„Die Schönheit ist den Menschen zumutbar!“ – STEFAN MEISTER (HEART OF NOISE FESTIVAL) im mica-Interview

Im Frühling ist es wieder Zeit, um die lärmerfüllten Herzen höherschlagen zu lassen, denn das Innsbrucker HEART OF NOISE FESTIVAL (30.5. – 2.6.) steht wieder an. Letztes Jahr stand das Festival unter dem Motto „Pop Life“, nun folgt „Decocooning Society“, ob Kontrast oder Erweiterung bleibt offen. Das alpenverhüllte HEART OF NOISE FESTIVAL steht damit ganz im Zeichen einer längst vergessenen Utopie und begibt sich erneut auf die Suche nach Ästhetiken außerhalb der übertitelten Gesichter des kulturellen Mainstreams. STEFAN MEISTER und CHRIS KOUBEK organisieren das Festival seit 2011 zu zweit, und das nebenbei. Das Line-up bildet diesen Fakt jedoch nicht ab, ganz im Gegenteil. Mit dabei sind KünstlerInnen wie JLIN, ARPANET, GLENN UNDERGROUND, JUAN ATKINS, TIM HECKER, ERRORSMITH, GODFLESH, VALERIO TRICOLI, PAN DAJING UND WERNER DAFELDECK, ABUL MOGARD. Ada Karlbauer sprach anlässlich des in Kürze startenden Festivals mit dem Veranstalter STEFAN MEISTER über das zur Normalität verkommene Zerbrechen der ideologischen Musikkriterien von E und U, verwilderte englische Gärten statt diskursaffinen Aufmerksamkeitsshoppingmalls und die Empfehlung, bei Aufnahmefähigkeitsaussetzern einfach einen Longdrink lang an der Bar abzuhängen.

Das diesjährige Heart of Noise steht unter dem Motiv „Decocooning Society“. Wie würden Sie die Grundgedanken zusammenfassen?

Stefan Meister: Es geht bei „Decocooning Society“ ganz unzeitgemäß nicht um eine Dystopie, sondern um eine vergessene Utopie. Während oder weil sich, wie es die Presse von den Dächern pfeift, angeblich alles auf den unausweichlichen Endsieg des Kapitalismus vorbereitet und sich hinter identitätsstiftenden Kulturschützengräben einbunkert, zieht uns diese im Grunde genommen asoziale Gesellschaftslandschaft schon bei so etwas so Harmlosem wie der Ebene der Musikgenres und ihrer Konsumentinnen und Konsumenten den Nerv. Blackmetaller hören keinen Death Metal, Househörer gehen auf keine Technoparty, Jazzer kreisen in in sich geschlossenen Paralleluniversen und die sogenannte Klassik ist schon lange Pop für die bildungsferne sprich wirtschaftliche Mittelschicht.
„Decocooning Society“ fordert ein Zerbrechen der ideologischen Musikkriterien von E und U aus dem vorletzten Jahrhundert, ein Wiedererrichten temporärer autonomer Zonen, Offenheit, Emanzipation, ein Umdenken des öffentlichen Raumes, also alle möglichen bescheidenen Dinge. Musik, Klang- und Videokunst schaffen dazu verbindende Räume, diese möchten wir gerne mit Musik bespielen, die zwischen Stühlen steht, Grenzen überschreitet oder einfach so ist, als ob es diese Grenzen gar nie gegeben hätte. Die Schönheit ist den Menschen zumutbar!

„Ich finde, wir highlighten uns eigentlich ganz gut über die vier Tage.“

Welche musikalischen Highlights stehen am Programm?

Stefan Meister: Das ist so eine schwierige, aber wiederkehrende Frage, die dazu verleitet, eine Verhitparadisierung der Einzelkünstlerinnen und Einzelkünstler einzuleiten und diese nach anerkannten Musikschubladisierungsvorgaben zu gruppieren. Persönlich haut mich, um ein nicht so magazintitelübliches Beispiel zu nennen, Abul Mogard völlig um, oder die Jlin-Nummern auf dem wunderbaren Footwork-Sampler auf „Planet Mu“. Ich finde auch unsere beiden etwas neben dem anglodeutschen Mainstream laufenden Franzosen Marc Bonnet und Kassel Jäger ziemlich großartig. Dass man dazu auch noch den Godfather des Detroit-Techno Juan Atkins zusammen mit Glenn Undergound und Gerald Donald auf eine Bühne bringt, ist – jetzt einmal für mich – auch etwas grandios, das wäre am Anfang von Heart of Noise in dieser Massivität noch nicht möglich gewesen. Und außerdem Godflesh, Tim Hecker und das völlig geniale Trio Daijing, Dafeldecker, Tricoli usw. Ich finde, wir highlighten uns eigentlich ganz gut über die vier Tage.

„Interessante Musik passiert nicht immer dort, wo sie von Bookern, Managern, Zeitungsmanagern und Musikmanagementmanagern in die Auslage platziert wird.“

Das HON-Programm kennzeichnet sich durch seine Vielseitigkeit, zeigt „den Teich der Schmetterlinge im Garten der Pfade, die sich verzweigen“. Wie wichtig sind Gegensätze, Kombinationen und Reibungsflächen für die Festival-Kuration?

Stefan Meister: Eigentlich das Um und Auf. Nichts ist langweiliger, zumindest für das Kuratieren, als, erfinden wir mal, alle zwölf Titelgesichter des hochgeschätzten Spex oder die Interpretinnen und Interpreten von allen zwölf Platten des Monats im DJ Mag zu buchen. Musikszenen sind immer in Bewegung, manchmal fortschreitend, manchmal zu nicht zu Ende ausgeführten Vergangenheiten zurückkehrend, den temporalen Avantgardebegriff, der Qualitäten linear im „Früher“ oder „Später“ sucht, wie ein Relikt aus dem 18. Jahrhundert erscheinen lassend. Interessante Musik passiert nicht immer dort, wo sie von Bookern, Managern, Zeitungsmanagern und Musikmanagementmanagern in die Auslage platziert wird, sondern dort, wo die glatten Oberflächen aufbrechen und wir statt durchgedachten und diskursaffinen Aufmersamkeitsshoppingmalls gekonnt verwilderte englische Gärten vorfinden. Das Glück des Kurators ist, die Zeit zu haben, nicht nur die Oberfläche der Musikströmungen sehen zu dürfen, wenn ich hier mal kurz in so ein Pathos ausrutschen darf, sondern auf all eben diesen Pfaden, die die Musikkulturen nehmen, die guten Plätze zu finden und die schmackhaftesten Pilze und Beeren von dort mitzubringen, das Schmetterlingsfangen selbst überlassen wir hierbei lieber den Vorvätern wie Hesse und Nabokov.

Die Komposition „The Speaker“ vereint die medial zelebrierte Künstlerin Pan Daijing mit den Klangkünstlern Valerio Tricoli und Werner Dafeldecker. Worum geht’s dabei?

Stefan Meister: Die Frage habe ich mir gedacht, könnte ich eigentlich gleich an Valerio Tricoli weiterleiten, mit dem ich im Moment ja immer in Kontakt bin.

Valerio Tricoli: It’s a collectively composed acousmatic piece with live interventions, exploring themes of solipsism, the disintegration of one’s reality into an impossible network of disjointed monads. It is also about the possibility of communication even in the absence of any goal or any higher scheme. It’s Wittgenstein and Philip Dick.

Wie würden Sie die Veränderungen seit dem Anfang von Heart of Noise beschreiben?

Stefan Meister: Der Hauptunterschied zwischen der ersten und allen anderen Ausgaben von Heart of Noise war, dass es im ersten Jahr des Festivals noch möglich war, sich auf nur ein einziges Phänomen zu konzentrieren, das in der Menge der alternativen Musikkulturen sozusagen den Ton angegeben hat, das war damals Drone. Wir hatten Peter Rehberg und Stephen O’Malley, dessen ganze Band auf unserer damaligen Bühne gar nicht Platz gehabt hätte, und unsere regionaleren Künstlerinnen und Künstler wie Hornyphon, Brttrkllr und Regolith, die damals irgendwo inmitten, darüber oder vor dieser Bewegung Musikwege fanden. Eine so dominante rein gegenwärtige Erscheinung ist kaum zu finden, wir hatten einmal auch Dub als Schwerpunkt, aber nicht nur im Jetzt, und nicht mit Reggae-Bands, die wie Reggae-Bands spielen, sondern als immer wieder auftauchende Klangerzählung von Lee Perry über den Technodub von Basic Channel bis Jungle und zu Echospace. Außerdem müssen wir nicht mehr dauernd und immer über unser Kleinstadtbudget jammern, sondern nur noch fast dauernd und immer.

Bild Heart Of Noise
Bild (c) Daniel Jarosch

„Als professionalisierter Musikmanagementmanager müsste ich wissen, wie ich meine Spotify-Listen pushe, meine Ads platziere, wie ich beim Skype-Interview dreinschaue, wo welche Likes wie viel heißen, ich höre aber viel lieber neue Tonträger und schau YouTube […]“

Virtuelle Gegenwärtigkeiten strukturieren die Jetztzeit, welche Auswirkungen hat das auf ein klassisch organisiertes Musikfestival und welche Aufgaben stellt sich ein Festival heute?

Stefan Meister: Als professionalisierter Musikmanagementmanager müsste ich wissen, wie ich meine Spotify-Listen pushe, meine Ads platziere, wie ich beim Skype-Interview dreinschaue, wo welche Likes wie viel heißen, ich höre aber viel lieber neue Tonträger und schau YouTube, lese nochmal Hakim Bey & Co. und denke darüber nach, wie ich die ganze Musik- und Klangwelle vom letzten Jahr so zusammenstöpsle, dass im Line-up der Sinn dahinter sichtbar wird. Dankbar bin ich dabei für die simpelsten Dinge, für Facebook, Homepages, YouTube und Vimeo, wo man selbst, wenn ein neu erwecktes Interesse einer allerobskursten Nischenentdeckung gilt, von etwa Dungeon Synth bis zum inzwischen groß gewachsenen Footwork, man immer irgendwie in ein virtuelles Umfeld gehen kann, dass einem eine Ahnung davon gibt, ob nachzuforschen, nachzuhören und damit irgendwann auch zu booken für ein Festival infrage kommt.

Kein Festival ohne Diskurs: Die Reihe OHNE THEORIE KEINE REVOLUTION kooperiert heuer mit dem Heart of Noise Festival an der gemeinsamen Schnittstelle Techno. Was kann man sich davon erwarten, welche Themengebiete werden diskutiert?

Stefan Meister: Den ersten Teil der Reihe hatte ich mir selbst angesehen, da hat der Herr Edlinger vom Donaufestival mit Thomas Meinecke – moderiert von Martin Fritz – ziemlich interessant und auch flott, wie ich finde, zufälligerweise über das letztjährige Thema des Heart of Noise „Pop und Pop Life“ diskutiert. Beim Heart of Noise wächst das noch ein bisschen mit gleich vier Diskutanten, mit Sascha Kösch, Seth Horovitz, Matthias Pasdzierny und Jochen Bonz. Es geht um Techno, aber, ich vermute mal, mehr um Technodiskurs als Techno. Bei der gut ausgesuchten Besetzung braucht man sich aber keine Sorgen zu machen, dass sich das in Uniseminarsoziologengescheitheit vermäandert. Es ist bei freiem Eintritt, es gibt also keine Ausreden, nicht zuzuhören. Ich selbst werde zur Veranstaltungszeit wahrscheinlich wie gewohnt gerade wieder meine Künstlerkinder über das Festivalgelände manövrieren, was aber auch immer sehr nett ist.

„In Phasen von Aufnahmefähigkeitsaussetzern einfach einen Longdrink lang an der Bar abhängen und sich dann wieder mitten in die Soundräume stürzen.“

Welche Programmpunkte würden Sie Erstbesucherinnen und Erstbesuchern raten?

Stefan Meister: Noch eine Musikjournalistenfalle. Ich empfehle hiermit hochoffiziell, einfach alles, was sich irgendwie ausgeht, zu besuchen, am besten, ohne sich zu verkopfen, was denn der nächste Programpunkt für einen Rang und eine Geschichte und eine Bedeutung haben könnte. In Phasen von Aufnahmefähigkeitsaussetzern einfach einen Longdrink lang an der Bar abhängen und sich dann wieder mitten in die Soundräume stürzen. Wenn dich was erwischt, ist egal, was es ist, und ob es mein oder eines Kritikers Darling ist oder nicht.

„Der schon länger netterweise wieder allgegenwärtige Walter Benjamin ist da vielleicht unter Umständen auch keine große Hilfe.“

„Cocooning“ steht für das „Verpuppen“, das „Einspinnen“, bezeichnet den Trend, sich sukzessive ins Private zurückzuziehen, und erinnert vage an die Denkfigur Walter Benjamins, den sogenannten Etui-Menschen. Beim HON wird dieser Begriff bewusst verneint, handelt es sich dabei um einen konkreten Aufruf oder vielmehr um einen Wunsch?

Stefan Meister: Für einen konkreten Aufruf, der wirklich eine Veränderung der Gesellschaft bewirkt, sind wir als Musikfestival sowieso etwas zu klein. Ich sehe das etwas undramatischer als gut gemeinten Vorschlag an unsere Gäste. Ohne oder wenigstens mit weniger Borders sei lustiger, sagt man häufig, als ob man es wissen würde. Aber gerade das beredte Bekenntnis dieses Schon-gewusst-Habens zum Dann-doch-Dortbleiben und zu fortgesetztem Blasentiefschlaf, da müssen wir wieder raus. Der schon länger netterweise wieder allgegenwärtige Walter Benjamin ist da vielleicht unter Umständen auch keine große Hilfe, eher noch eine clevere Unterhaltung aus dem Hotel Abyss.

„Es leben die temporären autonomen Zonen; we now (let us all) chant it again: Die Schönheit ist den Menschen zumutbar!“, heißt es im Festival-Statement, dabei wird Ingeborg Bachmanns Zitat von „Wahrheit“ zu „Schönheit“ adaptiert. Wie deuten Sie das Verhältnis zwischen Schönheit und politischem Anspruch durch Sound?

Stefan Meister: Irgendwie scheint es immer schwerer möglich zu sein, eine wirklich kritische Haltung innerhalb der Vorgaben „kritischer“ Kommunikationsformen zu finden. Demokratie entwickelt sich zu einem so ausdifferenzierten Raum, dass Kritik eigentlich nicht mehr möglich ist. Die Wirkungen von als Kritik titulierten Äußerungen sind nicht abhängig von argumentativen oder ästhetischen Kriterien, auch nicht mehr von mit den Äußerungen verbundenen Ideologien, sondern werden innerhalb einer demografischen Gruppierung geäußert, deren Aussagen von anderen demografischen Gruppen sowieso nicht anerkannt werden. Zizek empfiehlt dazu, subversiv zu sein, indem man aus dem Diskurs zurücktritt, das gefällt mir so aber nicht. Pop etwa, den wir letztes Jahr zentral thematisiert hatten, hat eine verbindende hedonistische Energie, die durch die Verwertung von Pop zu Manifesten von Inkludierungs- und Exkludierungsstrategien, eben zu Cocoons verfallen ist. Der politische Anspruch von Sound ist in diesem Kontext die mögliche Auflösung von Grenzziehungssystemen, ein Versuch, durch die Schaffung von Begegnungsräumen auch nur kurzfristig die zitierten autonomen Zonen herzustellen, auf dass etwas davon ein wenig bei den Hörerinnen und Hörern sowie den Besucherinnen und Besuchern hängen bleibt.

Was sind Ihre Erwartungen an das HON 2018?

Stefan Meister: Dass ich es bis zum Urlaub danach größtenteils unbeschadet überlebe. Danach ist eh klar: Nach dem Festival ist vor dem Festival.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Ada Karlbauer

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