Donaueschinger Musiktage 2010

Die Donaueschinger Musiktage widmeten sich heuer ausgiebig dem Thema Streichquartett. Um dieser geschichtsträchtigen Gattung auch in der Neuen Musik nachzuspüren, vergab der SWR nicht nur an zahlreiche Komponisten den Auftrag, ein Werk für zwei Geigen, Bratsche und Cello zu komponieren, sondern lud auch drei Streichquartettformationen ein, um den neuen Werken zu einer entsprechenden Uraufführung zu verhelfen.

Am Beginn stand Bernhard Langs Streichquartett „The Anatomy of Desaster“, Teil IX aus dem Zyklus „Monadologie“. Das Material, das der Komponist für dieses Werk heranzieht, stammt aus Joseph Haydns Streichquartett „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“. Mit diesem historischen Bezug verweist Lang nicht nur auf den Inbegriff des Streichquartetts, sondern gleichzeitig auch auf dessen Wandelbarkeit, denn bereits das Original weist mit seinen sieben langsamen Sätzen eine äußerst ungewöhnliche Konzeption auf. Spielte das Thema der Wiederholung bereits in der umfassenden Serie „Differenz und Wiederholung“ eine wesentliche Rolle, geht Lang in der Monadologie dazu über, kurze Abschnitte nicht stur zu wiederholen, sondern unterzieht sie dabei einer ständigen Veränderung. Dazu schickt Lang einzelne Takte oder Töne durch ein eigens programmiertes Computerprogramm, wählt die ihm ansprechend erscheinenden Stellen aus und instrumentiert sie für Streichquartett – und hier mag ein weiterer Bezug zur Tradition liegen, denn auch Haydn bediente sich ja bekanntlich auch gerne musikalischen Würfelspielen … In der daraus resultierenden Komposition (in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes), die vom Arditti Quartet dargebracht wurde, trat das Original an manchen Stellen deutlich hervor, um in den folgenden Mutationen zu verschwinden. Gleichzeitig bleibt ein repetitives Moment erhalten, das manchmal zu groovenden Rhythmen führt und an anderer Stelle wieder zu meditativer Versenkung einlädt. Durch das klassische Ursprungsmaterial klingt das Werk über weite Strecken für Neue Musik verhältnismäßig konsonant. Die Wiederholungen führen jedoch zu einer klanglichen Erscheinung, die der traditionellen Linearität widerspricht. So zeigt die Auseinandersetzung mit dem Streichquartett bei Lang einerseits den starken Bezug zur Tradition und bringt andererseits mit seiner vom Computer unterstützten Kompositionsweise auch für den Komponisten überraschende Klanggebilde zum Vorschein.

Weiter ging es am zweiten Tag mit der sogenannten Quardittiadi – drei Streichquartette spielten teils gleiche Werke an drei unterschiedlichen Veranstaltungsorten: Das Quatuor Diotima aus Paris in der Christuskirche, das JACK Quartet aus New York in der Erich Kästner-Halle (einem Turnsaal) und das Arditti Quartet im Strawinski-Saal der Donauhallen. Deutlich wurde dabei nicht nur die Bedeutung der Interpretation, sondern auch die akustischen Unterschiede führten zu ganz unterschiedlichen Erscheinungen. Und auch die unterschiedlichen Herangehensweisen der Komponisten traten zutage. Widmete sich das renommierte Arditti Quartet mit gewohnt spieltechnischer Perfektion und interpretatorischer Rafinesse mit Werken von James Dillen, Brian Ferneyhough und Philippe Manoury den traditionelleren Kompositionsweisen, konfrontierten die jüngeren Quartette das Publikum auch mit Unkonventionellem. Dazu zählt nicht nur der von Alan Hilario eigens konstruierte Quartetttisch oder der ungewöhnliche Einsatz der Streicher bei Ondrej Adamek, sondern in besonderer Weise auch der in Berlin lebende Oberösterreichers Peter Ablinger. Der Komponist, der danach trachtet, aus den traditionellen Formen auszubrechen und die Grenzen des Werkbegriffs auszudehnen, schuf mit „Wachstum und Massenmord“ ein Stück für Titel, Streichquartett und Programmnote. Erwartet man sich von letzterer eine Werkeinführung, ist man in die Falle getappt. Denn hierbei handelt es sich nicht um eine Analyse, sondern um ein Grönländisches Märchen, in dem ein Mädchen von seiner Mutter mit einem Hund verheiratet wird. Und auch, wenn man nun von den Musikern ein traditionell vorgeführtes Werk erwartet, irrt man. Denn was sich auf der Bühne abspielt, ist eine Probensituation. Ablinger, dessen Schaffen von der Auseinandersetzung mit den alltäglichen Klängen geprägt ist, holt so den Alltag und seine Geräusche auf die Bühne, setzt damit ein Statement gegen die Perfektion der Aufführungen im heutigen Musikbetrieb und erweitert so auf mehrfacher Ebene den Werkbegriff. Manche reagierten auf diesen Grenzgang mit Unverständnis, andere wiederum waren von der Darbietung begeistert. Und auch die Interpreten stehen damit vor neuen Herausforderungen. Das Quatuor Diotoma stellte sich dieser ungewöhnlichen Aufgabe mit Spielfreude und Humor. Die ansonsten in ihrer grauen Montur mit roten Gürteln und Socken gestylt auftretenden Streicher kamen in Privatkleidung auf die Bühne, stimmten gemütlich ihre Instrumente, zogen Stimmgerät und Metronom zurate und widmeten sich mal konzentriert, mal witzelnd den vorgelegten Noten oder zückten ungeduldig das Handy. Bei der ersten Aufführung zeigte dies eine erfrischende Wirkung, bei der zweiten ging dieser Effekt jedoch verloren. Dies lag nicht nur an dem Werk, sondern auch am verkrampften Umgang der Interpreten des JACK Quartets. Denn die jungen Musiker bewiesen zwar bei den übrigen Werken begeisternde Leistungen, wussten jedoch mit der offenen Form nicht recht umzugehen.

Ebenfalls auf ungewöhnliche Weise setzte sich Georg Nussbaumer in der Installation und Performance „Salon Q“ mit musikalischen, soziologischen, bautechnischen und terminologischen Gegebenheiten des Streichquartetts auseinander. In dem alten Backsteingebäude des Möbelhauses Häring verbanden sich die ausgestellten Möbel mit den Gegenständen der Installation: Auf den Tischen fanden sich Schneckenhäuser, die auf die Schnecken der Streicher hinwiesen; Baumstämme wurden aufgestellt und an den Holzbalken befestigt, um auf das Material der Instrumente zu verweisen und ein Video zeigte, wie die Saiten der Geige nicht mit den Haaren eines Bogens, sondern mit jenen einer Frau gespielt wird – und letzterer ist nur einiger der zahlreichen Bezüge, die Nussbaumer zwischen Instrument und Mensch herstellt. Gelegentlich fanden sich auch Instrumentalisten zusammen, um in mehreren Räumen verteilt eine verfremdete Form von Beethovens Streichquartett op. 130 darzubringen oder ihre Instrumente mit Geweihen, Schneckenhäusern usw. zu spielen. Dieser assoziative Umgang wird auch deutlich, wenn ein Schütze mit seinen Pfeilen ein Cello traktiert und damit eine etwas andere Bogenübung vollzieht. Auch hier zeigt sich der bewusste Bezug zur Streichquartetttradition als intime Gattung, wobei die Assoziationsketten zu neuen Sichtweisen auf Instrument, Gattung und Sozialisation verhelfen. Insgesamt zeigte sich so bei diesem Festival eine vielseitige und differenzierte Auseinandersetzung mit der Gattung, in der sich trotz – oder gerade wegen – ihrer Geschichte Platz für neue Zugänge eröffnete.

Wo Donaueschingen drauf steht, darf aber auch das SWR Sinfonieorchester nicht fehlen. Der SWR vergab heuer auch einen Kompositionsauftrag an Georg Friedrich Haas, der dadurch nicht nur die Möglichkeit bekam, ein Werk für das herausragende Orchester zu komponieren, sondern dieses außerdem mit sechs im Zwölfteltonabstand gestimmten Klavieren zu kombinieren. So erreichte er einen Klangvorrat, bei dem die Klaviere mit ihren üblicherweise diskreten Tonabständen beinahe in der Lage sind, ein Glissando zu spielen. In Kombination mit dem Klangfarbenreichtum des Orchesters gestaltete Haas in „limited approximations“ flirrende Klangschwaden ebenso wie dunkles Donnergrollen – eine fixe Tonhöhe scheint es zunächst nicht zu geben. Langsam bilden sich aus dem an- und abschwellenden Geschehen obertonreiche Akkorde; Klaviere und Orchester treten in Interaktion, bei der nicht nur die spektralen Akkorde ihre Wirkung entfalten, sondern auch die Instrumentierung den Reichtum der Klangfarben zur Geltung bringt. Zeigt vor allem der intensive Beginn einen weniger geläufigen Weg von Haas, kommen gelegentlich auch sehr bekannte Elemente aus früheren Werken zum Einsatz, z.B. wenn der gewaltige Klangkörper zu Shepard-Skalen anhebt. Doch als wenn der Komponist sich von alten Mustern verabschieden wollte, wird die Hörerwartung immer wieder enttäuscht, wenn diese nach kurzer Zeit auch schon wieder abgebrochen werden. Gegen Ende bezieht sich Haas auf Ivan Wyschnegradski, der mit seinen spektralen Experimenten einen großen Einfluss auf Haas ausübte und dessen „Arc-en-ciel“ für sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Flügel zuvor in zwei Versionen aufgeführt wurde. Haas’ Werk war damit nicht nur ein gebührender Abschluss für das spannende Festival. Der Komponist erhielt dafür zudem den Kompositionspreis des SWR Sinfonieorchesters. Dadurch steigt die Chance, dieses klangprächtige Werk trotz des enormen Aufwandes auch in Zukunft wieder hören zu dürfen.
Doris Weberberger

Donaueschinger Musiktage