Donaueschingen – jene 21.000-Seelen-Stadt im Süden Baden-Württembergs wird auch heuer am dritten Oktoberwochenende wieder zur Pilgerstadt für Liebhaber und Kenner Neuer Musik, denn dann verwandeln sich die (Turn-)Hallen und Säle der Kleinstadt wieder zum Schauplatz des Uraufführungsreigens Donaueschinger Musiktage. Dieses seit 1921 bestehende, traditionsreiche Festival Neuer Musik, das sich als ältestes seiner Art rühmt, verschreibt sich heuer einer mindestens ebenso geschichtsträchtigen Gattung: dem Streichquartett. Der Südwestrundfunk (SWR), der auch zahlreiche Sendungen zu den Konzerten überträgt, hat also Kompositionsaufträge an Brian Ferneyhough, Philippe Manoury, Pascal Dusapin, Vinko Globokar u.v.m. vergeben; mit Peter Ablinger (*1959), Bernhard Lang (*1957), Georg Friedrich Haas (*1953) und Georg Nussbaumer (1964) ist auch Österreich hochkarätig vertreten. Als Ausführende reisen dafür das JACK Quartett aus New York und das Quatuor Diotima aus Paris an. Diese beiden Formationen, die sich auf Neue Musik spezialisiert haben, sind international bereits sehr erfolgreich, hierzulande jedoch noch wenig bekannt – ein Zustand, der sich ja noch ändern kann. Ebenso erscheint das aus der Welt des zeitgenössischen Streichquartetts nicht mehr wegzudenkende Arditti Quartet aus London.
Letzteres macht den Anfang der Konzertserie mit Bernhard Langs IX. Teil seines 2007 begonnenen Zyklus „Monadologie“. Nach seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Gilles Deleuzes „Differenz und Wiederholung“ hebt er die darin entwickelte Kompositionsweise der Wiederholung kurzer Abschnitte auf eine neue Ebene und schafft sich als Komponist nun zusehends selbst ab. Dafür bedient er sich Ausschnitten eines Streichquartetts, das einem maßgeblichen Begründer dieser Gattung zu verdanken ist: Joseph Haydns „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“ op. 51. Zeigt bereits dieses Werk durch seinen Aufbau mit acht langsamen Sätzen und dem Presto-Finale ungewöhnliche Eigenschaften, löst Lang die Form des Streichquartetts noch wesentlich weiter auf. Vom Titel des Zyklus ausgehend bezieht sich Lang auf Gottfried Wilhelm Leibniz’ Idee der Monaden, die als kleinste Einheiten eines Organismus durch ihre spontane Aktivität für unvorhersehbares Wirken verantwortlich sind. Sich darauf stützend geht Lang von kurzen musikalischen Motiven aus (die in diesem Fall eben aus Haydns Streichquartett stammen) und unterzieht diese ständigen Mutationen. Diese kleinen Motive werden dafür nicht durch alltägliche Variationstechniken den ständigen Veränderungen unterworfen, sondern ein von Lang dafür entwickeltes Computerprogramm führt diese auf der Basis zellulärer Automaten aus. Aus dem so generierten Material wählt der Komponist die von ihm gewünschten Passagen aus und setzt sie zu einem neuen Werk zusammen. Durch die Verwendung von Abschnitten fremder Kompositionen und den intensiven Einsatz des Computers stellt Lang die Rolle des Komponisten immer weiter in Frage.
Mit dem In-Frage-Stellen geht es auch am nächsten Tag mit Peter Ablinger weiter. Denn der Komponist hinterfragt in seiner Serie „Instruments &“ (an der er seit 2006 arbeitet) die gängige Konzertsituation und wird dies auch mit dem daraus stammenden Stück „Wachstum und Massenmord“ (dargebracht vom JACK Quartet) in Donaueschingen tun. Denn, so Ablinger in einem Interview mit Armin Köhler: „Wenn man sich ansieht, was da passiert, was die Komponisten tun, Papier, Fünfliniensystem, komplexe Notation, für akademisch ausgebildete Virtuosen auf klassischen Instrumenten, und dann noch die bürgerlichen Konzertsäle, Intendanten, Konzertformen und Orchesterhierarchien, dann sind das alles Formeln, die weit ins 18., ja ins 17. Jh. zurückgreifen. Im Grunde tut diese Art von Komponist nichts anderes, als Beethoven auch schon getan hat – es ist also wie ein Ausfüllen einer bereits vorhandenen Form.“ Anders Ablinger, der seine Werke stets an der gängigen Grenze von Musik und Nicht-Musik, von Wissenschaft und Kunst oder auch von diversen Kunstformen ansiedelt und so den Werkbegriff erweitert. Dazu holt er Alltägliches in den Konzertsaal und oft auch die Rezipienten aus dem Konzertsaal heraus, um sie die alltäglichen Klänge als Musik wahrzunehmen zu lassen. Bei „Wachstum und Massenmord“ überlagern sich drei Ebenen: der Titel, das Streichquartett – als Besetzung, nicht als Gattung – und die Programmnote, die von einem Mädchen handelt, das auf Drängen seiner Mutter einen Hund heiratet … Diese stehen alleine durch ihre gleichzeitige Präsenz in Beziehung. So obliegt es den Rezipierenden, aus dem Gegebenen Verbindungen für sich herzustellen – oder eben auch nicht. Das Werk spielt sich somit nicht nur auf der Bühne, sondern vor allem in den Köpfen der Rezipierenden in den dadurch entstehenden individuellen Ausprägungen ab.
Wird also von Lang und Ablinger die Rolle des Komponisten und die Aufführungssituation auf den Prüfstand gestellt, bricht ein weiterer österreichischer Komponist in seiner Installation und Performance im Einrichtungshaus Häring mit der traditionellen Konzertkonzeption – Georg Nussbaumer bringt in „Salon Q“ eine Auseinandersetzung mit Querverweisen zum Quartett, wie er in assoziationsreichen Überlegungen ausführt: „Das Q steht natürlich für das Quartett, für Quarten und Quinten, für Quellen und Qualen und ein wenig auch für Stifters Quänger’sches Quartett, für dessen unerbittlichen Übungswillen. Aber vor allem ist der Buchstabe Q hier eine zeichenhafte Darstellung, das Piktogramm eines Streichinstruments: der gerundete „corpus“ und der daran angelegte Bogen – Sinnbild für die Bipolarität, die Kurzschlusshaftigkeit des Streichinstrumentenspiels […].“ Und der Untertitel „Übungen mit Bögen, Haaren, Wangen, Wirbeln, Schnecken …“ deutet bereits an, dass auch das herangezogene Material selbst thematisiert wird: der Instrumentenbau und seine Materialien, seine physikalischen Bedingungen aber auch die haptische Komponente des Spielens, wenn die Interpreten mit ihrem Körpereinsatz in Verbindung mit Instrument und Zuhörerschaft treten. Und so spielt – wie bei Nussbaumer durchaus üblich – auch das Publikum mit. Denn anders als im Konzertsaal, wo man innerhalb eines fixierten Zeitraumes einen festen Platz zugewiesen bekommt, wird man im Salon der anonymen Masse enthoben und ist mit der Aufgabe konfrontiert, als Teilnehmende/r durch das eigene Verhalten die Situation mitzugestalten, zu kommentieren.
Vom Streichquartett hin zu größeren Besetzungen – auch in diesem Bereich gibt es am abschließenden Sonntag eine besondere Gelegenheit, sich der Erweiterung von Tradiertem hinzugeben. Denn aufgelöst wird hier das traditionelle 12-Ton-System. Als Hauptvertreter der österreichischen mikrotonalen Musik legt Georg Friedrich Haas ein mit Conerto grosso betiteltes Werk vor, dessen Besetzung mit sechs Flügeln und kleinem Orchester genauso außergewöhnlich ist wie das verwendete Tonsystem. Denn das halbe Dutzend Klaviere ist im Zwölfteltonabstand gestimmt. Die Oktave wird dadurch gegenüber der 12 üblichen Halbtöne in 72 Abschnitte geteilt, wobei die Differenz der Nachbartöne kaum mehr wahrnehmbar ist. Daraus lässt der Komponist musikalische Gebilde entstehen, in deren Klanglichkeit man sich gleich einer akustischen Lupe hineinhören kann. Zu hören ist aber nicht nur die Uraufführung dieses Werkes, sondern auch jenes, das Haas als Inspiration dazu diente: Arc-en-ciel von Ivan Wyschnegradsky (1893-1979), seines Zeichens russischer, lange Zeit in Paris lebender Komponisten und Pionier mikrotonaler Musik. Der Aufwand, der zur Realisierung des ebenfalls für sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Flügel nötig ist, ist auch nachvollziehbarer Grund dafür, dass dieses Werk kaum zu hören ist – ein Umstand, dem die Donaueschinger Musiktage heuer Abhilfe schaffen, indem am letzten Abend des Festivals die Deutsche Erstaufführung der ersten und die Uraufführung der unvollständigen zweiten Version vonstattengehen.
Zu guter Letzt zunächst die schlechte Nachricht für alle Interessierten: Die Donaueschinger Musiktage waren bereits drei Wochen vor Festivalbeginn ausverkauft. Die gute Nachricht: Der SWR bringt zahlreiche Berichte und Live-Übertragungen, die man sich via Webstream zu Gemüte führen kann.
Doris Weberberger