Wenn am 30. April 2021 die neue JA, PANIK-Platte erscheint, macht der existentialistische Snobismus, getarnt in schwarzen Rollkragenpullis und Wiener Akzent, wieder Musik für Mittdreißiger, die ihren gesammelten spex-Jahrgang von 2001 für die Nachwelt laminieren. Da freuen sich auch melancholische Philo-Studis, die ihre politische Erweckung in der Hamburger Schule des letzten Jahrhunderts suchen. Ohne Ironie. Im Ernst. Mit Rilke unterm Arm. In der Sag-niemals-Pop-ohne-Diskurs-Blase herrscht jedenfalls Aufregung, wenn JA, PANIK eine neue Platte veröffentlichen. Die übriggebliebenen Berufsjugendlichen aus der Gang für Silberrücken-Schreiberlinge ehemaliger Sprachrohre der sogenannte Popkultur dürfen inzwischen im Mainstream ran und sabbern ob der frohen Botschaft vor lauter Geilheit auf ihre FAZ. Was dürfen sie erwarten? Ein neues Manifest? Oder gar die Neuvertonung Bernhardscher Wutausbrüche als subtile Gegenwartsanalyse? Adorno, Nietzsche, Tralala – JA, PANIK geben keine Antworten, sondern stellen nur Fragen. Über den Ausbruch als Spielfeld, Gespenster im Kapitalismus und die Tatsache, dass man Dinge verlernen muss, um sie neu zu erlernen, hat ANDREAS SPECHTL mit Christoph Benkeser gesprochen.
Verzeih mir die Frage: Warum gibt es Ja, Panik eigentlich immer noch?
Andreas Spechtl: Wir sind nicht totzukriegen, meinst du?
Ich wünsch es euch ja nicht …
Andreas Spechtl: Du hast schon recht. Es hätte wohl niemanden gewundert, wenn wir nie mehr etwas gemacht hätten. Es verging aber auch eine lange Zeit, in der wir nie gesagt haben, dass es uns nicht mehr geben werde. Dass wir uns auf aufgelöst hätten, wäre nie klar gewesen.
Den Konjunktiv muss ich erst verdauen.
Andreas Spechtl: Von außen gesehen war es ab einem gewissen Zeitpunkt viel klarer, dass es mit Ja, Panik aus sein muss. Jedenfalls klarer, als es für uns jemals war! Wir hätten jederzeit gesagt, dass wir wieder eine Platte machen würden – wir wussten nur nicht wie, wann und wo.
Seit der letzten Platte ist viel passiert.
Andreas Spechtl: Die lange Pause war für das Weiterbestehen von Ja, Panik gut, alle haben ihren Platz in dieser komischen Welt gefunden. Damals hatten wir in kurzer Zeit so viel gemacht … das klassische Ding war: Platte produzieren, auf Tour gehen, kurz Pause machen und schon wieder an der nächsten Platte arbeiten. Künstlerisch und sozial hätten wir das nicht mehr lange ausgehalten. Vielleicht für ein oder zwei Platten, dann wär es aber wirklich aus gewesen.
Der Rhythmus hat sich da schon abgenutzt.
Andreas Spechtl: Absolut. Alle mussten raus aus dem Ganzen. Das Zurückkommen und Wiederfinden als Gruppe waren zwar mit Arbeit verbunden. Aber sie hat sich gelohnt. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass wir immer Platten machen können und Ja, Panik ewig weiterbestehen wird.
Ich dachte, nach „Futur II“ sei die Zukunft für euch – nicht nur im grammatikalischen Sinn – bereits abgeschlossen gewesen.
Andreas Spechtl: Wir mussten mit der alten Erzählung von Ja, Panik abschließen. Es war eine intensive Phase, die vorbeiging. Das Buch zuzumachen, fühlte sich richtig an. Jetzt sind wir in einer Aufbruchsstimmung, alles fängt wieder an – mit anderen Vorzeichen, obwohl die Leuten dieselben geblieben sind. Die Gruppe“ wird deshalb so etwas wie eine zweite erste Platte sein.
Das mit der zweiten ersten Platte hast du damals auch über „DMD KIU LIDT“ gesagt. Dann wäre das inzwischen die dritte erste Platte …
Andreas Spechtl: Hab ich das nicht über „Libertatia“ gesagt?
Ja, wahrscheinlich.
Andreas Spechtl: Ich mag die Platte immer noch, aber man hat gemerkt, dass wir – nachdem zwei Leute aus der Band ausgestiegen waren – so taten, als wäre alles wie früher. Die Abnützungserscheinungen wurden für mich erstmals deutlich, weil wir nicht mehr wussten, wer tatsächlich in dieser Band war. „Libertatia“ wurde deshalb zu einem trotzigen Beharren und der Bestätigung, dass es uns noch gibt. Trotzdem war das Album der Anfang vom Ende der alten Ja, Panik. Wir nahmen bei Thomas Levin in Hamburg auf, lagerten die Verantwortung zu einem Teil auf ihn aus. Mit „Die Gruppe“ habe ich das Gefühl, dass wir sie zu uns zurückgeholt haben.
Auch weil ihr „Die Gruppe“ selbst aufgenommen habt.
Andreas Spechtl: Genau, sie ist viel näher an „The Taste And The Money“ von 2007 dran. Damals nahmen wir viel in unserer alten WG auf, das Album lag in unserer Verantwortung.
Die neue Platte springt damit zurück zum Ursprung.
Andreas Spechtl: Bevor es Ja, Panik für die Leute gab, gab es die Gruppe nur für uns. Ich war mit Stefan [Pabst, Anm.] ja in der Schule, wir machen Musik, seitdem wir 15 sind. Irgendwie fühlt es sich mit dem neuen Album ein bisschen wie damals an. Diese Form der Arbeit von früher zu finden, machte aber die meiste Arbeit aus.
Was hat Ja, Panik nach dieser langen Zeit noch zu sagen?
Andreas Spechtl: Ich weiß nicht, ob wir das beantworten können. Es geht vielmehr darum, was die Leute glauben, was wir zu sagen haben. Du sprichst aber einen interessanten Punkt an: Die Platte entstand 2020. Bei uns war es immer so, dass wir das Ergebnis erst im Nachhinein reflektieren konnten. Schließlich erzählt ein Kunstprodukt auch viel über sich selbst. Ich merkte, dass viele Texte eingeflossen sind, die ich über die letzten fünf Jahre geschrieben habe. Das Jahr 2020 hat die Texte aufgenommen, oder: sie wurden aufgenommen. Nehmen wir als Beispiel das Stück „Backup“ mit der Zeile „Everybody wants to own the end of the world“. Man hört das Stück und denkt: Krass, was ist passiert in diesem komischen Jahr?
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Die Vergangenheit drückt sich zurück in die Gegenwart.
Andreas Spechtl: Ja, plötzlich holt einen die Welt ein, über die man seit fünf Jahren schreibt. Dabei war die weirdness dieser Krise schon vor 2020 da – das Jahr und die Krise waren nur der Brandbeschleuniger für all die Themen, die in den letzten Jahren schlummerten. Sei es die Ungleichheit im Gesundheitssystem oder in der Gesellschaft, all das wurde an die Oberfläche gespült.
Das Album fasst den Chronotops des derzeitigen Systems zusammen, indem sie sphärisch und vage bleibt.
Andreas Spechtl: Es nimmt eine fragende Haltung ein und ist kein Manifest, ja.
Weil es weniger Antworten gibt?
Andreas Spechtl: Ja, und weil es weniger um die Jugendschläue von früher geht. Die Fragen sind hier interessanter als die Antworten. Trotzdem landet man formal bei unserer ersten Platte. „Die Gruppe“ ist dichter als „Libertatia“.
Wie meinst du das?
Andras Spechtl: Gerade bei den Texten liegt eine lange Zeit zwischen ihrem Schreiben und der Verwendung im Song. Bei der ersten Platte war es ähnlich. Wir schrieben jahrelang daran, während die anderen Alben in viel kürzen Perioden entstanden.
Waren damals auch schon so viele Fragen da?
Andreas Spechtl: Ja, im Gegensatz zu heute entsprangen sie aber der eigenen Unerfahrenheit und Jugendlichkeit. Es waren Fragen ans Leben aus der Perspektive eines Zwanzigjährigen.
Ist es nicht ein Problem, dass man irgendwann zu viele Fragen stellt – und zu wenige Antworten bekommt?
Andreas Spechtl: Werden uns in dieser Welt nicht ohnehin mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben? Schließlich gibt es auf jede Frage fünf Antworten von unterschiedlichen Personen, die alle für sich beanspruchen, die Frage zu beantworten – oft sogar ungefragt.
Natürlich, es ist einfach geworden, die absolute Wahrheit auf überhaupt nicht absolute Fragen zu artikulieren.
Andreas Spechtl: Gleichzeitig gibt es unumstößliche Wahrheiten, nicht? Ich glaube an die Wissenschaft, darauf muss man beharren.
Deshalb auch deine Bitte an den Doktor, endlich für „The Cure“ zu sorgen.
Andreas Spechtl: Genau! Trotzdem muss man sich die Frage stellen: Heilung wozu?
Oder von was?
Andreas Spechtl: Ja, deswegen schließt das Stück gedanklich an „DMD KIU LIDT“ an. Krankheit und Heilung fallen zusammen. Diejenigen, die dich kaputt machen, wollen dich gleichzeitig heilen, damit du wieder eingegliedert werden kannst in ein System, das dich kaputt macht. Am Schluss des Stückes setzt der Chor ein, der vorgibt, dass es vielleicht besser sei, sich nicht heilen zu lassen. Die Frage der Krankheit hängt davon ab, welchen Arzt man besucht.
„The cure to capitalism is more capitalism“, singt der Chor. Die Überaffirmation der Beschleunigung als Abgesang auf den Kapitalismus, hat sich dieser Gedanke nicht abgenutzt und überholt?
Andreas Spechtl: Genau, deswegen gibt es den Nachsatz „that’s the real capitalism“. An seine eigentliche Beschleunigung glaube ich nicht, weil sie der tatsächliche, der reale und sich ständig selbst erneuernde Kapitalismus ist.
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Und alles verinnerlicht, was er zu heilen vorgibt.
Andreas Spechtl: Er baut die Symptome in sich ein. Wie sich das ändern lässt, weiß ich nicht. Ich bilde die Thematik nur ab, als eine Art Fortschreibung meiner eigenen Gedanken. Die gedanklichen Brüchen zwischen den Platten erscheinen größer, als sie in meinem Kopf sind. Schließlich drehen sich unsere Stücke von Anfang an um ähnliche Themen, die wir aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.
Das übergreifende Thema ist die Revolte, das Dagegensein?
Andreas Spechtl: Wie kritisieren, wie aufbegehren, wie emanzipieren? Fragen auf Themen, die sich abarbeiten an dem Problem, dass alles, was gegen das System ist, das System nur stärker macht. Aus diesem Kreislauf auszubrechen ist die Herausforderung.
„ICH SPÜRE IN SEINEN BÜCHERN EINE GEISTIGE VERWANDTSCHAFT, DIE ICH DAVOR BEI KAUM EINER AUTOR*IN GESPÜRT HATTE.“
Für mich schwingen in deinen Formulierungen die Gedanken des verstorbenen K-Punk-Theoretikers Mark Fisher mit. Du hast ihn gelesen, nehme ich an.
Andreas Spechtl: Nach „DMD KIU LIDT“ hatte mir ein Freund das Hauntology-Buch von Fisher gegeben [Ghosts of My Life: Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures, Anm.]. Anschließend besorgte ich mir seine anderen Bücher. Es war eine Entdeckung. Ich merkte, dass da jemand über Dinge geschrieben hatte, die mich beschäftigten und an denen ich mich abarbeitete – Depressionen und Heilung der Symptome als Wiedereingliederung in ein depressives System. Ich spüre in seinen Büchern bis heute eine geistige Verwandtschaft, die ich davor bei kaum einer*m Autor*in gespürt hatte.
Ich habe seine Bücher immer als Ausdruck von Gefühlen empfunden. Subtile Themen, die uns wie eine Atmosphäre umgeben, aber nicht sichtbar sind – bis sie Fisher aufgeschrieben hat.
Andreas Spechtl: Das krasse an seinen Büchern ist, dass er im Schreiben über Stimmungen und Geister etwas artikulieren konnte, dass uns alle umgibt. Als ich seine Bücher las, merkte ich: In diesem Wahnsinn leben wir. Irgendwie wusste ich das auch davor, aber es war nur unterschwellig, quasi hauntologisch, vorhanden. Seine Kunst war es, dieses Gefühl in ein paar schmalen Büchern festzuhalten. Das hat bei vielen zu einer Offenbarung geführt, weil man auf einmal über dieses vage Gefühl sprechen konnte.
Formal finde ich dieses vage Gefühl auch auf „Die Gruppe“. Spielereien auf modularen Synthesizern wirken wie der hauntologische Kontrast zum verhallten Saxophon, das eine Lynchieske Traumwelt aufmacht.
Andreas Spechtl: Die Synthesizer-Sequenzen und -atmosphären waren fast immer das Erste, was auf den neuen Songs da war. Für Ja, Panik-Verhältnisse gab es bisher wenig Stücke, die nur auf einer Drone oder einem Akkord basierten und damit mit der Songwriter-Struktur brachen. Dadurch, dass ich mit alten Texten arbeitete, zu denen es keine Musik gab, entwickelten sich viele Stücke aber in eine Spoken-Word-Richtung. Ich schreibe schließlich jeden Tag in meine Notizhefte. Über die Jahre hat das ein ziemliches Ausmaß angenommen. Für das Album habe ich mich zwei Monate mit den Texten zurückgezogen, um mir einen Raum aus Sound zu schaffen, in dem ich der Frage nachgehen konnte, welche Texte dafür gemacht sind, gesungen zu werden. Zurückzufinden zu einer Stimme als Sänger, war gar nicht so einfach.
Weil du dich mit deinen Soloprojekten in der Zwischenzeit eher weg von der Text-Ebene bewegt hast.
Andreas Spechtl: Genau, es kam zu einer Ermüdungserscheinung in Bezug auf Indie-Rock und das klassische Band-Gefüge. Im Album-Prozess gab es deswegen viele Diskussionen, vor allem über die Fragen, wie das gespielte Schlagzeug zu klingen habe und wie wir es aus dem Rock holen könnten. Dadurch sind Glitches und Verschiebungen entstanden. Schließlich ist „Die Gruppe“ immer noch eine Band-Platte – interessanterweise sogar mehr Band-Platte als „Libertatia“.
Wie genau?
Andreas Spechtl: Wir haben diesmal ganz wenig geschnitten. Vieles entstand aus der Improvisation, aus dem Spielen über Drones und aus dem Moment. Manche Gesänge habe ich nie wieder so hinbekommen wie beim ersten Mal, als ich das Heft mit den Texten in die Hand nahm. Das Ergebnis wirkt unmittelbarer, jazziger und improvisierter – vor allem im Vergleich zu „Libertatia“, die voll ausproduziert war.
Dazu passt, dass der Journalist Joachim Hentschel im Pressetext von einem „Soundkanal der fantastischen Zwischenzustände“ schreibt. Bei aller Liebe zum Pathos, widerspricht das nicht euren Prinzipien?
Andreas Spechtl: Wie meinst du das?
Ich erinnere mich an eine der ernsteren Passagen in eurem Buch „Futur II“. Du schreibst: „Wer Sehnsucht nach Zwischenzonen in seinem Leben hat, der soll sich einen Cluburlaub in der Karibik buchen.“
Andreas Spechtl: Die Passage ist weniger auf die Musik bezogen, sondern politischer und gesellschaftlicher gemeint. In „Futur II“ geht es um das Heterotopische, um die Annahme, dass man eine freie Welt innerhalb der Unfreiheit leben kann. Daran glaube ich überhaupt nicht, aber: In der Musik ist die Sache mit den Zwischenräumen anders. Dass man sich als Musiker*in eine Welt bauen kann, in der man sich zwingt, aus Mustern auszubrechen, glaube ich nämlich schon. Das haben wir auf „Die Gruppe“ versucht. Es ging um die Frage, wie wir Ja, Panik bleiben und gleichzeitig auf alles, was wir in der Zwischenzeit getan haben, reagieren können. Das bedurfte der Zwischenräume.
Du spielst damit auf ein künstlerisches Außen an.
Andreas Spechtl: Ja, sich die Auszeit und das Außen zu schaffen, ist aus künstlerischer Sicht wichtig. Schließlich ist man vollgestopft mit den Einflüssen der Welt, steht mittendrin. Um sie zu verarbeiten, muss ich mich kurz zurückziehen in einer Art utopischen Raum. Gleichzeitig kann man dort nicht bleiben. Dieser Raum funktioniert als Spielfeld, aber nicht als Welt.
Das Spielfeld als temporärer Ausbruch, um die gemachten Erlebnisse als Nachwirkung mit in die reale Welt zu nehmen.
Andreas Spechtl: Ja, trotzdem darf man nicht im Spielfeld verharren. Die Nachwirkung muss sich in der Welt eingliedern, ansonsten wäre es Eskapismus.
Wie zeigt sich das bei dir?
Andreas Spechtl: Im Versuch, nicht stehenzubleiben. Ich könnte sagen, dass ich immer in meinem Haus im Burgenland bleibe, wo ich den Stall zum Studio umgebaut habe. Nur: Das interessiert mich weder künstlerisch noch sozial. Die vorübergehende Auszeit, in der der Ausbruch ein Spielfeld eröffnet, ist hingegen wichtig. Schließlich schreit die Welt nach Auszeit.
Viele wünschen sich gerade wieder die Vollzeit, denke ich.
Andreas Spechtl: Trotzdem fanden manche das letzte Jahr aus komischen, romantischen Gedanken gut, weil sie auf einmal eine vermeintliche Auszeit hatten.
Ja, Leute, die auf einmal Brot buken und zu Hause das Heislpapier stapelten.
Andreas Spechtl: Tatsächlich empfanden manche den Lockdown auf die Art: „Ja, endlich!“ Ich denke mir nur: Was habt ihr für ein Leben, dass ihr das braucht?
Deshalb profilierten sich manche, indem sie die Krise als Chance betrachteten.
Andreas Spechtl: Das ist so, als würde man in den All-Inclusive-Urlaub fahren. Ich will mein Leben nicht so führen, dass ich jedes Jahr für zwei Wochen nach Mallorca fahren muss, um nicht den Verstand zu verlieren in diesem System. Ich will aber auch kein Leben führen, in dem ich alle 50 Jahre eine Pandemie brauche, um zur Ruhe zu kommen.
„VIELLEICHT HAT DIE PANDEMIE EINIGE LEUTE FITTER GEMACHT.“
Die einzige Chance, die sich durch die Krise ergibt, ist die Selbstreflexion – um die Art des eigenen Lebens zu hinterfragen.
Andreas Spechtl: Gleichzeitig landen wir damit am Anfang unseres Gesprächs. That’s the real capitalism – weil: Urlaub gibt vor, uns fitter zu machen. Vielleicht hat auch die Pandemie einige Leute fitter gemacht.
Und ihr kommt mit einer Platte daher, bei der sich die Silberrücken-Partie der Feuilleton-Mannschaften sich die Finger abschlecken werden. Ich seh schon die Headlines: „Diskurspop-Platte des Jahres.“
Andreas Spechtl: Wie man das Diskursding für sich definiert, ist die Frage. Wenn es eine Platte ist, die über die reine künstlerische Nabelschau, ein paar stumpfe Melodien und Lovesongs hinausgeht, also in Kopfhörer landet, in denen Leute sich auf andere Art angesprochen fühlen, weil wir Dinge – wie vorhin, als wir über Mark Fisher sprachen – konkretisiert werden, dann sag ich: „Ja, diese Art von Diskurs bin ich gerne!“ Wenn es nur darum geht, dass Silberrücken schlaue Sätze in ihren Feuilleton-Spalten schreiben, ist mir das scheißegal. Wir machen ja keine Musik für Journalisten, sondern für ein imaginiertes Publikum, das etwas mitnehmen kann.
Das Diskurspop-Label ist also wurscht.
Andreas Spechtl: Ja und nein, ich weiß es nicht … Momentan bin ich einfach froh, dass die Platte fertig ist.
Tatsächlich?
Andreas Spechtl: Total. Man merkt, wie viele Fertigkeiten im Songschreiben, im Aufnehmen und in der Gruppenfindung vorhanden sein müssen. Wir haben in den vergangenen Jahren einige Dinge verlernt, andere aber auch neu – und deswegen anders gelernt. Inzwischen weiß ich, dass es nie wieder so anstrengend sein wird, eine Platte zu machen.
Bis irgendwann die nächste kommt …
Andreas Spechtl: Die nächste Pandemie oder die nächste Platte?
Wenn das pandemische Ding zur Routine wird, kommt die nächste Platte in 50 Jahren.
Andreas Spechtl: Es ist so, dass wir uns jetzt Dinge erarbeitet haben, die wir uns für die nächste Platte – wer weiß, wann sie kommt – nicht wieder auf dieselbe Weise aneignen müssen. Das mag Hippie-mäßig klingen, aber es waren alle froh, dass wir diese Platte geschafft haben; dass wir so viel Spaß dabei hatten; dass es keine Zerwürfnisse gab. Es war einfach schön, dass es wieder funktioniert hat.
Vielen Dank für das Gespräch!
Christoph Benkeser
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