„DIESE MENSCHEN SIND KUND:INNEN WIE ALLE ANDEREN UND SO WOLLEN SIE AUCH WAHRGENOMMEN WERDEN“ – FULLACCESS IM MICA-INTERVIEW

In Österreich leben rund 1,4 Millionen Menschen mit Behinderungen. Mehr als die Hälfte dieser heterogenen Personengruppe fühlt sich aufgrund fehlender Strukturen in der Freizeit benachteiligt. MARTINA GOLLNER und CHRISTINA RIEDLER kannten diesen Missstand sehr gut und beschlossen daraufhin, mit ihrer 2016 gegründeten Firma “ihr eigenes Problem zu lösen”. Mit FULLACCESS unterstützen GOLLNER und RIEDLER Veranstalter:innen bei der barrierearmen Umsetzung ihrer Events mit Beratung, diversitätssensibler Kommunikation und einem Team vor Ort. Auf welche Widerstände sie zu Anfang in Österreich gestoßen sind, warum Veranstaltungen selten barrierefrei sein können und inwiefern die Metal-Community als Best-Practice-Beispiel in Fragen der Inklusion hervorsticht, erzählen die beiden Gründerinnen von FULLACCESS im Gespräch mit Ania Gleich.

Wie ist FullAccess entstanden?

Christina Riedler: Gegründet haben wir die Agentur im Mai 2016, aber das Ganze hat eine lange Vorgeschichte. Wir haben mit FullAccess nämlich versucht, unser eigenes Problem zu lösen. Ich bin seit meinen Teenagertagen als Begleitperson unterwegs, vor allem mit Personen mit Sehbehinderungen. Gleichzeitig war ich immer total Musik-affin und bin ständig zu Konzerten gegangen. Martina und ich kennen uns aus dem Gymnasium und sie ist die andere Seite der Medaille: Martina ist hochgradig sehbehindert. Und ich wollte immer, dass sie auf Konzerte mitkommt, aber aufgrund ihrer Sehbehinderung hatte sie immer Bedenken. 

Martina Gollner: Ich bin bis zu diesem Zeitpunkt nie auf ein Festival gegangen. Ich wäre nicht mal auf die Idee gekommen, weil ich mich vor den Menschenmassen gefürchtet hätte. Weil, was ist, wenn ich verloren gehe? Was ist, wenn ich so weit hinten stehe, dass ich gar nichts sehe? Der für mich vermutet unangenehmen Situation, bin ich einfach ausgewichen. Aber wir haben dann trotzdem angefangen, gemeinsam zu Konzerten zu gehen.

Christina Riedler: Das, was mir Konzerte bedeuten, wollte ich weitergeben. Ich war total traurig, dass sie das als beste Freundin nicht erleben kann. Also habe ich angefangen, als ihre Begleitperson mit Martina auf Konzerte zu gehen. Was uns sofort aufgefallen ist, dass es kaum Vergünstigungen für Menschen mit Behinderung gab. Es gab vielleicht Rollstuhltickets, aber was ist zum Beispiel mit Menschen mit Sehbehinderung? Deswegen habe ich angefangen als Begleitperson bei verschiedenen Ticketprovidern oder den Veranstaltern direkt anzurufen, aber das war ziemlich ernüchternd. Einmal bin ich durch das ganze Unterfangen, nur mal zu fragen, ob es eine Vergünstigung gibt, schlussendlich beim Management  von Bruce Springsteen in Deutschland gelandet. Das war mir total unangenehm. Ich wollte ja nur für Österreich die Info haben, aber niemand wusste wie, was, wo. Das war aber generell im Freizeitbereich ein Problem. Mit einer anderen Klientin war ich im Kino und musste mir Dinge anhören, wie “Ja, wenn die nix sieht, warum geht die dann ins Kino?” Das war einfach furchtbar! In Österreich haben wir irgendwann auch aufgehört auf Konzerte zu gehen, weil es uns zu anstrengend wurde.

Bild Donauinsel Fest 17
Donauinsel Fest 17 (c) FullAccess

Martina Gollner: Dazu will ich kurz den sozialrechtlichen Background erklären. Mein Grundberuf ist Sozialarbeiterin. Ich kenne mich im Handlungsfeld Behinderung mit Nachweisen aus. Ich habe selbst einen Behindertenpass, mit soundsoviel Prozent Grad der Behinderung, und der Zusatzeintragung “Bedarf einer Begleitperson”. Und es gibt ja auch den Faktor, dass wenn ich als Person mit Behinderung darauf angewiesen bin, dass mich jemand in  außergewöhnlichen Situationen wie einem Konzert begleitet, ich für die andere Person auch ein volles Ticket zahlen muss. Das ist neben dem Planungsaufwand, den ich in der ganzen Aktion habe, noch ein zusätzlicher finanzieller Aufwand. Da gibt es in anderen Ländern schon viel bessere Rahmenbedingungen. 

„ES IST UNS WICHTIG VON ‘BARRIEREARM’ ZU SPRECHEN. ‘BARRIEREFREI’ IST DAS HOHE POLITISCHE ZIEL, DAS ZWAR WICHTIG ZU HABEN, ABER IM GRUNDE NIE VOLLSTÄNDIG ZU ERREICHEN IST.”

Christina Riedler: Nämlich in UK, und überhaupt dem englischsprachigen Raum. Dort sind wir 2014 auch auf ein großes Festival in Knebworth,  außerhalb von London, gegangen. Dort gab es für Menschen mit Behinderungen eine ganze Plattform zwischen den Bühnen. Rollstuhlplattformen gab es ja hier auch schon , aber die waren meistens klein und ganz hinten. Aber die war riesig und es durften auch nicht nur Rollstuhlfahrer:innen darauf. Für mich war das der Turning-Point. Da gab es unter anderem einen jungen Mann auf einer Krankenliege, der sich ab dem Hals gar nicht mehr bewegen konnte und zwei Assistenzpersonen benötigte. Da hat niemand blöd geschaut. Als dann bei dem Festival Iron Maiden angefangen hat zu spielen, hat man wirklich gemerkt, was das dem Typen gibt und der ganze Aufwand ihn dort hinzubringen sich ausgezahlt hat. In dem Moment war der Gedanke da, dass wir in Österreich etwas machen müssen. Nachdem ich einen akademischen Hintergrund habe, habe ich zuerst probiert durch meine Dissertation daran zu arbeiten. Aber das war mir alles zu wenig und durch einen Zufall, einen Wettbewerb einer Getränkefirma entdeckt, bei dem wir dann das erste Mal unsere Idee gepitcht haben. Wir sind dann zwar tatsächlich weitergekommen,  hat aber schlussendlich  nicht funktioniert, dass wir eine:n Investor:in dort überzeugen konnten, aber wir sind doch soweit reingerutscht, dass wir vom universitären Gründerzentrum INiTS gefunden und aufgenommen wurden und später dann sogar eine Förderung von der Wirtschaftsagentur bekommen haben. 

Seid ihr da bei der Musik stehen geblieben?

Christina Riedler: Wir haben uns von Anfang an auf den gesamten Freizeitbereich konzentriert, weil das Thema Inklusion im Bereich Arbeit von anderen Stellen übernommen wird. Deshalb haben wir mit Musik und Großveranstaltungen angefangen. Das Donauinselfest war unser early adaptor. Aber wir machen mittlerweile auch wirklich alles im Freizeitbereich, also auch Sportveranstaltungen und Konferenzen. Da gab es einfach generell gar nichts und wir wollten diese Schnittstelle schaffen. Im Grunde unterstützen wir die Veranstalter:innen bei der Umsetzung von barrierearmen Events. Dabei ist es uns super wichtig, von “barrierearm” zu sprechen.”Barrierefrei” ist das hohe politische Ziel, das zwar wichtig zu haben, aber im Grunde nicht vollständig zu erreichen ist. Denn wenn du jetzt eine Open-Air-Veranstaltung nimmst oder das Forum Alpbach als große Konferenzveranstaltung: Dort kannst du nicht alles einfach planieren, damit es für alle passend ist. Oder bei Open-Airs in general wirst du immer ein Problem mit der Bodenbeschaffenheit haben. Genauso bei Theatern, die einfach baulich oft problematisch sind.

Martina Gollner: Das ist für viele ein finanzieller Aufwand, der von den kleinen  Vereinen, die diese Venues betreiben, nicht zu stemmen ist. Natürlich wäre es das Ideal überall einen Lift hineinzubauen, aber wenn man von einer Förderung zur nächsten existiert, ohne zu wissen, ob die weiter gewährt bleibt, werden solche Maßnahmen schwierig. Deswegen setzen wir bei unseren Kund:innen eher an bei Fragen, wie: Was gibt es schon vor Ort? Wer kann mir überhaupt Informationen darüber geben, was es gibt? Es gibt meistens mehr, als nach außen kommuniziert wird, weil viele oft nicht wissen, was sie wirklich für Strukturen haben. Vielleicht wurde sogar irgendwann einmal  eine Induktionsschleife, die man als Hörunterstützung einsetzen kann, verbaut, das Wissen darüber ist aber in den wechselnden Teams verloren gegangen und auch, wie sie zu benutzen ist. Der nächste Schritt wäre es dann, diese Information nach außen weiterzugeben und die Besucher:innen darüber zu informieren, dass es so etwas wie eine Induktionsschleife gibt. Wenn die Schleife nämlich eingeschaltet ist, muss man nur sein Hörgerät umschalten, um den Ton der Veranstaltung direkt in sein Hörgerät zu empfangen. Das wäre eine klassische Maßnahme zur Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten. Und es gibt noch viel mehr Kleinigkeiten, wo man mit kleinen Maßnahmen eine Verbesserung bewirken kann. Oder, dass man überhaupt einmal Bewusstsein darüber schafft. Wir geben auch Workshops zu dem Thema und machen Mitarbeiter:innenschulungen. Man muss die Besucher:innen mit Behinderungen auch kommunikativ abholen oder zumindest einen Umgang lernen, bei dem man sich nicht vor diesen Fragen scheut. Denn es ist auch nicht dramatisch, sagen zu müssen, dass man etwas nicht hat. Aber es ist besser für alle, die Information im Voraus zu haben und nicht erst, wenn ich schon vor der Toilette stehe und dann draufkomme, dass ich sie nicht benutzen kann.

Bild Donauinsel Fest Plattform / Martina Gollner
Donauinsel Fest Plattform / Martina Gollner (c) FullAccess

Christina Riedler: Und Informationen im Vorfeld sind gerade bei unserer Kund:innengruppe sehr wichtig. Sie informieren sich oft Monate vorher, welche Hilfsmittel sie mitnehmen müssen oder welche Begleitperson sie für das Gelände benötigen. In den seltensten Fällen treffen Menschen mit Behinderungen da eine spontane Entscheidung. Das heißt, du musst dir immer die ganze User:innenjourney anschauen. Deswegen bieten wir für Festivals auch an, als Team vor Ort zu sein. Am Donauinselfest beispielsweise übernehmen wir die gesamte Plattformbetreuung und Kommunikation.

Martina Gollner: Da nehmen wir im Auftrag des Veranstalters schon im Vorfeld alle Anfragen entgegen. Das heißt, die Leute können jemanden erreichen und wir können im Vorfeld besprechen, ob das für die Person passt oder nicht. Das sind ja auch so ganz diffuse Ängste und Ideen, auf die man sonst gar nicht käme, wie: “Darf ich dieses Hilfsmittel überhaupt dabei haben, ohne dass mir die Securities das abnehmen?” Aber wenn man diese Fragen stellen kann, kann man Ängste auch schnell aus der Welt schaffen.

Menschen ohne Behinderung, die Events organisieren, denken nicht an solche Partikularinteressen.

Christina Riedler: Ja, aber das Organisationsteam so eines Festivals hat auch einen anderen Schwerpunkt und muss auf etwas anderes schauen. Wir sind also die Außenstelle, die sich damit auseinandersetzt, wobei sich eine von uns auch ins Organisationsteam hinein setzt, damit wir immer ganz kurz Rücksprache haben können, wenn es Fragen gibt.

„DIE ENTSCHEIDUNG DAFÜR, EINE FIRMA ZU GRÜNDEN KAM DAHER, DASS WIR DAS THEMA BEHINDERUNG AUS DIESEM GANZEN FÜRSORGE-MILDTÄTIGKEIT-SPENDEN-BEZUG HERAUSHOLEN WOLLTEN.”

In Österreich gibt es 1,4 Millionen Menschen mit Behinderung. Gibt es bundesweit ein Stadt-Land-Gefälle, was die Strukturen und Möglichkeiten betrifft?

Martina Gollner: Grundsätzlich arbeiten wir in ganz Österreich. Im Moment haben wir die meisten Aufträge allerdings in Wien, Steiermark, Oberösterreich und Niederösterreich. Vielleicht könnte man sagen, wir bewegen uns eher in der Osthälfte, was aber auch daran liegt, dass man uns im Westen vielleicht auch einfach noch nicht entdeckt hat. Dabei möchte ich noch etwas zu unserer Kommunikationsdienstleistung nachliefern: Ich, als Frau mit Behinderung und mit meinem Hintergrund als Sozialarbeiterin, habe ich immer auch diesen Peer-Charakter. Die Leute hören eher auf mich, wenn ich ihnen sage, dass sie aus Sicherheitsgründen nicht im Bühnengraben stehen können. Sicherheit wird immer alle anderen Bedürfnisse overrulen. Wenn das Sicherheitskonzept sagt, dass etwas nicht geht, dann geht es einfach nicht. Das wird aber von mir als Person mit Behinderung viel besser angenommen. Weil damit sofort das Gefühl wegfällt, dass etwas über ihren Kopf hinweg entschieden wird.

Christina Riedler: Aber es geht auch in die andere Richtung: Wenn wir Vorschläge von Festivalgäst:innen bekommen, dann können wir die filtern und in einem Debriefing für unseren Kunden aufbereiten, wo noch was fehlen würde. Außerdem darf man nicht vergessen: Es gibt nicht nur die Publikumsperspektive, sondern auch die der Acts selbst: Wie komme ich auf eine Bühne, wenn ich eine Behinderung habe? Wenn ich DJs buchen will, die beeinträchtigt sind, muss ich auch die Strukturen dafür haben.

Vermutlich sind Acts mit Behinderung auch deswegen weniger sichtbar, weil es die Strukturen so oft nicht gibt.

Martina Gollner: Das liegt aber auch daran, dass wir eine bestimmte Vorstellung von unversehrten Körpern haben, wie das Gesamtpaket ausschauen und rüberkommen soll. Das ist nicht überall so, aber wenn wir jetzt einmal von Pop-Musik sprechen, bekommt man oft das Gefühl

Wie oft werdet ihr mit Vorurteilen konfrontiert?

Martina Gollner: Ich komme ja aus dem Sozialbereich. Und da sind es meistens Vereine, die sich mit dem Handlungsfeld Behinderung auseinandersetzen. Dieses Handlungsfeld ist weiter auf die einzelnen Arten von Behinderungen aufgesplittert. 

Christina Riedler: Da gibt es untereinander bestimmte Befindlichkeiten. Die eine Gruppe kriegt das, was die andere Gruppe nicht kriegt, anstatt dass man sich auf eine größere Ebene begäbe, um dort gemeinsam Forderungen durchzubringen. Das ist das, was wir mit FullAccess probieren. Wir bieten unseren Veranstaltern ein Gesamtkonzept an, nämlich wie man allen Gruppen barrierearme Veranstaltungen bieten kann. Diese bewusste Entscheidung eine Firma zu gründen und nicht einen Verein, was vielleicht wirtschaftlich gesehen einfacher gewesen wäre und es andere Möglichkeiten gäbe – Stichwort: ehrenamtliche Mitarbeiter:innen und Ähnliches – kam daher, dass wir das Thema Behinderung genau aus diesem Fürsorge-Mildätigkeit-Spenden-Bezug herausholen wollten. Damit sagen wir explizit: Diese Menschen sind Kund:innen wie alle anderen und so wollen die Menschen auch wahrgenommen werden.

Bild Sensibilisierung
Sensibilisierung (c) INIS – Fabian Paal

Christina Riedler: Es ist so ein Irrglaube von den Veranstalter:innen zu denken, dass es “eh nur” diese eine Stammgastperson im Rollstuhl gibt, die ich ja kenne und die sonst nichts weiter braucht. Irrtum! Es gibt eine riesige Gruppe, immerhin muss man davon ausgehen, dass 20 % der Menschen auf einer Veranstaltung eine Behinderung haben! Und da ist es besser, du tust was, als in dem Irrtum zu bleiben, diese Personen kämen von ganz alleine. Natürlich nicht!

Martina Gollner: Wo wird denn eine Freund:innen-Gruppe hingehen? Sie wird dort hingehen, wo sich die Person mit  Behinderung wohlfühlt und es genügend Strukturen gibt. 

Christina Riedler: Das heißt, dir fehlt als Veranstalter:in nicht nur eine Person, sondern einige Personen, die ja auch trinken, essen und den Merch einkaufen. Das ist ein wirtschaftlicher Faktor, der aber bei uns in Österreich nicht gesehen wird. Derzeit basiert das Thema Barrierefreiheit größtenteils auf dem Charity-Modell: Da geben wir da und dort halt mal ein Gratisticket aus und dann sind die alle ruhig und dankbar. Da haben wir auch schon unmögliche Dinge erlebt: Als zwei Frauen, die sich mit sozialen Themen im Veranstaltungsbereich auseinandersetzen, werden wir oft von großen Veranstaltern als “Liab, die zwei Mädls” wahrgenommen. Einmal hat uns ein Veranstalter ernsthaft gesagt: “Ihr dürft eh gern zu meinem Festival kommen, aber ihr müsst euch die Tickets selber kaufen und ihr dürft  euch neben die Bibelverkäufer stellen.” Da haben wir dankend abgelehnt.  Daran sieht man aber auch, was für einen Stellenwert Inklusion in manchen Köpfen hat. Und das ist leider noch nicht da, wo das Bewusstsein sein sollte.

Inzwischen habt ihr aber doch schon ein ziemliches Standing. Was sind eure größten Erfolge?

Christina Riedler: Ich glaube das größte Festival, war natürlich das Donauinselfest. Aber wir haben auch mit Eletric Love gute Verbindungen, die auch sehr engagiert sind. Aber wir sind auch oft bei Konferenzen und gehen manchmal auch in den Sportbereich. Der Anfang von dem ganzen Projekt war ja meine Dissertation und durch die waren wir z.B. zwei Jahre hintereinander in Wacken und haben dort Feldforschung betrieben. 2019 wurden wir dann von Rock in Rio eingeladen, um dort zu schauen, wie die Kolleg:innen in Rio de Janeiro vor Ort arbeiten.

Martina Gollner: Nämlich auch um herauszufinden: Was ist best practice? Was ist übertragbar auf Österreich?

„ALTER WIRD BEIM THEMA DISABILITY VIEL ZU WENIG MITGEDACHT. GENAUSO WILL NIEMAND DARÜBER NACHDENKEN, WAS JEMAND FÜR EINE ERKRANKUNG KRIEGEN, ODER FÜR EINEN UNFALL HABEN KÖNNTE”

Wer sind international die Vorreiter?

Christina Riedler: Das waren auf jeden Fall Großbritannien und überhaupt die englischsprachigen Länder.

Martina Gollner: Die haben auch auf wissenschaftlicher Ebene, die ganze Diversity- und Disability-Debatte initiiert. Dadurch haben sich viel früher Initiativen gegründet. Natürlich auch wieder alles auf Vereinsbasis, aber es ist schon viel länger her. Was aber gleich ist: Das politische Klima hat leider immer Einfluss darauf, wie viel Wert auf Inklusionsfragen gelegt wird.

Dabei unterscheidet Behinderung ja nicht zwischen links oder rechts.

Martina Gollner: Ja, das ist völlig unlogisch. Speziell in einer Gesellschaft, die sich rein von ihrem demografischen Wandel so entwickeln wird, dass wir alle unsere Alterserkrankungen und Einschränkungen selbst erleben werden. Das sind sehr viel mehr Menschen. Wenn ich grundsätzlich fit genug bin, eine Veranstaltung zu besuchen, wäre es ja schade, damit aufzuhören, nur weil ich ab irgendeinem Alter nicht mehr hingehen kann. Alter wird beim Thema Disability viel zu wenig mitgedacht. Genauso will niemand darüber nachdenken, was jemand für eine Erkrankung kriegen, oder für einen Unfall haben könnte. Es ist menschlich, das zu verdrängen. Gleichzeitig ist es ein Thema und eine Investition in die eigene Zukunft, weil wir ja nicht wissen, wie wir leben werden, wenn wir um einiges älter sind. Deswegen ist jede Maßnahme in Richtung Barrierefreiheit positiv für die Gesamtbevölkerung und praktisch für alle! In eine Straßenbahn steigen zu können, die keine Stufen hat, ist auch für Menschen mit schwerem Gepäck oder Kinderwagen praktisch.

Christina Riedler: Aus der wirtschaftlichen Veranstalter:innen-Perspektive ist es auch eine vertane Chance, wenn du dich nur an die Jungen wendest. Denken wir zum Beispiel an einen Fußballverein: Da gehst du rein, bist Fan, gehst dann aber in der nächsten Generation mit deinem Sohn und kannst aber irgendwann, wenn du Großvater bist, nicht mehr zu den Spielen mit, weil du die Stiegen nicht hinaufkommst. Das ist grad im ländlichen Bereich ein großes Problem. Dadurch geht eine Fangeneration verloren. Im Heavy Metal ist es auch oft so, dass man von den Eltern “angelernt” wird. Und wenn dann dort Strukturen da sind, dass man sich etwa hinsetzen kann, dann hast du gleich mehrere Generationen bei Konzerten. Metal ist überhaupt in meiner Forschung als Best-Practice-Beispiel hervorgetreten. Die einschlägigen Festivals und Konzerte sind sehr offen für Leute mit Behinderung. Die ganze Community ist da grundsätzlich offener, weil sie sich mit den Themen auch Musik-bezogen mehr beschäftigen. Wenn du Metal hörst, geht es da sehr oft um Schmerz und Verwundbarkeit. Das sind eher düstere Themen und die Menschen haben ein ganz anderes Verständnis. 

Was habt ihr da in verschiedenen Genre-Communitys für Unterschiede bemerkt?

Martina Gollner: Also vom persönlichen Erleben, kann ich sagen, dass ich es zum Beispiel hasse, wenn jemand stagedived. Ich muss auch in keinem Moshpit sein. Es ist aber wahnsinnig leicht, sich im Metal von diesen Aktionen abzugrenzen. Niemand muss da mitmachen. Das ist einfach respektvoll, auch wenn es wild wird. 

Christina Riedler: Wir haben im zweiten Jahr auf Wacken auch Interviews geführt und da war die Botschaft meistens, dass alle einfach akzeptiert werden, wie sie sind: Wir sind ja schließlich alle Metaller. Und die große Masse an Männern, die gleichzeitig auch wieder gefühlt ein sehr gutes Sozialverhalten hat, hat auch einfach praktische Vorteile. Bei Wacken ist ja meistens das Wetter schlecht, was in weiterer Folge bedeutet: Matsch, Matsch, Matsch. Da ist es einfach praktisch, dass so viele Männer da sind, die zur Verfügung stehen, wenn jemand wohin getragen werden muss. Wenn ein:e Rollstuhlfahrer:in nicht mehr weiterkommt, wird einfach angepackt.

Bild Wacken Open Air
Wacken Open Air 2016 (c) Christina Riedler

Sind euch da Unterschiede auch in den verschiedenen Crowds Unterschiede aufgefallen?

Martina Gollner: Es ist schwierig eine generelle Aussage darüber zu treffen, weil es ganz viel mit den Venues zusammenhängt.

Christina Riedler: Also mir fällt auf, dass einem die Offenheit schon eher beim Heavy Metal entgegen sprüht. Bei Pop finde ich das schwieriger.

Martina Gollner: Es spielt ja auch hinein , wie die Personen auf der Bühne wahrgenommen werden beziehungsweise, auf was für einem hohen Podest sie für die Fans stehen. Ist es für mich als Fan das höchste der Gefühle, da in der ersten Reihe zu stehen oder kann ich das jemandem anderen gönnen? Wenn das Publikum außerdem eher jung ist, dann wird der Neid größer und  die Ellenbogen werden ausgepackt. In Wacken habe ich mit Monokular auf die Bühne geschaut, um besser zu sehen und da kam oft von den Leuten selbst ein: “Uh, du siehst schlecht? Dann geh doch ein bisschen vor!” Als Fan würde ich dieses Verhalten nicht voraussetzen.

Christina Riedler: Wir wollen in unserer Arbeit mit FullAcess diese Sachen wissenschaftlich mehr zusammenfließen lassen, genreübergreifend.

Wie seid ihr Team-mäßig aufgestellt?

Marina Gollner: Wir haben punktuelle Mitarbeiter:innen, einfach weil es sich noch nicht auszahlt jemanden dauerhaft anzustellen.

Christina Riedler: Aber wir arbeiten dran!

Habt ihr, was die Mentalität betrifft, in den letzten sieben Jahren gesamtgesellschaftlich Veränderungen bemerkt?

Christina Riedler: Ich glaube schon, dass angefangen mit der ganzen Green-Awareness, was Strom und Müll betrifft, auch soziale Nachhaltigkeit mehr in den Fokus kommt. Auch die SDGs, die Sustainable Development Goals, werden mehr berücksichtigt, indem, was man als Unternehmen wie machen kann. 

Martina Gollner: Man braucht momentan noch den Aufhänger , wo man sich mit dem Thema Behinderung dranhängen kann.

Christina Riedler: Ich war etwa schon als externe Expertin beim Fachausschuss zur Überarbeitung des Umweltzeichens eingeladen. Da geht es zwar vorrangig um den Nachhaltigkeits-Aspekt, aber mittlerweile durch uns auch noch mehr um soziale Nachhaltigkeit. Also: Es wird langsam mehr!

Martina Gollner: Obwohl es gleichzeitig politisch stagniert. Es gibt einfach politisch andere Themen und es passieren weltpolitisch andere Sachen, die mehr Aufmerksamkeit verlangen. Das hat immer so Phasen, aber wir bleiben dran!

Danke für das Interview!

Martina Gollner & Christina Riedler: Danke dir!

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