Die österreichische Bigband-Szene erlebte in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Hausse. Trotzdem ihr das bekannteste Aushängeschild abhanden gekommen ist. Von Andreas Felber.
Ihre Glanzzeit liegt schon lange zurück: Im Swing-Zeitalter der 1930er Jahre galten Bigbands als hip, als Popbands ihrer Zeit, zu deren Musik die Menschen tanzten und sich zwischenmenschlichen Interessen hingaben. Oft und öfter wurde das Genre ab 1946, als Bigband-Musik in den USA mit einer 20%igen Vergnügungssteuer belegt wurde und in der Folge gleich acht renommierte Orchester – u. a. jene von Benny Goodman, Woody Herman und Harry James – aufgaben, tot gesagt. Allen Unkenrufen und ökonomischen Schwierigkeiten zum Trotz gab es die Bigbands weiterhin, gibt es sie bis heute. Und geben sich die Elefanten unter den Jazzbesetzungen vor allem seit den 1990er Jahren gar wieder vermehrungsfreudig: Ja, Bigband-Jazz hat wieder Konjunktur! Was auch mit dem aktuell zu beobachtenden Swing-Revival zusammenhängen dürfte, ausgelöst und mitgetragen nicht zuletzt durch zahlreiche um Image-Relaunch und Zielgruppenerweiterung bemühte Popstars: Robbie Williams’ Sinatra-Hommage „Swing When You’re Winning“ sei in Erinnerung gerufen, Roger Cicero stürmt mit seinen Bigband-Swing-grundierten Liedern die Pop-Charts, und selbst der belgische Crossover-Tenor Helmut Lotti hat mit „Time To Swing“ (2008) die neue Breitenwirksamkeit des Genres demonstriert.
Weg vom Glenn-Miller-Sound
Abseits dieser jazzorchestralen Nostalgie-Trips erlebte die Bigband auch in Österreich in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Renaissance. Obwohl der Szene ihr bekanntestes und dienstältestes Aushängeschild abhanden gekommen ist. Im Juli 2010 verfügte Mathias Rüegg nach 33 Jahren die Auflösung des „Vienna Art Orchestra“ (VAO), das kurz zuvor mit der Verwandlung in ein Kammerorchester mit Jazzsolisten noch ein neues, spannendes Kapitel in der Ensemble-Geschichte aufgeschlagen hatte. „Chronische Unterfinanzierung, ein massiver Nachfragerückgang aus den Kernländern Österreich, Schweiz und Deutschland sowie wirtschaftsbedingtes Einbrechen von Ländern wie Italien, Spanien oder Frankreich haben mich zu dieser Entscheidung veranlasst“, schrieb Mathias Rüegg in seiner auf der VAO-Homepage veröffentlichten Erklärung, die er „Game Over“ betitelte. Dem österreichischen Jazz ging damit das Szene-Rückgrat und eine wichtige Talente-Schmiede verloren, sind doch Musiker von Wolfgang Puschnig und Harry Sokal bis Thomas Gansch und Georg Breinschmid aus dem Orchester hervorgegangen.
Nichtsdestotrotz blüht und gedeiht der heimische Bigband-Jazz in den letzten Jahren, ob das nun darin liegt, dass „heute einfach so viele Musiker zur Verfügung [stehen] wie noch nie“, wie Mathias Rüegg als Begründung anführt, oder daran, „dass die Leute nach vielen Jahren elektronischer Musik nun wieder echte Menschen auf der Bühne sehen wollen“, wie der Wiener Bigband-Leader Christian Mühlbacher formuliert, der auch zur Swing-Welle gegenläufige Tendenzen sieht: „Außerdem haben es die Bigbands geschafft, in den Köpfen der Leute weg vom Glenn-Miller-Sound zu kommen.“
Genau daran arbeitet Mühlbacher seit Mitte der 1980er-Jahre im Rahmen der gemeinsam mit Pianist Christoph Cech geleiteten Bigband „Nouvelle Cuisine“, einer Formation, die sich im Laufe der Jahre von einem stilpluralistischen Postmoderne-Ensemble zu einem Orchester gewandelt hat, das in den sich durch avancierte Harmonik und kontrapunktische Stimmführung auszeichnenden Kompositionen der beiden Leader zu eigenständiger zeitgenössischer Signatur gefunden hat. Die bislang letzte CD „gDoon“ hat „Nouvelle Cuisine“ anno 2009 vorgelegt, wobei der Titel lautmalerisch zur verstehen ist: Die Musik wird – etwa in Mühlbachers „Faast“ – aus mitunter Elektronik-beeinflussten Grooves entwickelt, wirkt süffig und doch originell, gibt teilweise hochkonzentrierten Soli u. a. von Saxofonist Clemens Salesny Raum.
Christian Mühlbacher betreibt zudem seit dem Jahr 1997 das Orchester „Mühlbacher usw.“, das eine Dekade lang nur einmal per annum – und zwar jeweils am 5. April im Wiener Porgy & Bess – auftrat, ehe es 2007 „flügge“ wurde. Im Rahmen dieses rund 20-köpfigen Ensembles finden sich in die ebenfalls Groove-geerdeten, kraftvollen Bigband-Sätze immer wieder Fremdkompositionen von Ennio Morricone über Sun Ra bis Johann Sebastian Bach und James Brown eingeflochten. Im September 2012 trat das Ensemble im Linzer Brucknerhaus mit einer von Mühlbacher komponierten Paraphrase von Anton Bruckners 4. Symphonie auf.
Junge Wahl-Wiener Jazzorchester-Talente
Von den jüngeren Musikern der Wiener Szene sind u. a. die beiden ehemaligen „Vienna Art Orchestra“-Solisten Thomas Gansch und Robert Bachner mit eigenen Bigband-Projekten hervor getreten. Den eigenständigsten Ansatz in Sachen jazzorchestraler Komposition verfolgt indessen der aus Graz stammende Wahl-Wiener Posaunist und Komponist Daniel Riegler mit „Studio Dan“, zweifelsohne einer der spannendsten Band-Sprösslinge, die aus der JazzWerkstatt Wien hervorgegangen sind. Die 18-köpfige Bigband, die sich immer wieder in ein Kammerorchester bzw. ein Neue-Musik-Ensemble verwandelt, stellte sich im Rahmen der Doppel-CD „Creatures & Other Stuff“ (2009) als abenteuerliche Stilwilderer-Truppe vor, die keine Scheu hat, abstrakte Klangeinschübe und erdige Grooves nebeneinander zu stellen. Strawinsky trifft John Zorn und Frank Zappa (von dessen 1978er-Platte „Studio Tan“ sich der Ensemblename ableitet): Auf diese natürlich plakative Formel könnte man die virtuos inszenierten Stil-Metamorphosen bringen. Mit dem 2010 veröffentlichten Zweitling „Things“, der die Songs von Vokalistin Nika Zach zum Inhalt hat, zeigte „Studio Dan“ wiederum ein gänzlich anderes, attraktives Gesicht.
Unter den jungen Wiener Dompteuren der massigen Bigband-Kreaturen ragt außerdem Gerd Hermann Ortler heraus. Der aus Südtirol stammende Saxofonist, Komponist und Arrangeur (Jahrgang 1983), der u. a. an der Jazzabteilung der Grazer Kunstuniversität bei Ed Partyka sowie bei Bob Brookmeyer studiert hat, wird zu Recht als großes Talent gehandelt. Wie auf der 2011 veröffentlichten Debüt-CD „Hermannology“ seines 23-köpfigen „GHO Orchestra“ nachzuhören ist, liebt Ortler satte Bläsersätze, die er in farbenreicher Epik zu entwickeln versteht. Spaß bereitet ihm auch das eigenwillige Nacherzählen bekannter Geschichten: Sein gewitztes Bigband-Arrangement von Madonnas „Like A Virgin“ wurde mit dem „Student Music Award“ des Chicagoer Magazins „Down Beat“ ausgezeichnet. In der Saison 2011/12 fungierte das „GHO Orchestra“ als Stage Band im Wiener Porgy & Bess.
Eine Aufzählung der wichtigsten Jazz-Großklangkörper in der österreichischen Hauptstadt wäre nicht vollständig ohne Erwähnung des 2005 gegründeten „Vienna Improvisers Orchestra“ (VIO) von Saxofonist und Violinist Michael Fischer. Wie auf der 2012 erschienenen Doppel-CD „Vienna Improvisers Orchestra 2006-2010“ dokumentiert, strukturiert Fischer – im Kielwasser des „Conductions“-Konzepts von Butch Morris – mittels Handzeichen spontan den freien Improvisationsprozess – wobei er die dirigierten Kollektive gerne auch experimenteller Lyrik u. a. von Gerhard Rühm oder Gerhard Jaschke gegenüber stellt.
Die Bundesländer zeigen auf: Bigbands in Graz, Oberösterreich, Salzburg
Das VIO findet sein steirisches Pendant im März 2012 vom Verein Neue Musik Graz initiierten, von Vokalistin Annette Giesriegl und Gitarrist Seppo Gründler geleiteten „Styrian Improvisers Orchestra“, einem 20- bis 25-köpfigen Klangkörper. Die Zeichensprache der Dirigate orientiert sich an jener des – ebenfalls von Butch Morris beeinflussten – „London Improvisers Orchestra“, wobei die wechselnden DirigentInnen mitunter auch eigene Handzeichen entwickeln, um den freien Improvisationsprozess zu strukturieren.
Bekanntestes Jazzorchester aus Österreichs zweitgrößter Stadt ist indessen die „Jazz Big Band Graz“. 1998 von Sigi Feigl als Mainstream-orientierter Klangkörper gegründet, der u. a. mit den „New York Voices“, Jon Hendricks und Bob Mintzer zusammen arbeitete, konnte die Bigband seit 2003, als Heinrich von Kalnein und Horst-Michael Schaffer die Leitung übernahmen, ihr Profil auf originelle Weise schärfen und international auf sich aufmerksam machen. Nach dem Neustart mit dem von John Hollenbeck komponierten Programm „A Life Affair“ (2005, mit Vokalist Theo Bleckmann) stellte sich Schaffer im Rahmen von „Electric Poetry & Lo-Fi Cookies“ (2008) selbst als Komponist ein, der Theremin-Klänge mit Einflüssen digitaler Elektronik kurzschloss und Minimal-Music-Elemente wie auch Spoken-Word-Einlagen integrierte. 2012 folgte das bei ACT Music veröffentlichte Album „Urban Folktales“, u. a. mit Theo Bleckmann, Nguyên Lê und Gianluca Petrella als Gastsolisten.
Ähnlich der „Jazz Big Band Graz“, ohne freilich deren internationale Reputation und konzeptuelle Eigenständigkeit zu erreichen, amtieren in Oberösterreich und Salzburg das „Upper Austrian Jazz Orchestra“ (UAJO) bzw. die „Lungau Big Band“. Ersteres Ensemble, gegründet 1991 und geleitet von Saxofonist Christian Maurer, pendelt zwischen Programmen mit nahmhaften internationalen Solisten bzw. Gastarrangeuren, etwa Kenny Wheeler, Jack Walrath und Michael Gibbs (CD „101 Years Glenn Miller“, 2005), sowie solchen, in denen die Orchestermusiker selbst auch als Komponisten in Aktion treten: Dies war im Rahmen der auf CD veröffentlichten Programme „La Lampe Philosophique“ (1999), „Deference to Anton Bruckner“ (2003) und „Dessöwe Aundas oder Thomas Bernhard groovt“ (2004) auf gelungene Weise hörbar; die jüngeren Programme widmen sich der Musik Friedrich Guldas, dem Wienerlied (CD „Wein, Weib und Gesang“, 2008) und der Vertonung von Texten österreichischer Autoren von Semier Insayif bis Gerhard Ruiss (CD „Song-Song oder 7 Musen und 4 Laster“, 2009). Das im Herbst 2012 uraufgeführte Programm „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum oder Eine kleine Betrachtung für großes Orchester“ führt das UAJO, das in Maurer wie auch in Posaunist Robert Bachner über ausgezeichnete Solisten verfügt, mit dem Kabarettisten Gunkl zusammen.
Die bereits 1983 vom Trompeter Horst Hofer gegründete „Lungau Big Band“ (LBB) ist der jazzorchestrale „Platzhirsch“ der Salzburger Jazzszene: Im Gegensatz zur „Jazz Big Band Graz“ und zum UAJO orientiert sich die LBB stärker an der Jazztradition, was sich in den Anfangsjahren in Glenn-Miller- und Benny-Goodman-Programmen niederschlug, während später neben Count Basie und Duke Ellington auch Stücke von Thad Jones, Toshiko Akiyoshi und Peter Herbolzheimer, zudem immer öfter auch Eigenkompositionen Eingang in das Repertoire fanden. Als Gastmusiker fungierten dabei u. a. Ray Anderson, Randy Brecker, Bob Mintzer und James Morrison. Mit „The Monk‘s Progress“ (2005), komponiert von Saxofonist Robert Friedl und Pianist Burkhard Frauenlob, inspiriert vom sog. „Mönch von Salzburg“, einem spätmittelalterlichen Liederdichter und Komponisten, liegt mittlerweile auch ein ambitioniertes Programm mit Salzburg-Bezug auf CD vor.
Der Westen zieht nach: Was der CIA mit der Vorarlberger Jazzszene zu tun hat
Auch im Westen Österreich formierten sich in den letzten Jahren bedeutende Klangkörper: So versteht sich das 2001 gegründete, von Trompeter Martin Ohrwalder und dem ehemaligen „Vienna Art Orchestra“-Saxofonisten Florian Bramböck geleitete „Jazzorchester Tirol“ (JOT) als „ein Kristallisationspunkt des Jazz in, um und aus Tirol.“ 2003 entstand die erste CD des Ensembles, betitelt „Neue Lieder“, auf der ausschließlich Kompositionen der Bandmitglieder und von Tiroler Komponisten zu hören sind. 2007 folgte „Tagebuch einer Eintagsfliege“, mit der gleichnamigen, viersätzigen Komposition Martin Ohrwalders im Mittelpunkt. Seit 2011 reüssiert das „Jazzorchester Tirol“ mit einer Bigband-Fassung des legendären „Halben Doppelalbums“, mit dem der 2001 verstorbene Werner Pirchner anno 1973 auf provokant-satirische und sehr musikalische Weise das konservative Establishment seiner Tiroler Heimat auf die Schippe nahm.
Ähnlich organisiert ist das 2005 initiierte, von Trompeter Martin Eberle geleitete „Jazzorchester Vorarlberg“ (JOV), das ebenfalls vor allem MusikerInnen des Heimatbundeslands ein Forum bieten will. Das JOV kann auf die Debüt-CD „Introducing The Jazzorchester Vorarlberg“ (2010) verweisen, deren Kompositionen von Posaunist Phil Yaeger stammen. Im Rahmen der JazzTage Bludenz arbeiteten die jungen MusikerInnen außerdem bereits mit Peter Herbert, Lucas Niggli und – im Jahr 2012 – mit Uri Caine zusammen.
Mitverantwortlich für den bemerkenswerten Aufschwung, den der Jazz in Österreichs westlichstem Bundesland zuletzt generell genommen hat, ist Pianist Peter Madsen: Der lange Jahre in New York tätige Musiker, der 1987 Stan Getz auf Tournee begleitet und später mit Mario Pavone und Fred Wesley arbeitete, ist 2001 nach Vorarlberg übersiedelt. Hier unterrichtet der 57-Jährige am Jazzseminar Dornbirn und schart die talentiertesten Jungimprovisatoren der Region im „Collective of Improvising Artists“ (CIA) um sich: Mit diesem Orchester führte Madsen 2008 beim Feldkirch-Festival eine Sun-Ra-Suite auf, 2010 ging man im Rahmen der CD „Thousand Miles Journey“ auf musikalische Weltreise, mit Stationen u. a. in China, Iran und New York.
Angesichts dieser Vielfalt an bemerkenswerten Orchestern sieht sich das eingangs beschriebene Szenario eindrucksvoll bestätigt: Sie haben wieder Saison, die Großformationen der improvisierten Musik, die Elefanten unter den Jazzbesetzungen. Österreich scheint trotz der Lücke, die das „Vienna Art Orchestra“ hinterlassen hat, weiterhin ein guter Boden für sie zu sein.
Fotos:
VAO by Patrick Sowa
Nouvelle Cuisine by M. Lackinger
Studio Dan by Ditz Fejer
JBBG by Erich Reismann
UAJO by Wolfgang Grossebner
JOV by Jazzorchester Vorarlberg