommt ganz entscheidend darauf an, wie man den Satz fortsetzt: Der letzte Atemzug, bevor was genau geschieht? Das Kind auf die Welt kommt? Ein neuer Atemzug kommt, der neue Gedanken mit sich bringt? Oder ist es der letzte Atemzug, der uns allen hier auf der Erde geblieben ist? Es ist etwas Ungreifbares, Schönes und zugleich allgemein Verbindendes.
Womit wir bei der Interpretation wären, die dem, was Moscardini sich dachte, als er die Nummer schrieb, nahekommen kann oder auch nicht.
Zsófia Boros: Genau. Ich sehe es als Motivation dafür, das Leben bewusster zu leben, das Leben hier und jetzt zu leben und jede Sekunde als solche zu erleben. Nicht weiter zu denken und sich zu sorgen, sondern immer hier zu bleiben, beim letzten Atemzug.
Könntest Du mir zu jedem der Titel des Albums eine solche Geschichte erzählen?
Zsófia Boros: Ja, weil ich mit den Stücken sehr viel Zeit verbracht habe. Es ist vielleicht nicht immer eine Geschichte, die ich verbal wiedergeben könnte, sondern oft sind es Gefühle, Farben, bestimmte kleine Impulse, die ich erkenne, sofort spüre.
Gibt es da Dinge, Informationen, auf die Du zurückgreifst, Statements des Komponisten/der Komponistin zum Beispiel oder möchtest Du in der Einschätzung, worum es in einem bestimmten Stück geht, möglichst frei bleiben?
Zsófia Boros: Ich möchte total frei bleiben. Das ist mir sehr wichtig und letztendlich bin ich auch sehr glücklich und dankbar dafür, dass die Komponisten, deren Stücke ich interpretiere, sich noch nicht beschwert haben, mir die Freiheit also auch geben. Das ist nicht selbstverständlich. Die meisten sind sogar offen für kleine Änderungen.
Welche Änderungen sind das zum Beispiel?
Zsófia Boros: Sachen, in denen ich mich nicht ganz wiederfinden kann, lasse ich auch mal weg, ein paar Takte. Dass es darüber keine Aufregung gibt, weiß ich zu schätzen. Manchmal frage ich vorher, manchmal lasse ich es auch einfach geschehen. Wenn ich so eine kleine Änderung gemacht habe, waren alle immer sehr entspannt, haben mich in meinem Freiheitsdrang gelassen. Ich finde da sehr schön, sonst würde ja auch immer das Gleiche gespielt werden. Verfolgt man die Idee des Komponisten zu 100%, lässt man den Interpreten vollkommen außen vor. Dann würde alles gleich klingen.
Es ist doch auch für den Komponisten/die Komponistin spannend zu sehen, wie das Komponierte von anderen gesehen wird. Mal so, mal eben anders.
Zsófia Boros: Ja, aber natürlich gibt es ein Maß, das man nicht überschreiten sollte. Am Ende des Tages bin ich immer noch die Interpretin. Aber es ist schon spannend, auch für mich selbst. Nur wenn man authentisch ist, kann man gewinnen, indem man sich selbst kennen lernt und sich dann auch treu bleibt.
Aus Komponisten- oder Autorensicht ist es immer wieder bereichernd, aber vielleicht auch verwirrend, wenn drei verschiedene Menschen dasselbe Werk auf drei verschiedene Arten interpretieren.
Zsófia Boros: Das ist die Wahrheit und so ist auch die Wahrheit der Welt. Mein Motto ist: Verstehen und verstanden werden, und ich sehe Tag für Tag, dass das eine der schwierigsten Aufgaben ist, denn mein Gegenüber versteht das, was ich sagen auf seine/ihre Art und Weise, mit dem jeweiligen Vorwissen, mit seinen/ihren Gefühlszuständen. Jedes einzelne Wort hat auf der Gefühlsebene eine andere Bedeutung für das Gegenüber.
Man kennt das von der stillen Post: Zum Schluss kommt eine ganz andere Geschichte raus. Jeder ist in einer anderen Phase, emotional, interpretatorisch. Selbst deine Kinder werden, obwohl sie dir näher sind als andere Menschen, das von dir Gesagte ganz anders auslegen als du denkst.
Den Komponisten Mathias Duplessy von dem Du gleich mehrere Stücke interpretiert hast, kennst Du persönlich. Wie hat er Deine Interpretationen aufgenommen?
Zsófia Boros: Er hat die aktuellen Nummern in der Endfassung noch nicht gehört, aber er hat mich, weil ich auf der zweiten Platte ein Stück von ihm gespielt hatte und wir über soziale Netzwerke in Verbindung sind, im Corona-Jahr mal gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, alle seiner melancholischeren Stücke zu spielen, woraufhin ich mich mit all seinen Stücken auseinandersetzte. Dann wurde eine engere Auswahl getroffen. Die Versionen habe ich ihm immer wieder in Phasen, als ich das schon spielen konnte, geschickt. Er kennt also nur die Home-Recordings.
Kommt da auch mal ein “Aber”?
Zsófia Boros: Ja, bei einem Stück hatte er einen komplett anderen Zugang.
Einen komplett anderen Zugang? Das finde ich interessant. Inwiefern?
Zsófia Boros: Weil ich die Vorgeschichte, dass er das Stück “De reve et de pluie” im Zug geschrieben hatte, nicht kannte, “De reve et de pluie”. Regen und Träume. Sowohl Regen als auch Träume sind frei, kommen und gehen, hatte ich mir gedacht und das freier interpretiert. Er aber wollte einen durchgehenden Bass, der für das gleichmäßige Geräusch des Zuges steht. Da habe ich mir halt innerlich einfach gesagt: Okay, dann halt nicht “Rain and Dreams”, sondern “Train and Dreams”.
Wie kam es zur Auswahl der anderen, der zeitgenössischen argentinischen Stücke?
Zsófia Boros: Ich hatte viele Stücke vorbereitet. Die konkrete Auswahl kam von Manfred Eicher, der schon vor den Aufnahmen eine Auswahl getroffen hatte, damit ich mich auf wenige Stücke besser konzentrieren konnte.
Wie ist die Zusammenarbeit mit dieser Koryphäe?
Zsófia Boros: Phantastisch. Sehr besonders. Er ist eine Person, die, obwohl man sich sehr selten sieht und spricht, immer dort weitermacht, wo man das letzte Mal stehengeblieben war, und sofort erkennt, was der andere Mensch musikalisch möchte. Bei einem etwa Stück rief mich der Komponist zwei Tage vor den Aufnahmen an und meinte, er sei mit zwei Seiten nicht zufrieden. Ob wir die nicht rausnehmen könnten. Zwei sehr anspruchsvolle Seiten, für die ich, um sie spielen zu können, viel Zeit aufgewendet hatte. Irgendwie gab ich ihm recht, aber ich hatte es eben auch technisch erarbeitet und insgeheim will man auch nicht, dass die Zeit, die man investiert hat, umsonst war. Die Entscheidung überließ er mir. Als wir die Nummer dann aufnahmen, sagt Eicher nach dem ersten Mal Hören: „Was ist das mit diesen zwei Seiten? Das lassen wir weg. Das passt überhaupt nicht zu dem Stück.” Nach nur einmal Hören spürte er genau, was es damit emotional auf sich hatte. Was für eine unfassbare Übersicht, was für ein genialer Überblick. Und er weiß auch, mit welchen Worten er die Situation auflockert, damit man nicht blockiert, sondern in einen Flow kommt.
Eine Aufnahme dauert zwei Tage. An zwei Tagen das alles so gut wie möglich zu schaffen und zu präsentieren, ist eine sehr konzentrierte Arbeit. Er schafft es, wenn man mit ihm spricht, die richtigen Fragen zu stellen, um sich selbst noch einmal näher zu kommen. Wenn man im Wald ist und vor lauter Bäumen den Weg nicht mehr sieht, schafft er es, ohne einzugreifen, in den richtigen Momenten die richtigen Fragen zu stellen und so meine Musikerwelt zu bereichern. Manfred bereichert.
„Damit ich mich damit wohlfühle, muss es mich von Anfang bis Ende durchgehend berühren.“
Die Platte hat zwei Schwerpunkte: Einerseits zeitgenössische Kompositionen aus Argentinien, andererseits die mehrere Idiome übergreifende Musik des französischen Komponisten Mathias Duplessy. In der englischen Version des Pressetextes zum Album klingt es mit dem Ausdruck “Split” noch einmal heftiger, so als habe die Platte zwei Seiten, als bestehe zwischen Duplessy und den Argentiniern eine klare Trennung. Tatsächlich beschleicht einen nach Hören des ganzen Albums das Gefühl, als habe alles ein und derselbe Komponist geschrieben, so geschlossen wirkt die Atmosphäre, die Du erzielst. Wie gelingt das?
Zsófia Boros: Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich versuche, die Stücke ehrlich auszusuchen, d.h. ganz ehrlich zu sein, was meinen Geschmack betrifft. Ich mache da keine Kompromisse. Ein Stück zu nehmen, weil jemand gerade Jahrestag hat oder gehypt wird, käme für mich nicht in Frage. Es muss mir von vorne bis hinten zusagen.
Oft gibt es ja Teile, die einem nicht gefallen.
Damit ich mich damit wohlfühle, muss es mich von Anfang bis Ende durchgehend berühren. Weil ich nach diesen strengen Kriterien auswähle und dann sehr viel Zeit mit den Stücken verbringe, wirkt es dann vielleicht so, dass das ich bin, ähnlich wie bei Kleidungsstücken: Du trägst zwar unterschiedliche Sachen, aber es ist dein Geschmack. Du bist ehrlich und trägst es, egal ob es eine bekannte oder eine unbekannte Marke ist. Wenn mich eine Musik ehrlich berührt, lässt sie mich auch nicht mehr los. Dann suche ich aktiv, höre sie in Dauerschleife, versuche sie zu inhalieren. Früher, als es noch Kassetten gab, war dieser obsessive Zugang noch viel ausgeprägter.
Man stellte das Tapedeck einfach auf Auto Reverse…
Zsófia Boros: Genau. Ich habe es geliebt, schon genau zu wissen, was als nächstes kam.
Was lief im Kinder-, oder Jugendzimmer auf Dauerschleife?
Zsófia Boros: Die Beatles zum Beispiel. Jetzt ist das weit weg, aber damals war das sehr wichtig für mich. Ich kann mich erinnern: Ich habe als Kind sehr gerne Sport gemacht und habe dann bei einem Laufwettbewerb einmal Scotch-Leerkassetten gewonnen, auf die ich dann Musik aufgenommen habe. Die Beatles auf einer gewonnenen Kassette. das war das Höchste.
Ich habe gehört, Du hörst Dir Deine Interpretationen oft an. Wie verändert das Dein Spiel?
Zsófia Boros: Sehr, weil ich es in der Regel erst dann richtig verstehe. Es passiert ja so vieles im Kopf. Mein Film, meine Gedanken laufen die ganze Zeit. Erst wenn du dir dein Spiel anhörst, merkst du, wie wenig du gesagt hast und wie viel davon du nur dachtest und glaubtest, es sei schon rübergekommen, weil es in deinem Kopf ja lief.
Das heißt: Im Kopf denkt man Gedanken fertig, aber spricht nur einen Bruchteil davon aus. Das merke ich auch beim Spielen. Ich bin beim Spielen so drinnen, schwimme im Wasser, dass ich oft nicht merke, was ich eigentlich sagen wollte, was ich mehr beleuchten wollte. Vieles passiert nur in dir. Wenn du es dann hörst, fällt dir auf, dass du noch die und die Sachen machen musst, damit man hört, worum es dir wirklich geht.
Sind das Betonungen, von denen Du sprichst?
Zsófia Boros: Ja, auch. Mal braucht es mehr Dreidimensionalität, und man muss deshalb mehr in den Vordergrund gehen, mal mehr in den Hintergrund. Mal braucht es eine grundlegend andere Mischung der Zutaten. Das sind deine Diamanten, die du schleifst. Selbst ein einfaches Lied kannst du zu deinem Lied machen. Aber du musst bewusst zuhören, auch dir selbst. Es liegt in deinen Händen. Die entscheidende Frage ist: Wie würdest du es gerne hören? Dann gilt es dafür zu arbeiten, damit es genauso klingt. Vielleicht reicht das Leichte, vielleicht braucht es das Subtile und es ist interessanter, nicht viel zu machen. Oder es braucht das Plakative. So lernst du kennen, was dich selbst berührt. Das ist die Voraussetzung, um andere zu berühren.
Vielen Dank für das Gespräch.
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