„DIESE EMOTIONALE QUALITÄT DES REFLEKTIERENS UND DER INTEGRATION VON WIDERSPRÜCHLICHEN EMOTIONEN …“ – OLIVIA DE PRATO UND VICTOR LOWRIE TAFOYA (MIVOS QUARTET) IM MICA-INTERVIEW

Die Violinistin OLIVIA DE PRATO und der Bratschist VICTOR LOWRIE TAFOYA haben vor über fünfzehn Jahren in New York City das MIVOS QUARTET gegründet. Mittlerweile haben die beiden auch eine familiäre Basis in Wien. Mit Michael Franz Woels sprachen sie über das Pendeln zwischen unterschiedlichen Heimaten, über die Elternschaft von Musizierenden und über die griechische Insel Mivos – die man auf keiner Landkarte findet.

Im Video mit dem Titel „Panorama“ gehst du mit deinem Instrument am Rücken durch New York City und bekommst in einem Geschäft Postkarten. Was bedeutet der Begriff „Panorama“ für dich?

Olivia De Prato: „Panorama“ heißt mein aktuelles Soloalbum, das letztes Jahr im April erschienen ist. Alle Stücke [Anm. Kompositionen von Samantha Fernando, Missy Mazzoli, Jen Shyu, Miya Masaoka und Angélica Negrón] interpretieren diese Vorstellung von einer quasi mobilen Identität, also das Leben an verschiedenen Orten. Die Themen basieren auf Menschen, die nach New York City kommen. Sie kommen hierher aus der ganzen Welt. Identität oder Heimat was bedeutet das für mich? Ein „neues Zuhause“ wie New York? Denn meine „alten Heimaten“ waren Österreich und Italien, aber dann lebte ich lange in New York City.

Das Stück „Panorama“ wurde von der Komponistin Angélica Negron geschrieben. Sie stammt ursprünglich aus Puerto Rico, lebt aber schon lange in New York. Auf dem Album „Panorama“ wird diese duale Identität verarbeitet, die man entwickelt, und die tatsächlich viele Menschen haben, wenn sie an verschiedenen Orte gelebt haben.

Das Video, das ich mit dem Videokünstler Paul L. Moon gemacht habe, porträtiert mich, während ich durch New York City ziehe und schlussendlich in Little Italy lande. In einer Szene denke ich an meine italienischen Wurzeln, die auch eng mit New York City verbunden sind. Es ist der Moment, in dem ich mit jemandem im Laden spreche, der mir eine Postkarte gibt, die Little Italy am Beginn des 20. Jahrhundert zeigt.

Die Geschichte von Little Italy und die Geschichte der Einwanderer, die aus Italien kamen und ein neues Leben in New York City aufgebaut haben – das war also die Idee von „Panorama“ und dualen Identitäten.

Das Musikvideo beginnt an einem Bahnhof und endet an einem anderen Bahnhof. Wie war die Erfahrung, ein Musikvideo zu drehen?

Olivia De Prato: Es war lustig, ein Musikvideo zu machen. In der Popmusik und darüber hinaus sind Musikvideos ja allgegenwärtig und sehr beliebt und es gibt schon eine lange Geschichte dieses Formats. Aber für klassische Musik ist es nicht sonderlich üblich. Ich dachte, es wäre schön, etwas Visuelles zu haben, denn auch die Musik auf „Panorama“ könnte in gewisser Weise Filmmusik sein – visuell für Körper und Seele.

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Victor, welche Assoziationen hast du zu den Begriffen Postkarten und Panoramen?

Victor Lowrie Tafoya: Ich war beim Album „Panorama“ nur am Text für das Booklet beteiligt, also an der texlichen Einführung in das Album als Ganzes – und ich dachte, es ist ein sehr schönes Wort. Für mich beschwört es die Idee herauf, einen weiten Blick auf eine Landschaft oder einfach nur einen weiten Blick im Allgemeinen – ein wenig entfernt durch eine gewisse Distanz – auf die Situation einzunehmen, in der man sich gerade befindet. Diese emotionale Qualität des Reflektierens und der Integration von widersprüchlichen Emotionen, die man in sich aufnimmt.

Ich denke, die Begriffe sind für die meisten Menschen irgendwo kathartisch und mit Bedeutung beladen. Durch die Künste, insbesondere durch die Musik ist es möglich, Erfahrungen nachzuempfinden. Und obwohl es bei Instrumentalmusik keine Worte gibt, hat sie auch eine erzählerische Qualität: Alle, die ein Album hören, haben ihr eigene Reise im Kopf und im Herzen, wie auch immer sie ist. Kommt aber die Sprache ins Spiel, ist die Erfahrung eher geführt und geleitet. Das also ist es, woran mich das Wort „Panorama“ denken lässt.

Olivia, in deinem letzten mica-Interview mit Sylvia Wendrock hast du uns ein Projekt zur Vereinbarkeit von Kunst und Mutterschaft mit dem Titel „Matricalis“ vorgestellt.  

Olivia De Prato: Das ist ein Thema, über das ich seit der Geburt unseres Sohnes im Jahr 2016 viel nachgedacht habe – insbesondere beim Jonglieren zwischen den Rollen als Mutter und auch als Künstlerin, Musikerin, Komponistin. Es ist etwas, über das nicht viel gesprochen wird. Und viele Leute versuchen normalerweise, die Tatsache zu verbergen, dass sie Kinder haben. Auch Residencies oder Festivals sollten sich bewusst sein, dass Künstler:innen manchmal mit ihrem Baby kommen müssen und nach einem Platz suchen, um es unterzubringen, oder einen Babysitter finden müssen. Diese Tatsache einfach zu ignorieren, ist unmöglich.

Im letzten Sommer hatten wir eine tolle Erfahrung bei den Ostrava New Music Days in Tschechien, wo für alle auftretenden Musiker:innen vor Ort Kinderbetreuung organisiert wurde. Sie hatten zwei Babysitter und sie holten die Kinder ab, wann immer es notwendig war. Das war eine große Unterstützung! Zehn Tage sind eine ziemlich lange Zeit und wir hatten oft Proben von 9:00 bis 13:00 Uhr und dann wieder von 14:00 bis 18:00 Uhr – und so brauchten wir einfach Hilfe. Das war wirklich ein tolles Feature und es war schön, dass sie sich darüber bewusst waren, welche Hilfestellung das wirklich bietet. Ich würde mir wünschen, dass mehr Festivals und Veranstaltungsorte etwas für Musiker:innen mit Kindern anbieten.

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Das „Matricalis“-Projekt ist also eine Plattform, um eine Diskussion, um Gespräche über dieses Thema anzuregen. Denn ich möchte versuchen, die Dinge für zukünftige Generationen zu verbessern. Wer sich eine Karriere aufgebaut hat, sollte sich nicht zwischen Kind und Karriere entscheiden müssen, sie können beides haben! Es ist schwer, aber es ist möglich – mit Unterstützung und mit einer Community, die sich den Umständen bewusst ist. Für das Album „I, A.M. – Artis Mother Project“ habe ich sechs Komponistinnen beauftragt [Anm.: mit Jen Baker, Zosha di Castri, Natacha Diels, Ha-Yang Kim, Pamelia Stickney und Katherine Young].Eine von ihnen, Pamelia Stickney, lebt in Wien. Wir trafen uns in Wien und sie schrieb ein Stück für Violine und Theremin. All diese Aufträge fanden kollaborativ statt, wir tauschten uns mit Sounds und Field Recordings aus.

„WER SICH EINE KARRIERE AUFGEBAUT HAT, SOLLTE SICH NICHT ZWISCHEN KIND UND KARRIERE ENTSCHEIDEN MÜSSEN.“

Victor, reden wir über Vaterschaft. Was ist deine Perspektive, dein Standpunkt zum Thema Erziehung und Rollenteilung?

Victor Lowrie Tafoya: Ich bewundere das Matricalis-Format. Ich meine, es wäre toll, ein ähnliches Format auch von und über Väter zu haben, aber ich glaube auch nicht, dass „Matricalis“ Väter ausschließt, sondern es hebt exemplarisch die Perspektive von Müttern hervor. Ich denke, das Album selbst ist ein wirklich kraftvolles Statement, gerade auch auf Grund der musikalischen Vielfalt, die darauf zu finden ist. Die einzelnen Komponistinnen behandeln das Thema völlig unterschiedlich und einzigartig.

Zwar sind die Kinderbetreuungs-Strukturen in Wien viel weiter ausgebaut als anderswo, aber wir stoßen immer noch auf Probleme beim Versuch, Proben und Meetings unter Dach und Fach zu bekommen – mitunter eine echte Herausforderung! Moderne Erziehung: Ich meine, es hängt von der Situation aller ab. Wir beide kümmern sich um unseren Sohn. Es gibt keine Hierarchie – es sei denn, er fordert gerade spezifisch einen von uns. [Olivia lacht] Das liegt an ihm. Aber im Allgemeinen teilen wir uns die Verantwortung, und somit gibt es keine Erwartung, dass die eine oder andere Person mehr von irgendetwas tut. Das ist auch gut für uns, um als Familie diese Flexibilität zu haben. Aber natürlich stoßen wir immer noch gelegentlich auf Probleme wegen der Arbeitswelt.

Olivia, du hast erwähnt, dass auch eure Eltern eine große Hilfe sind.

Olivia De Prato: Sie sind essentiell. Es braucht die Unterstützung, sei es von Freunden, Onkeln, Tanten oder Großeltern.

Victor Lowrie Tafoya: Unsere ganze Familie hat uns enorm geholfen. Ohne sie hätten wir unser Leben wesentlich verändern müssen, was jetzt an und für sich auch nicht unbedingt schlecht sein muss. Aber ich denke, die Leute erkennen zunehmend, dass es wichtig ist, dass sie eine Gemeinschaft brauchen und dass es besser für sie und besser für Kinder ist, irgendeine Art von Familie zu haben, entweder ihre Familie oder eine Community oder eine Art „Chosen Family“ um sie herum, um dabei zu helfen, den Kindern und sich selbst ein Zuhause zu schaffen.

Und ist euer Sohn auch schon musikalisch aktiv?

Olivia De Prato: Er wird am prima la musica-Wettbewerb teilnehmen.

Super! Lasst uns nun über das Mivos Quartett sprechen, das ihr ja begründet habt. Was hat sich über die Jahre verändert?

Olivia De Prato: Ich könnte vielleicht damit beginnen, wie wir angefangen haben. Victor und ich waren beide Gründungsmitglieder. Die anderen ursprünglichen Mitglieder waren alle Teil eines zeitgenössischen Performance-Masterprogramms an der Manhattan School of Music – und wir waren die Streicher. Das war ein kleiner, neuer Studiengang, und wir waren insgesamt vielleicht 12 oder 13 Studierende.

Wir haben viel Neue Musik gespielt und dann hatten wir die verrückte Idee, danach ein Quartett zu starten, das war 2008. Wir haben uns gesagt: „Wow, jetzt spielen wir schon seit zwei Jahren zusammen, vielleicht sollten wir einfach gemeinsam weiterspielen!“ Dann haben wir uns auf die Suche nach einem Namen begeben und uns für Mivos entschieden, der sich eigentlich aus den Namen der ursprünglichen Mitglieder zusammensetzt.

Der Name klingt auch irgendwie griechisch …

Victor Lowrie Tafoya: Wie eine Insel in der Ägäis, oder? [lacht]

Olivia De Prato: Das Quartett existiert seit 2008. Am Anfang hatten wir nicht so viele Gigs, aber wir haben es weiter durchgezogen, das Repertoire ist stetig gewachsen und wir sind viel herumgekommen. Und ziemlich bald hatten wir doch einige ziemlich große Touren, auch nach Asien und Südamerika. Dann hatten wir für einige Jahre Agenten, wir waren ein paar Jahre bei Karsten Witt unter Vertrag und wir hatten einen Agenten in den USA. Aber schlussendlich fanden wir, dass eine Agentur für uns nicht unbedingt ideal ist.

Olivia De Prato (c) Blaise Hayward
Olivia De Prato (c) Blaise Hayward

„WIR SPIELEN EIGENTLICH FAST ÜBERHAUPT KEIN TRADITIONELLES REPERTOIRE UND KONZENTRIEREN UNS WIRKLICH AUF DIE MUSIK DER MAXIMAL LETZEN 100 JAHRE, IM REGELFALL ABER DER LETZTEN 10 BIS 20 JAHRE.“

Wir haben festgestellt, dass es auch für eine Agentur oft nicht wirklich funktioniert. Wir fanden es einfacher und besser, nur eine Person zu haben, die wie ein Booker agiert. Wenn du bereits einen Gig ergattert hast, ist die Agentur gut darin, den geschäftlichen Aspekt mit Gagen, Verträgen etc. abzuwickeln. Aber sie haben auch ein ganzes Arsenal an Künstler:innen unter Vertrag und so gerät das Anbahnen von Gigs vielleicht etwas in den Hintergrund. Wir machen mit dem Mivos Quartet viele verschiedene Dinge. Wir sind nicht wie jedes andere Streichquartett, das auf Abruf Haydn, Mozart oder Bartók spielt – wir spielen eigentlich fast überhaupt kein traditionelles Repertoire, sondern konzentrieren uns auf die Musik der maximal letzten 100 Jahre, im Regelfall aber der letzten zehn bis zwanzig Jahre.

Wir spielen eine Menge neuer, beauftragter Werke, mit denen Agenturen auch oft einfach keine Erfahrung haben, wie sie das überhaupt verkaufen sollen. Obwohl es einen Markt dafür gibt, läuft das viel mehr über persönliche Kontakte. Es gibt viele Festivals, die nach neuen Auftragswerken fragen. Deshalb haben wir uns entschieden, unsere Agentur zu verlassen, weil sich durch unsere persönlichen Kontakte tatsächlich mehr Möglichkeiten entwickelt haben. Und weil wir auch viele Kooperationen mit Jazz-Künstler:innen, Improvisator:innen machen, versuchen wir mit Künstler:innen aller Art von Hintergründen zusammenzuarbeiten. Wir mögen es generell nicht, uns zu klassifizieren. So haben wir im Laufe der Jahre viele Kollaborationen gemacht und auch einige Improvisations-Projekte. Wir haben zum Beispiel auch mit Ambrose Akinmusire oder Cécile McLorin Salvant, Nate Wooley, Saul Williams, Menschen aus verschiedenen musikalischen Welten zusammengearbeitet.

Victor Lowrie Tafoya: Auch mit Ned Rothenberg [Anm: Quintet For Clarinet & Strings] haben wir zusammengearbeitet …

Olivia De Prato: … und Mary Halvorson. Die deutsche Jazz-Musikerin Ingrid Laubrock hat gerade ein neues Stück für uns geschrieben. Wir möchten unser Repertoire auf diese Weise erweitern. Und wir machen auch viele Residencies und arbeiten an Outreach-Projekten mit jungen Komponist:innen. Wir waren im Februar zwei Wochen in den USA an der Boston University, an der Berklee School of Music und an der Bringham Young University in Utah. Dort machen wir studentische Kompositons-Vorlesungen, Meisterkurse für Kammermusik und Gesang. Wir arbeiten sehr gerne mit jungen Menschen zusammen und versuchen uns auszutauschen. Manchmal halten wir Vorträge, geben Notations-Workshops und unterrichten Streichquartett-Repertoire.

Wien ist eure Basis, so scheint es, aber ihr seid immer viel unterwegs …

Victor Lowrie Tafoya: Ja. Olivia und ich leben hier. Ich denke, das Mivos Quartet hat seine Heimat in New York City. Es wurde dort gegründet und New York City ist immer noch eine wichtige Drehscheibe für das Quartett – sowohl technisch als auch künstlerisch, alles hat dort angefangen. Und ich meine, es ist noch immer eines der kulturellen Zentren der Welt. Es ist ein wichtiger Ort, um zu performen. Wir sind jetzt zwar mehr in Europa mit den Mitgliedern des Ensembles unterwegs, aber wir haben ein dauerhaftes Zuhause in New York und ich denke, so wird es auch bleiben. Europäische Festivals und verschiedene europäische Szenen kennenzulernen – vor allem in Osteuropa mit einem wirklich einzigartigen experimentellen musikalischen Angebot –, ist sehr interessant.

Olivia De Prato: Ein gutes Beispiel dafür war das Festivals Skaņu Mežs. Es war sehr inspirierend und lustig. Es gab experimentelle Musik jeder möglichen Art: Noise, Elektronik, experimenteller Hardcore-Metal und so weiter. Auch erstaunliche Jazz-Performer:innen. Es war ein solches Ereignis, der erstaunliche, experimentelle Jazz zum Beispiel von Joe Morris, William Parker und Hamid Drake.

Victor Lowrie Tafoya: Ja, absolute Legenden … Und wir trafen auf verschiedenste Leute, ein paar Freunde waren zufällig auch dort. Dieser Austausch von Ästhetik ist wirklich belebend und inspirierend für künftige Kollaborationen.

Stichwort Kollaboration: Das Mivos Quartet arbeitet schon lange mit Steve Reich zusammen.  

Olivia De Prato: Ja. Ich habe ihn erstmals 2005 beim Bang on a Can Summer Music Festival getroffen und spielte dort eines meiner Lieblingsstücke namens „Eight Lines“, das eigentlich nicht sehr oft gespielt wird – und ich hatte immer eine sehr gute Erfahrung in der Arbeit mit ihm.
Ich spielte im Ensemble Signal, das von Brad Lubman und Lauren Radnofsky gegründet wurde, die enge Freunde von Steve Reich waren. Sie haben fast alle seine Ensemblestücke gespielt, definitiv alle seine Streicherwerke. Wir haben dann „Music for 18 Musicians“ aufgenommen und eine Aufnahme auf harmonia mundi von „Daniel Variations“ und „Double Sextet“ veröffentlicht.

Und so haben wir im Laufe der letzten zehn Jahren sehr eng mit Steve an verschiedenen Projekten zusammengearbeitet. Mit dem Mivos Quartet spielten wir seine Quartette ein paar Mal in New York. Er war wirklich aufgeregt, uns zu hören, und sagte: „Ihr solltet meine Quartette aufnehmen!“Ich dachte zuerst, das ist eine verrückte Idee. Warum sollten wir das tun? Es gibt bereits Aufnahmen. Aber wenn er das vorschlägt, dann sollten wir das vielleicht wirklich machen. Die Idee kam also zunächst von ihm. Und dann sprangen wir ins kalte Wasser, auch weil die Finanzierung noch nicht gesichert war. Aber wir hatten die Gelegenheit, in diesem erstaunlichen Raum namens EMPAC, dem Experimental Media Performing Arts Center in Troy, New York, aufzunehmen. Sie haben uns drei Wochen Studiozeit gesponsert, um seine Quartette aufzunehmen. Also starteten wir das erste Aufnahmeprojekt vor der Pandemie, und dann wurde durch die Pandemie leider alles verzögert, und es war ein langer Mastering-Prozess. Aber wir hatten einen großartigen Produzenten, Mike Tierney aus New York, und schlussendlich haben wir das Album beendet, hatten aber noch kein Label und wussten nicht, was wir damit anfangen würden, bis unser Buchungsagent Sruly Lazaros schließlich einen Kontakt zur Deutschen Grammophon herstellen konnte.

Victor Lowrie Tafoya: Ja. Insgesamt hat dieses Album-Projekt sechseinhalb Jahre gedauert. Es war wirklich lohnend, mit ihm zu arbeiten. Es war klar, dass wir es tun mussten, und die Unterstützung von Steve für die Idee war einfach enorm. Heutzutage wird er als Komponist sehr gefeiert, das war aber nicht immer so. Er vermittelt einfach eine große Wertschätzung für Musiker:innen, die seine Musik ernst nehmen und auch eine gewisse Großzügigkeit – und das macht es toll, mit ihm zu arbeiten.

Olivia De Prato: Ich habe den Eindruck, dass seine Musik in Österreich und in Deutschland nicht so häufig gespielt wird wie zum Beispiel in Holland, Großbritannien oder Frankreich, und ich frage mich manchmal, wieso? Musik von amerikanischen Komponist:innen scheint hier nicht so präsent zu sein, obwohl es viele erstaunliche und wunderbare, hier eher noch unbekannte Komponist:innen wie Alex Mincek, Eric Wubbels, Zosha Di Castri oder Kate Soper gibt.

Victor Lowrie Tafoya: Liegt das vielleicht nur an der Geografie? Das ist auch in Ordnung, ich schätze jedenfalls die internationalen Unterschiede von Meinungen, Geschmack und Ästhetik.

Olivia De Prato: Aber es wäre schön, noch ein bisschen mehr Austausch zu haben. Wir versuchen in unseren Programmen, etwas mehr amerikanische und internationale Musik einzubringen. Oft schließen wir zum Beispiel ein Stück des Amerikaners Henry Threadgill mit ein, oder auch etwas von Chikako Morishita, einer Japanerin oder des israelisch-französichen Komponisten Sivan Elda.
Letzten November haben wir im Zuge von Wien Modern ein ziemlich gemischtes Programm in der Alten Schmiede gespielt, darunter auch George Lewis. Er kam nach Wien, weil er vor unserem Konzert einen Vortrag über seine Musik und sein neues Buch „Composing while Black“ hatte, das er zusammen mit Harald Kisiedu geschrieben hat. Wir hatten ein Stück beim südafrikanischen Komponisten Andile Khumalo in Auftrag gegeben, der auch in diesem Buch erwähnt wurde, sowie von Chikako Morishita, die wir für dieses neue Stück beauftragt haben, und Clara Iannotta, die in Wien unterrichtet, im Programm.Dann noch ein Stück von Raven Chacon, der auch Amerikaner ist. Und so war es insgesamt ein ziemlich vielfältiges Mix-Repertoire, und ich habe den Eindruck, die Leute mögen diese große Vielfalt an Stücken und Ästhetiken.

Was ist euer Verhältnis zum Begriff „Freiheit“ – vielleicht im musikalischen Sinne, aber auch im weiteren Verständnis?

Victor Lowrie Tafoya: Freiheit ist schon in Bezug auf den Begriff selbst sehr frei auslegbar, oder? Gerade auch in der Musik ist eine Annäherung ein bisschen schwierig, weil es eine Spannung zur musikalischen Tradition gibt. Jeder kommt aus einer musikalischen Tradition, wir alle, insgesamt im Quartett und auch als individuelle Künstler:innen sowie innerhalb des künstlerischen Schaffens oder des einzelnen Werks und des Publikums. Aber wo auch immer jemand geboren wurde und sich entwickelt, wurde eine musikalische Tradition vermittelt. Niemand kommt aus dem Nichts. Jeder hat Einflüsse: die Technik, die Lehrer:innen, was immer auch in Kindheit und Jugend im Radio gespielt wurde, alles was jemand gemacht und erlebt hat und die Tradition, in der man musikalisch aufgewachsen ist. Und das ist schön und großartig, es ist wunderbar, dass Traditionen auf der ganzen Welt schöne Musik haben, die alle genossen und gefeiert werden können.

Und dann gibt es zeitgenössische Musik und neue Musik, die versucht, etwas Einzigartiges und Neues zu tun und die Individualität eines Komponisten oder eines Kollektivs oder Musikers auszudrücken, oder wieder, eine Improvisation, die eine einzigartige Stimme findet, die nur sie ist und die identifiziert werden kann und wirklich wie ihre eigene Stimme, aber in musikalischer Form ist.

„DENN IM HIER UND JETZT IM JAHR 2024 KANN ICH MIR NICHT VORSTELLEN, WELCHE ART VON MUSIK GEMACHT WERDEN KÖNNTE, DIE NIRGENDWO IRGENDEINE ART VON VORGESCHICHTE HÄTTE.“

Diese Dinge betrachten die Leute in der Musik oft als Gegenkräfte, aber ich denke, sie sind es nicht. Sie greifen einfach ineinander und es kann schwierig sein, beide Ideen anzunehmen. Ich glaube, Komponist:innen und Interpret:innen tut es gut, wenn sie diese beiden Ebenen schätzen und gleichzeitig versuchen, Musik oder Kunst zu machen, die integer ist, individuell oder einzigartig ausdrucksvoll, die aber nicht nur irgendeine beliebige Beziehung hat – oder behauptet, gar keine Beziehung zur Tradition zu haben.

Denn im Hier und Jetzt im Jahr 2024 kann ich mir nicht vorstellen, welche Art von Musik gemacht werden könnte, die nirgendwo irgendeine Art von Vorgeschichte hätte. Selbst wenn jemand nichts über die eigenen Einflüsse weiß, könnte es etwa frühere Experimente mit Musik geben, die voll von Viertelton und den mikrotonalen Stimmungen war, die vor etwa 3000 Jahren aus Asien kamen und das kann wiederentdeckt werden und so weiter. So fühle ich das. Ja, Freiheit als Idee, diese Aspekte zusammen zu denken. Die Freiheit, eigene Traditionen zu erforschen, Freiheit, andere Traditionen zu erkunden, Freiheit, nur unsere Entscheidungen zu treffen und zu sagen, dass es all diese verschiedenen Möglichkeiten gibt, wie wir die Idee annehmen können, die Freiheit Traditionen auszudrücken, Möglichkeiten zu suchen und zu finden, sich selbst auszudrücken, etwas Neues auszudrücken, die Dinge wieder zusammenzubringen in all diesen Konfigurationen und darüber hinaus.

Olivia De Prato: Ich sehe das ebenso und würde noch die Freiheit hinzufügen, mit jedem Menschen, mit dem man möchte, Ideen austauschen zu können, also die Möglichkeit zuhaben, sich durch nichts gespalten zu fühlen und ohne Grenzen zusammenarbeiten zu können.

Victor Lowrie Tafoya: Ja ich möchte auch nicht allzu politisch werden, aber die Bewegungsfreiheit von Künstler:innen sollte jedenfalls möglich sein. Wenn Menschen Schwierigkeiten haben zu reisen und Ideen auszutauschen und sich mit Zensur herumschlagen müssen, ist das für die Menschheit insgesamt sinnbefreit.

Olivia De Prato: Gleiches gilt für das Schließen von Grenzen!

Victor Lowrie Tafoya: Von einem künstlerischen Standpunkt aus sieht man die Vielfalt der Welt und wie sehr Grenzen Menschen trennen, das macht aus dieser Perspektive heraus einfach keinen Sinn, und es ist eine Schande, wann das passieren muss oder wenn es passiert.

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Wenn ich Neue Musik mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich das Wort Spannung wählen. Könnt ihr mit dieser Assoziation etwas anfangen?

Victor Lowrie Tafoya: Ich würde sagen, die Spannung ist definitiv ein Teil davon, vielleicht bin ich auch voreingenommen, weil ich mitten drin bin, aber ich würde sagen, wenn ich etwas in der Musik höre, wenn ich eine positive Erfahrung habe, eine Spannung wahrnehme, ohne sie zu verstehen, zieht das meine Aufmerksamkeit an. So wie vielleicht auch eine Überraschung, die ich nicht vorahnen konnte, ist das ein sehr aufregendes Gefühl. Im Grunde genommen gilt das über alle Kunstformen hinweg: Wenn ich etwas nicht verstehe, ist das aufregend, weil ich es verstehen will.

Olivia De Prato: Ja, vielleicht auch allgemein das Unvorhersehbare – wenn man beispielsweise eine vorgefertigte Vorstellung hat, wie klassische Musik klingen sollte, und man dann auf etwas das völlig anderes trifft. Für Musiker:innen ist das dann auch oft eine Entdeckungsreise auf dem eigenen Instrument. Man denkt, man spiele Violine; dann hört man es, und es gibt nichts, was wie eine Violine klingt, und man denkt sich: „das kenne ich gar nicht!“ Es ist sehr aufregend, diese neuen Klänge zu erforschen, denn es gibt so viele verschiedene Klangwelten, die erforscht und dargestellt werden können.

Victor Lowrie Tafoya: Ja, Spannung ist auch eigentlich gar nicht negativ behaftet, sondern in jeder künstlerischen Darbietung allgegenwärtig und immanent, wie ja auch im Englischen die Begriffe „Tension“ und „Attention“ [Anm.: Spannung bzw. Aufmerksamkeit] phonetisch und konnotativ nahe beieinander liegen.

Last but not least, welche Projekte habt ihr in nächster Zeit noch geplant?

Olivia De Prato: Ich möchte zuerst auch die anderen Mitglieder des Quartetts, Maya Bennardo, die in Stockholm lebt und die zweite Violine übernimmt, und unseren neuen Cellisten, Nathan Watts, der in Frankfurt lebt, erwähnen. Wir haben gemeinsam viele spannende Projekte geplant, wir fahren mit Cecile McLorin Salvant auf Tournee nach Hamburg, Belgien und Luxembourg. Dann sind wir in Seattle und New York City, wo wir im Miller Theater ein von uns beauftragtes Stück von Sarah Hennies zur Uraufführung bringen. Im Juni sind wir wieder bei den Wiener Festwochen zu Gast und im Juli beim Sounds of Now Vienna sowie beim VIPA-Festival in Valencia.

Victor Lowrie Tafoya: Ende des Jahres veröffentlichen wir dann unser neues Album das speziell für Mivos geschrieben wurde, mit Stücken von George Lewis, Ambrose Akinmusire, Jeffrey Mumford und Michaela Catranis. Da sind wir schon sehr aufgeregt!

Olivia De Prato: Apropos: Am 5. Mai spielen wir auch in New York City beim Long Play Festival,das ebenso von Bang-on-a-Can organisiert wird.

Herzlichen Dank für das Interview!

Michael Franz Woels

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Termine:

27.–29. März 2024
Seattle, WA | University of Washington Residency

4. April 2024
New York, NY | Miller Theater Sarah Hennies Portrait Concert

3.–5. Mai 2024
Brooklyn, NY | Long Play Festival Performances

17.–30. Juni 2024
Vienna Contemporary Composers Festival

10.–19. Juli 2024
Valencia, ES | VIPA Ensemble-in-Residence

15.–26. Juli 2024
Vienna, AT | Sounds of Now Festival Ensemble-in-Residence

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Links:
Mivos Quartet