„Dieses Feilen am Klang finde ich großartig!“ – Martina Claussen im mica-Interview

MARTINA CLAUSSEN arbeitet mit dem ursprünglichsten Instrument, das den Menschen von jeher begleitet: der Stimme. Als Professorin für Gesang an der mdw–Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und Teil des Acousmatic Projects in Wien entwickelt und etabliert sie eine Schnittstelle zwischen klassischem und experimentellem Stimmverständnis. Am 12. November 2022 gelangt ihr Stück „Blackboxed Voices – I Am Here“ im Rahmen von Wien Modern im Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien zur Uraufführung. Mit Sylvia Wendrock sprach sie darüber, wie sich ihr mit der Elektronik der Klang eines ganzen Orchesters eröffnete, aber auch darüber, wie sie sich in ihrer elektronischen Arbeit erst an ihre eigene Stimme gewöhnen musste.

Gerade warst du in Schweden und hast dich mit dem Sound Quartet, einem Ensemble für elektroakustische Kammermusik, befasst. „This is not a flaw“– ein gelungener Titel, wie ich finde.

Martina Claussen: Ja, Fehler passieren. Wir können sie vertuschen, reparieren – es wird der nächste kommen. Manchmal sind sie ja auch durchaus erwünscht.
Jedenfalls haben wir in Stockholm am wunderbaren Veranstaltungsort Fylkingen gemeinsam ein Live-Set gespielt. Wir, das sind Paul Pignon, Thomas Bjelkeborn und ich gemeinsam mit der Videokünstlerin Ida Davidsson. Ich hatte das Glück, jetzt schon das fünfte oder sechste Mal dorthin eingeladen worden zu sein. 

Du bist auch Teil der Steel Girls. Zu ihnen kamst du, als sie sich bereits gefunden hatten? 

Martina Claussen: Ja, ursprünglich waren sie zu dritt, also Astrid Schwarz, Tobias Leibetseder und Angélica Castelló und ich bin dann 2020 dazugekommen. Wir arbeiten mit Instrumenten und Objekten aus Stahl, wobei das Raue und auch Zarte im Klang bei diesem Material seine eigene Qualität und Charakteristik hat. Auch ein performativer Ansatz ist Teil unserer Performances. 

"Blackboxed Voices": Martina Claussen. Brigitte Wilfing
„Blackboxed Voices“: Martina Claussen. Brigitte Wilfing (c) Tobias Leibetseder

Für dein Stück „Blackboxed Voices“ beim diesjährigen Wien Modern hast du intensiv mit Brigitte Wilfing als Performerin und Choreografin zusammengearbeitet. Wie kam es zu eurer Kooperation?

Martina Claussen: Auf der Suche nach einer Choreografin sah ich voriges Jahr bei Wien Modern Brigitte Wilfings und Jorge Sánchez-Chiongs wunderbares Stück „growing sideways“ und erkannte Parallelen zu meiner Arbeit mit Klang. Zu dieser Zeit arbeitete ich bereits mit Thomas Gorbach, Conny Zenk, Tobias Leibetseder und Patrizia Ruthensteiner an Ideen für „Blackboxed Voices“. Brigitte Wilfing kam dann Ende November 2021 dazu. Für sie war das Projekt spannend, weil sie mit diesem Thema in dieser Form noch nicht gearbeitet hatte und das Akusmonium von Thomas Gorbach noch nicht kannte. 

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Wie bist du deine kompositorische Arbeit angegangen? Was war neu dabei für dich?

Martina Claussen: Viele Fragen standen am Anfang meiner Arbeit:
Welche Klänge möchte ich verwenden und aus welchem Kontext stammen sie bzw. in welchen neuen Zusammenhang möchte ich dieses Material stellen? Fragen zur Generierung und Verarbeitung verschiedenster Klänge sowie zur Akustik des Raums, also der Säulenhalle im ehemaligen Semperdepot [Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien] waren ebenfalls sehr präsent. Mit der Darbietung im performativen Format kommt eine physische Ebene hinzu, bei der mit dem Material, hier vor allem mit den Lautsprechern, gearbeitet und geforscht wird. 

Durch die Lichtarchitektur entsteht noch eine weitere Dimension: Conny Zenk verwendet Projektionen und verschiedene, teils mobile Lichtquellen, die zusätzliche Räume kreieren und neue erweiterte Perspektiven schaffen – ein Wechselspiel zwischen analogen und digitalen Räumen. Alle Ebenen des Projektes transformieren sich gegenseitig, nicht immer vollständig kontrollierbar, was auch ein willkommener und mitgedachter Effekt ist. 

Was erwartet einen bei dieser „performativen Klanginstallation“?

Martina Claussen: In „Blackboxed Voices“ fließen Architektur, Licht, Performance und Klang ineinander, transformieren und bedingen sich wechselseitig. An vier Vorstellungsabenden erklingen Stimmen als semantisches und asemantisches Kommunikationsinstrument, live und losgelöst vom menschlichen Körper aus Lautsprechern, während sie sich an den perkussiven Klangstrukturen des Zuspielbands und deren elektronischer Verarbeitung reiben. In non-linearer Erzählform werden parallel ablaufende abstrakte Geschichten miteinander verwoben. Jede Stimme – live gesungen, gesprochen oder aufgenommen – erzählt ihre eigene Geschichte in abstrahierter, fragmentierter Form. Parallelitäten und Überschneidungen führen zu einem Konglomerat aus Assoziationen und neuen Deutungsformen. Das Publikum begeht die Säulenhalle und begegnet unterschiedlichsten Situationen: Momente des fokussierten Hörens von Klanggeschichten bis hin zu Performer:innen, die Raum und Zeit mittels Technologie auf surreale Ebenen heben.
Bei der visuellen Ebene handelt es sich um eine zarte und feine Lichtarchitektur, die sich angelehnt an die veräumlichten Klangstrukturen, quasi verflochten mit der Musik, ihren Weg durch die Halle bahnt. Sowohl eigenständig als auch im Zusammenspiel mit den vier Ebenen des Stücks, entstehen immer neue Räume, optische Erweiterungen, wodurch auch Imagination und Wahrnehmung bei den Zuhörenden stets neu zu erleben sein wird. 

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„Mit der Elektronik als Transformator eröffneten sich mir Welten! Ich hatte nun ein eigenes Orchester, das ich theoretisch allein zum Klingen bringen konnte.“

In der klassischen Gesangsausbildung geht es doch um genau kontrollierte Klang- bzw. Tonerzeugung. Wolltest du diese Ursprungssituation verlassen, um dich zu einer wirklichkeitsnaheren Gestaltung von Klang durch Stimme zu bewegen?

Martina Claussen: Als professionelle Sängerin war ich lange Jahre mit Freude in verschiedensten Genres tätig und vermittle das Handwerk des Singens an der Uni auch mit Leidenschaft. Dieses Feilen am Klang finde immer wieder sehr spannend! In erster Linie wurde ich hier von meiner Neugier angetrieben. Ich habe solchen Spaß daran, die Möglichkeiten meiner Stimme zu erkunden. Bei einem meiner Projekte bin ich mit der Welt der Elektronik in Berührung gekommen. Es handelte sich um eine Kooperation zwischen dem Institut Antonio Salieri und dem Institut für Komposition der mdw und trug den Titel: „Voices In Between – Schumann und Elektronik im Wechselspiel der Kulturen“ und wurde im Gläsernen Saal im Musikverein im Jahr 2010 aufgeführt. Als Sängerin gab es für mich immer einen begleitenden Instrumentalisten. Mit der Elektronik als Transformator eröffneten sich mir Welten! Ich hatte nun ein eigenes Orchester, das ich theoretisch allein zum Klingen bringen konnte. 

Folglich begann ich ein Studium am ELAK [Lehrgang für elektroakustische und experimentelle Musik] an der mdw und schloss danach ein Masterstudium in Kompositions in Linz mit Fokus auf Computermusik ab. Sehr schnell habe ich bemerkt, dass dieses Feld unfassbar komplex  ist. Immer noch lerne ich laufend Neues kennen. 

Die räumliche Verortung durch das menschliche Gehör ist ja ein lebensnotwendiger, sensorischer Vorgang unseres Organismus, lässt uns beispielsweise Distanzen und Gefahren einschätzen. Baut man in der Arbeit für Akusmonium diese Reflexe bzw. Affekte des Hörers mit ein?

Martina Claussen: Es ist nicht mein persönliches Ziel, ohnehin Existierendes nachzubilden. Zu berücksichtigen ist eine solche Wirkung auf die menschlichen Instinkte dennoch, wenn man beispielsweise Klänge von hinten entstehen lässt oder plötzlich eine hohe Lautstärke verwendet. Man muss die Zuhörenden immer im Kopf behalten, bei jedem Klang, den man im Raum positioniert. Was bedeutet das für die Zuhörenden? Bei „Blackboxed Voices“ war meine Frage: Wo möchte ich die Stimmen hören? Ich habe die Stimmen der vier Performenden und meine eigene aufgenommen und in das Fixed-Media-Stück eingewoben. Wenn ihre „körperlosen“ Stimmen erklingen, sind sie physisch präsent und dennoch aus der Zeit genommen. Die Wahrnehmung wird undeutlich, Realitäten verschwimmen.

Ist „Blackboxed Voices“ nicht quasi eine neue Form von Oper? 

Martina Claussen: Es sind alle Parameter einer Oper enthalten, aber ich wollte diesen Begriff vermeiden und bestimmte Erwartungshaltungen im Vorhinein gar nicht erst entstehen lassen.

In „Blackboxed Voices“ gibt es kein einziges Instrument im klassischen Sinne. Das Lautsprecherorchester übernimmt diesen Part. Am liebsten wäre mir ein Publikum, das sich offen und neugierig auf unsere Klangreise einlässt und verschiedene Perspektiven einnimmt, um die Performance in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität zu erfahren.  

Martina Claussen
Martina Claussen (c) Maria Frodl

„Ich fange immer bei den Stimmen an – sie sind für mich die Basis und auch irgendwie mein Lebensthema.“

Welche Klangquellen sind das, die du dann befragst? 

Martina Claussen: Ganz verschiedene. Ich fange immer bei den Stimmen an – sie sind für mich die Basis und auch irgendwie mein Lebensthema. Für „Blackboxed Voices“ habe ich die Stimmen der Performernden aufgenommen. Jede und jeder hat eine individuelle Stimme, nur eine Person darunter ist ausgebildeter Sänger. Es ging mir darum, die Schönheit und das Potenzial der unausgebildeten und ausgebildeten Stimmen herauszuarbeiten. Welche Farben kann die Stimme ausbilden, welche Atmosphären oder Emotionen erschaffen? Die Antwort für mich ist: In jeder Stimme steckt das alles drinnen. Mit dem Mikrofon die Stimmen sehr nah aufzunehmen, finde ich spannend. Darüber hinaus improvisiere ich mit verschiedenen elektronischen Instrumenten und ergänze das manchmal auch mit Field-Recordings, sofern das für mich stimmig ist und das entsprechende Sound-Element in diese Welt einer artifiziellen Natur passt. Ich verwende auch Naturklänge und kann auf eine riesige Menge an Material zurückgreifen, die ich über Jahre hinweg durch meine Arbeit mit Objekten gesammelt und transformiert habe. „Blackboxed Voices“ ist eine erste Station auf einem Weg, der unglaublich viel Potenzial hat. Viele Begriffe müssen noch geprägt und gefunden werden. 

Beim Reflux Festival in Berlin im Oktober hast du auch ein neues Stück vorgestellt: „plait“. Wieder so ein Hinweis auf das Weben wie bei deinem Solodebüt „Verwebung“ …

Martina Claussen: Ja, ich freu mich darauf, dort ein quadrophonisches Solo-Set für Stimme und Objekte zu spielen. Vierkanal ist sehr lebendig, weil man im akustischen Raum wie in einem Klangbad sitzt.

In einem deiner ersten Stücke „dots & lines“ von 2016 hast du ausschließlich deine eigene, also eine klassisch ausgebildete Stimme verwendet und sie elektroakustischen Mitteln und Werkzeugen begegnen lassen. 

Martina Claussen: „dots & lines“ war ein sehr wichtiges Stück für mich. Es besteht einzig und allein aus meiner Stimme, die ich so stark transformiert habe, dass man sie nicht mehr erkennt. Ich konnte nicht anders – ihr Klang hatte mich irritiert. Erst als sie komplett maskiert war, passte es für mich. Natürlich ist die Substanz des Stückes trotzdem meine Stimme, aber ich habe Jahre gebraucht, bis ich sie so wie jetzt in einer Live-Performance einsetzen konnte, also einen ästhetischen Kanal für mich gefunden habe, der sich mir im wahrsten Wortsinn stimmig erweist. 

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„Ich musste mich erst an mich selbst gewöhnen.“

Warum fiel dir das als ausgebildete Sängerin so schwer?

Martina Claussen: Weil die Stimme plötzlich eine ganz andere Identität bekommt. Im klassischen Kontext klingt sie in erster Linie schön. In der Elektronik finden andere Klänge Verwendung, die manchmal ein Mikrofon brauchen, um hörbar zu werden. Ich musste mich erst an mich selbst gewöhnen. Mir ist es auch darum gegangen, ein neues Klangalphabet, ein Stimmklangalphabet zu bauen, welches meine Sprache wiedergibt, und nicht die Sprache einer anderen Person. Hört man sich unterschiedliche Vokalistinnen und Vokalisten an, merkt man schnell, dass jede und jeder sein einzigartiges klangliches, stimmliches Vokabular mit Wiedererkennungswert hat: Es gibt völlig unterschiedliche Identitäten. Häufig geht eine lange Suche voraus, bis man auf die eigenen Klänge, die in einem ganz individuell schlummern, zum Klingen bringen kann. 

Inspirieren dich deine Studierenden zu deiner Forschungsarbeit?

Martina Claussen: Durchaus. Ich arbeite an der mdw sowohl mit professionell ausgebildeten Sängerinnen und Sängern als auch mit Musikerzieherinnen und -erziehern, die teilweise am Beginn unserer Zusammenarbeit stimmlich totale Anfängerinnen und Anfänger sind. Eine komplett unausgebildete Stimme kann unfassbar schön sein. Alle Studierenden bringen die eigene Stimme mit, die wir innerhalb von vier Jahren gemeinsam entdecken und ausbilden dürfen. Das ist ein ungeheures Geschenk. Seit zwei Jahren unterrichte ich zusätzlich eine neue Lehrveranstaltung – das Voice_Lab, ein Experimentierlabor für Stimme und neue Medien im Raum. So verfolge ich nun auch an der Uni meinen Drang, die Erweiterung der Stimme zu erforschen. Jedes Semester erarbeiten wir fächerübergreifend Stücke mit experimenteller Stimme.

Einerseits ist die Stimme vielleicht wie ein Muskel trainierbar, aber das Zusammenspiel aller Parameter allein in unserem Körper, die Klang, Tiefe, Atmosphäre, Lautstärke, Artikulation und vieles mehr beim Singen und Sprechen beeinflussen, ist unfassbar komplex. 

Martina Claussen: Da sind wir beim Thema von Wien Modern: Komplexität. Die Stimme als Instrument ist sehr komplex, erst recht, wenn der emotionale Aspekt dazukommt. 

„Dieses Stück möchte Geschichten erzählen und viel Raum für die eigenen lassen.“

Die zwei Aspekte von Stimme: Sprache im Sinne von Muttersprache, aber auch Aussprache, und der psychoakustische Aspekt: die emotionale Wirkung von Stimme nach innen und außen. In „Singularities #4“ beschreibst du, dass bei der Bearbeitung der Stimmen eine erstaunliche Poesie entstanden ist.

Martina Claussen: Es gibt keinen Text beim Stück „Flashback“, das auf dem Compilation Album „Singularities #4“ erschienen ist. Mit Texten arbeite ich meist nur in Auftragswerken. Wenn ich keine Vorgabe habe, lande ich beim Klang, weil er für mich viel mehr ausdrücken kann als der Text, die Semantik. 

Bei „Blackboxed Voices“ geht es vor allem um Wahrnehmung, um das Schauen, Hören und Fragen. Wo bin ich? Wer bin ich? Welche Rolle hab ich jetzt gerade? Bin ich wirklich (noch) Publikum oder schon Agierende bzw. Agierender mitten im Lichtkegel – gemeinsam mit dem Performer bzw. der Performerin neben mir? Was macht das mit mir? Dieses Stück möchte Geschichten erzählen und viel Raum für die eigenen lassen. 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Sylvia Wendrock (Sprechgold)

Termine:
Martina Claussen: Blackboxed Voices – I am Here (2022 UA)
Eine performative Klanginstallation für vier Performer:innen/Vokalist:innen, Akusmonium, Fixed Media, Live-Elektronik und Lichtarchitektur
Wien Modern
Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien
Samstag, 12. November 2022, 17:00 Uhr
Weitere Aufführungen:
Samstag, 12. November 2022, 20:00 Uhr
Sonntag, 13. November 2022, 17:00 und 20:00 Uhr

Links:
Martina Claussen
Martina Claussen (music austria Datenbank)
The Acousmatic Project