Dorian Concept, Atzur und Farce beim Primavera Sound 2023

Das Primavera ist ein bisschen wie Roulette. Atzur gewinnt. Farce verliert. Und Dorian Concept hat gewonnen, was zu gewinnen war.

Das Primavera Festival hat sich verkleinert. Angeblich waren es fehlende Genehmigungen, die dazu führten, dass die drei Bühnen jenseits des Hafens gestrichen wurden. Dadurch wirkte das Boutique-Festival in Barcelona wieder kompakter, die Wege waren kürzer. Das führte wiederum dazu, dass die Night Pro-Bühne zwei Wochen vor Festivalstart in den Eingangsbereich verschoben wurde. Produktionstechnische Gründe. Unten am Meer, wo die Menschen laufend zwischen den zahlreichen Bühnen hin und her wechseln, wäre sie geplant gewesen. Oben beim Eingang, wo die Menschen fast nur zu früher Stunde hereinströmen, stand sie letztlich.

Bild Atzur Primavera Festival
Atzur / Primavera Festival (c) Stefan Niederwieser

Atzur, ein spanisch-österreichisches Duo mit Lebensmittelpunkt in Wien, live zum Quartett erweitert, nutzte freitags die frühe Stunde. Ihr hymnischer Gitarrenpop führte mühelos in den Abend hinein, eine schöne, dicke Menschentraube blieb für abwechslungsreiche Songs stehen und für eine Band, die gut geölt wirkte und dazu bereit, alle mitzureißen, die vorbeikamen. Die Zwischenansagen der Sängerin – auffällig in limonengrün – waren auf Spanisch und knackig, die Songs wurden meist auf Englisch gesungen. Es gibt nun einen Mangel an Bands, die mit Midtempo-Songs und U2-Rock-Gitarren auf ein sehr breites Publikum schielen. Aber unter bestimmten Umständen – unter anderem Management, Produktion, klares Profil, klare Botschaften – kann dieser Sound mittelgroße Halle füllen. Atzur haben gewonnen.

190.000 Menschen sollen beim diesjährigen Primavera an den drei Hauptfestivaltagen zu Besuch gewesen sein. Das sind mehr als zwanzig Prozent weniger als im Vorjahr. Und trotzdem schien das hoch gegriffen. Am Donnerstag, dem ersten Juni, war vor allen Bühnen reichlich Platz. Kein Vergleich zu Dua Lipa, Charli XCX oder Jessie Ware letztes Jahr, als alle ausgehungert von zwei Jahren Pandemie waren, als viele Nadelöhre entstanden, an denen sich Menschen stauten und drängten. Die gefährlichen Stellen waren allesamt weg. Gelegentlich – wenn etwa jemand wie die Neo-Perreo-Musikerin Tokischa auf eine zu kleine Bühne programmiert wurde, konnte es eng werden. Aber solche Dinge passieren. Highlights waren u.a. Rosalía, Maggie Rogers, Rema, Kendrick Lamar und möglicherweise Alvvays. Nach wie vor erreicht kein anderes europäisches Festival eine derartige Breite und Tiefe im Lineup, die von Hip Hop, Tiktok Pop und K-Pop über Techno, Riot Grrl, Metal, Anti-Folk und Afrobeats bis zu alten Legenden, werdenden Legenden und Nachwuchshoffnungen reicht.

Bild Farce / Primavera Festival
Farce / Primavera Festival (c) Stefan Niederwieser

Farce – Wiener Nachwuchshoffnung seit 2017, gelegentlich mit Genieverdacht versehen und zuletzt Gewinnerin des XA-Awards am Waves Festival – spielte ebenfalls auf der Night-Pro-Bühne am Timeslot nach Atzur. Der Freitag war bereits in vollem Gang, die Anti-Folk-Helden Moldy Peaches – zum ersten Mal seit zwanzig Jahren in Europa auf Tour – hatten begonnen und in zehn Minuten wollten Depeche Mode über Worte wie Gewalt singen, die das Schweigen brechen. Die Mittzwanzigerin Farce hatte diesen Song auf ihrem jüngsten Album als „Thee Silence“ gecovert. Im Live-Set fehlte er. Stattdessen fuhr Farce mit Laptop, Gitarre und Vocoder den Sound großer Dancefloors auf, die Melodien gewohnt zerbrechlich, die Produktion breit aufgetragen und ungeschliffen, dazu Geschichten ohne die typischen Buzzwörter später Millenials, sondern diffuses Coming-Of-Age. Trockennebel, Laser und Sommergefühle blieben aus. Unter solchen Umständen hätten auch Atzur verloren.

Bei Festivalmonstern wie dem Primavera Sound, das mittlerweile Ableger in Porto, Madrid und den südamerikanische Kapitalen Sao Paolo, Buenos Aires, Bogota und Asuncion veranstaltet, kann vielleicht noch das Management großer Headliner mitreden, wo und wann sie spielen. Als Neil Young etwa vor mehreren Jahren auftrat, mussten alle anderen Bühnen verstummen. Alle anderen müssen das Beste daraus machen.

Dorian Concept spielte am Donnerstag auf einer der kleinsten Bühnen. Ein Steg führte hinaus auf eine Insel in einem Meeresbecken, wo rund 200 Menschen Platz finden konnten. Unweit performten gerade New Order, Gesichtstattoo-Rapper Central Cee oder das Future-J-Pop-Trio Perfume. Dorian Concept kam mit schmalem Gepäck, ein Stück hatte er im Hotel vergessen und fing deshalb leicht außer Atem mit seinem kurzen Set an. Schicht um Schicht de-konstruierte er in fünf Dimensionen Synths, Beats und Melodien. Das Spielen hat er sich selbst beigebracht, meinte er hinterher einnehmend freundlich auf die Frage eines Fans. Die Leute, die hierherkamen, so schien es, wollten genau ihn sehen. Irgendwoher – vielleicht von einem der vielen Videos im Netz – mussten sie erfahren haben, dass eine Show von Dorian Concept immer anders, immer aufregend sein muss. Er spielt auch ein weiteres Mal beim Primavera Festival in Madrid. Und ganz genau, Dorian Concept hat gewonnen, was zu gewinnen war.

Stefan Niederwieser

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