Einen „heimlichen Frauenschwerpunkt“ habe es in diesem Jahr gegeben, so der Kurator und Leiter der Donaueschinger Musiktage, Armin Köhler und Dorothea Enderle, Musikchefin des die Musiktage veranstaltenden Südwestrundfunk. Ein Frauenschwerpunkt? Heimlich? Zwei Konzerte gab es, die sich ausschließlich Komponistinnen bzw. Improvisatorinnen gewidmet haben; bewusst und gezielt das eine, eher natürlich aus ästhetischen und dramaturgischen Programmierungsgesichtspunkten entstanden das andere. Die NOWJazz Session und das Konzert der Stuttgarter Vokalsolisten. Doch warum heimlich? Was von den Verantwortlichen positiv auch in dem Sinne gedacht war, dass solche Konzerte inzwischen möglich sind, wird durchaus kontrovers aufgenommen. Und dass solche Formulierungen verwendet werden (oder noch ntowendig sind) zeigt umso mehr, dass die Präsenz von Komponistinnen und Jazzmusikerinnen leider noch längst nicht so selbstverständlich ist, wie sie sein sollte.
1921 gegründet feierten die Donaueschinger Musiktage in diesem Jahr ihr 90-Jahr-Jubiläum. An der Donauquelle gelegen sind sie nicht nur das älteste Festival, das sich zum Ziel gesetzt hat, die internationalen Entwicklungen der Avantgarde bzw. des zeitgenössischen Kunstmusikschaffens zu präsentieren (nur ein Jahr später übrigens wurde die IGNM als Gesellschaft mit vergleichbaren Zielen gegründet, mit dem Ziel des internationalen Austausches und der Vernetzung), sondern auch eines der wenigen Festivals, die ausschließlich Uraufführungen präsentieren – ermöglicht u.a. durch einen Rundfunk, der seinen Kulturauftrag noch ernst nimmt, der auch die Ermöglichung und das kreative Schaffen von (Hoch)Kultur einbezieht.
Ein reines Uraufführungf estival ist immer zugleich auch ein Stück weit ein Experiment im Wortsinne, ein Programm mit ungewissem Ausgang. Oft gibt es zumindest ein herausragendes Werk oder Projekt, das dieses Experiment wert war, selbst wenn es nicht vollständig geglückt sein mag (wie etwa das mehrdimensionale, längst nicht nur mit wechselnden Räumen und Besetzungen spielende Musiktheater „Batsheba“ von Manos Tsangaris 2009). In diesem Jahr blieb ein Highlight allerdings aus. Auch spezielle neue Präsentationsformen, mit denen Kurator Armin Köhler immer wieder experimentiert, um neues und erweitertes Denken über und mit bzw. in Musik anzuregen gab es keine. Anders allerdings ausgedrückt: Formen wie Wandelkonzerte als multimeldiale Inszenierung im Museum (Francois Sarhan) bzw. Konzertinstallationen als Raumklanginszenierung (wie in diesem Jahr von Rebecca Saunders) sind inzwischen fast schon eine etablierte Präsentationsform geworden, sind inzwischen ganz selbstverständlich im Programm der Donaueschinger Musiktage zu finden. Eine Konstante bleiben die Ensemblekonzerte wie auch Anfangs- und Schlusskonzert, die traditionell vom SWR Sinfonieorchester bestritten werden.
Zum Abschluss gab es diesmal leider eine Ernüchterung. In „Kontra-Gewalt“ für Klarinette und Orchester kontrastiert Saed Haddad, seinen Werktitel allzu simpel ausdeutend, einfache Massenaufbauten mit lyrisch-zartem Klarinettenklang. Nicht nur simpel, sondern schlicht banal und als ironische Brechung nicht im Ansatz geglückt war das folgende Stück: „To Zeitblom“ von Lars Petter Hagen. Der Norweger sucht die Volksmusiktradition seiner Heimat in seine Werke zu integrieren. Doch elegisch-sentimentale und ungebrochene Melodiefetzen auf der Hardangerfiedel mit einigen zarten Obertonauswüchsen im Orchester anzureichern reicht dazu kaum aus, mögen zusätzlich auch einige bemüht ironisch wirkende Adornozitate rezitiert werden. Der jährlich vergebene Preis des SWR-Orchesters (Aufnahme ins Orchesterreperoire im Folgejahr) ging erstaunlicher Weise an Andreas Dohmens „zirckel/richtscheyt/felscher“. Frei nach Albrecht Dürer mit Zirkel und Lineal gearbeitete, meist dichte Strukturfolgen, auf Dauer deren Prozessverläufe nach und nach zu vorhersehbar wurden.
Zur Auswahl für diesen Preis hätten noch die beiden Werke des Anfangskonzertes gestanden. Wolfgang Rihms auf eine ganze Stunde ausgebreitetes, komplexes Werk „Séraphin“ ist eine mehrfache Überschreibung und Erweiterung schon existierender Stücke – ästhetisches Prinzip, aber auch ein wenig effektive Werkhäufung? Wie dem auch sei, Kern des Ganzen ist ein Ensemblewerk, gespielt von der Musikfabrik, deren Musiker als inneren Kern (oder Solistensemble) vor dem Orchester saßen, mit diesem interagierten. Dichte Überlagerungen, komplexe Strukturschichtungen, detaillierte Ausformungen und dennoch bleibt letztlich der Eindruck des allzu Effektvollen, kombiniert mit der immer wieder von Rihm ausgebreiteten, wenn auch hier etwas zaghafter positionierten Sehnsucht nach fast romantischer Klangsinnlichkeit.
Pierluigi Billone übertrug seine in vielerlei kammermusikalischen Besetzungen erprobten Geräuschstrukturen auf das Orchester, wobei er dramaturgische Abläufe stärker gestaltete als in manchen seiner letzten Werke und sich nicht nur auf Nuancenabweichungen beschränkte. Zwei Solistinnen (Stimme und Fagott) waren ins Orchester integriert, subtile Interaktion und Verschmelzung statt concertare im Sinne eines Wettstreits. Aus dem mal energetisch, dichten, mal zart leuchtenden Geräuschpartien des Orchesters traten die Klänge der beiden Solistinnen organisch, dann wieder wie Fremdkörper hervor. Vier Perkussionisten an den Ecken des Orchesters fungierten quasi als „Percussion Continuo“, setzten eine, wenn auch nicht pausenlos anhaltende, akustische Klammer.
Im Konzert der Musikfabrik Nordrheinwestfalen stand unter anderem Wolfgang Mitterers „Little Smile“, mit Mitterer selbst am Laptop, am Programm. Zunächst ruhigere, zunehmend sich verdichtende Repetitionsgesten, kurzes Innehalten, Aufatmen. Mitterer setzt Impulse, verdichtet, komponiert unterschiedlich lange quasi Ausschwingvorgänge, die immer wieder verschieden gestört, unterbrochen oder verlängert werden. Ein unregelmäßiges Ein- und Ausatmen. Mitteres live-elektronische Verfremdungen gerieten auch in seinen improvisatorischen Passagen nicht überladen oder plakativ, sondern fügten sich organisch in das Geschehen ein.
Musik und Video wurde in zwei Projekten gekoppelt. Hans Thomalla komponierte zu Videosequenzen, die er zusammen mit William Lamson im Death Valley gedreht hatte. Die Bilder: verwandt der Landart, reduzierte Aktionen. Thomalla übertrug nicht nur die, zum Teil gleichzeitig als pure Fieldrecordings zugespielten Windgeräusche etc. auf das Ensemble, sondern letztlich auch den „Protagonisten“ der Videosequenzen, den Wind, den Motor für die gezeigten „unnatürlichen“ Bewegungen von Flaschen oder Kübeln auf unterschiedlichem Wüstengrund. Schön anzusehen, aber musikalisch letztlich eine recht eindimensionale, ja plakative Sicht der Übertragung und Doppelung. Jennifer Walshe komponierte für die Vokalsolisten Stuttgart eine Vokal-Geräuschperformance mit kurzen Videosequenzen unter dem Titel „Watched over lovingly by silent machines“. Hier ging es gerade nicht um stets hörbare Übertragung von Bild und Klang, sondern um klangliche Imaginationen, subtile Abweichungen oder gar eine Art „doppelten Stummfilm“, bei dem selbst die Live-Musik zum Teil nur als Performance sichtbar war – wie öfter bei Walshe, die mit Imaginationen, Assoziationen und Skurilitäten spielt.
Ebenfalls von den sowohl musikalisch als auch performatorisch hervorragenden Neuen Vocalsolisten Stuttgart interpretiert wurden Kompositionen von drei weiteren Frauen. Viele Reaktionen auf dieses Konzert zeigten vor allem eines: Dass Komponistinnen leider immer noch als Ausnahme rezipiert werden. „War dies weibliche Musik? Ist evtl. das Sujet des Werkes speziell weiblich?“ – Das waren Fragen, die in einem kurzen Rundfunkgespräch über das eben gehörte Konzert der (weiblichen) Gesprächspartnerin gestellt wurden. Musikalisch waren diese Fragen sicher mit nein zu beantworten und von der Themenwahl her wäre, wieder einmal, dafür zu plädieren, die althergebrachten, sozialhistorischen Zuschreibungen und Klischees als männliche und weibliche Ästhetik oder Emotion endlich zu verwerfen und die Musik als solche zu betrachten. Denn niemand würde in einem Interview im Anschluss an ein Konzert, dessen Werke sämtlich von Männern geschrieben wurden, gefragt, ob die Stücke männlich seien oder die Thematiken besonders männlich.
Vielleicht gab es doch einen Höhepunkt der diesjährigen Donaueschinger Musiktage?
„Das ist doch kein NOW Jazz, das ist doch total veraltet“ – so die Reaktion eines jungen Zuhörers im Anschluss an das Konzert von „Les Diaboliques“. Veraltet? Die drei Pionierinnen des europäischen Free Jazz, eine der ältesten noch existierenden Bands der improvisierten Musik überhaupt, sind nicht nur hervorragende Musikerinnen und Improvisatorinnen, die in ihren Anfangszeiten eine völlig eigenständige, gerade nicht ihre männlichen Kollegen kopierende, Ästhetik entwickelt hatten. Historisch mag diese Ästhetik sein, veraltet wohl kaum. Mit unglaublicher Spielfreude und Präsenz integrierten sie an diesem Abend Performance und widmeten das Konzert quasi als historische Reminiszenz in gebrochener Ironie ihren Anfangszeiten als Band während der Blütezeit des Feminismus, deren Ziele gerade im Jazz leider noch lange nicht erreicht sind. Denn „Les Diaboliques“ waren, zusammen mit dem eine Improvisatorengeneration jüngeren Duo „Phantom Orchard“ (die Harfenistin Zeena Parkins und die Elektronikerin Ikue Mori) und dem zwei Generationen jüngergen Norwegerinnen SPUNK die ersten Frauen, die bei der Jazzsession der Donaueschinger Musiktage nicht nur als Mitwirkende in einem Männerprojekt, sondern auch als Leitende und Initiatorinnen bzw. Komponistinnen zu hören gewesen waren.
SPUNK und „Phantom Orchard“ schlossen sich in einem dritten Teil zum „Phanton Orchard Orchestra II“ (die erste Ausgabe war in anderer Besetzung beim NEWJazz Meeting des SWR 2008 aus der Taufe gehoben worden) zusammen und spielten nach Konzepten von Zeena Parkins und Ikue Mori 27 Märchen – Improvisationen und klar vorgegebene Strukturen in wechselnder Besetzung, mit leider noch aufgrund kurzer Probenzeit nicht ganz homogenen Übergängen. Welche Märchen? Keine Ahnung, denn es waren mehr ferne Assoziationen, keine simplen emotionalen Übertragungen, keine plakativen Ausdeutungen.
Nina Polaschegg