Die neue Relevanz des alten Netzwerk-Gedankens – die junge österreichische Jazzgarde

Musikerzusammenschlüsse sind im Bereich der improvisierten Musik seit den 1960er-Jahren nichts Ungewöhnliches. In Österreich haben junge Musizierende die Netzwerk-Idee zuletzt neu für sich entdeckt. Von Andreas Felber.

In Österreichs Jazzszene kocht tendenziell doch jeder lieber sein eigenes Süppchen. Verglichen mit Deutschland, wo schon vor Jahren die Interessensvertretung „Bundeskonferenz Jazz“ und zudem die „Union deutscher Jazzmusiker“ ins Leben gerufen wurden, ist der interne Vernetzungsgrad der heimischen Improvisationsmusik gering. Während es in den 1960er-Jahren eine Österreichische Jazzföderation gab, die etwa das jährliche Amateur-Jazzfestival im Wiener Konzerthaus ausrichtete, so fehlt heute eine genreübergreifenden Lobbying-Plattform. In den 1990er-Jahren lancierte der damalige „Vienna Art Orchestra“-Leiter Mathias Rüegg-Jahren die Ideen einer „IG Jazz“, realisiert wurde diese freilich nie.

Eine „IG Jazz“ existiert heute immerhin auf Veranstalter-Ebene: Mitte der 1990er-Jahre schlossen sich elf Wiener Jazzclubs und Jazzkonzert-Organisatoren zur Plattform gleichen Namens zusammen, die alljährlich im November das Club-Festival „Vienna Jazz Floor“ auf die Beine stellt. Seit 1998 existiert mit dem sieben steirische Veranstalter vernetzenden „Jazzkartell Graz“ auch ein Pendant in Österreichs zweitgrößter Stadt.

Vor allem aber auf Ebene der Musizierenden hat der Netzwerkgedanke eine bemerkenswerte Renaissance erfahren. Den Beginn machte eine Kooperative mit dem schnittigen Kürzel „V:NM“ in Graz, hinter der sich der „Verein zur Förderung und Verbreitung Neuer Musik“ verbirgt, ein Unternehmen, das 1996 als Akt der Musikerselbsthilfe gestartet wurde: Sahen sich doch immer weniger Musikschaffende im Bereich elektronischer, zeitgenössischer komponierter und vor allem improvisierter Klänge von den Distributionskanälen des hiesigen Markts erfasst. Also schuf man mit dem Verein eine eigene CD-Vertriebsplattform. Aus der bald mehr werden sollte: 1999 organisierte der Verein, dem heute rund 60 MusikerInnen der Grazer und der Wiener Szene angehören, das erste V:NM-Festival, das seit 2001 im biennalen Rhythmus an verschiedenen Orten in Graz (Mariahilferkirche, IEM/Institut für Elektronische Musik und Akustik, Stockwerk) stattfindet. Auf das Kuratieren wird dabei bewusst verzichtet, stattdessen sind die Mitglieder aufgerufen, selbst Projekte oder Wunschbesetzungen vorzuschlagen. Wobei die Richtlinie gilt, sich in möglichst neuen, noch unerprobten Konstellationen zu präsentieren.

Seit 2009 suchen die V:NM-MusikerInnen auch den Austausch mit anderen Städten: Unter der Leitung von Schlagzeuger Josef Klammer fanden unter dem Titel „Alpenglühen“ / „Alpenglow“ Austauschprojekte mit Kolleginnen in Köln (2009), London (2010) und Wroclaw (2012) statt – wobei das Grazer „Rückspiel“ jeweils für den April des folgenden Jahres anberaumt wurde. Das Besondere dabei: Die Begegnungen werden allesamt in so genannten „Blind Dates“ absolviert, d. h. der Kennenlernprozess wird auf die Bühne verlagert, die MusikerInnen improvisieren ohne Proben, ohne vorherige Absprachen frei, reagieren spontan aufeinander. Mittlerweile liegen zwei CDs von Ensembles vor, die sich auf diese Weise gebildet haben: Vom „Pivot Quartet“, das Josef Klammer, Gitarrist und Soundelektroniker Seppo Gründler sowie Saxofonist Martin Zrost mit der Kölner Vokalistin Bettina Wenzel verbindet; und das „Barcode Quartet“, dem wiederum Klammer, Vokalistin Annette Giesriegl, Pianistin Elisabeth Harnik und die Londoner Violinistin Alison Blunt angehören.

Wiener Jazzwerkstattmeister

Vor allem an der jungen Basis hat die österreichische Jazzszene in den letzten Jahren nicht nur kreatives Potenzial, sondern auch Mut zur Eigeninitiative bewiesen. Mit anderen Worten: Die nachrückenden MusikerInnen haben den guten alten Netzwerk-Gedanken wieder entdeckt und mit neuem Leben erfüllt. Den ersten, vielbeachteten Schritt setzte ein aus dem niederösterreichischen Krems stammender und in Wien lebender Pianist namens Clemens Wenger im November 2004: Mit der Auftrittssituation unzufrieden, schritt der damals 22-Jährige zur Tat, suchte nach Gleichgesinnten – will heißen: Anti-Puristen, die ihre kreativen Energien nicht vorgegebenen, 32-taktigen AABA-Formen, sondern umgekehrt jene Formen ihren kreativen Energien anzupassen pflegen – und fand sie in den Saxofonisten Clemens Salesny und Wolfgang Schiftner, in Posaunist Daniel Riegler, Gitarrist Peter Rom und Bassist Bernd Satzinger. Zu sechst gründete man, lose inspiriert von der Workshop-Band Charles Mingus’, den Verein „JazzWerkstatt Wien“. Um sich im Frühjahr 2005 erstmals dreieinhalb Wochen lang im Wiener WUK zu öffentlichen Nachmittagsproben und Abendkonzerten selbst auf die Bühne zu rufen.

Nicht nur sich selbst freilich: Rund 60 MusikerInnen aus ganz Österreich wurden geladen, um in Besetzungen zwischen Duo und Mammut-Bigband ihre Ideen hören zu lassen. Kinder- und Volkslied-Bearbeitungen standen neben freien Improvisationen, Computerklänge und Noise-Rock neben Changes-Spiel. Das war und ist der von starkem Community-Feeling geprägte Geist der JazzWerkstatt: Man pflegt ein unverkrampftes, scheuklappenloses Verhältnis zur Tradition, bedient sich ihrer, wo immer man es als sinnvoll erachtet, transzendiert sie, wenn Lust und Neugier dazu treiben. Dieser unbedingte Wille zu individueller Wahlfreiheit, unbeeindruckt von ästhetischen oder kommerziellen Ge- und Verboten, kommt auch in unorthodoxen nominellen Schöpfungen zum Ausdruck: „Da rumpelt die Kartoffel“ nannte sich etwa eine zum Hit mutierte Piece des virtuosen Trios „Kelomat“, das die diskursive Stringenz Ornette Colemans und die Cut-up-Technik John Zorns in ein elastisches Setting verpackte. Auf der Debüt-CD der mittlerweile aufgelösten Formation findet sich auch eine grölend zertrümmerte Version von John Coltranes „Giant Steps“ – gleichsam als Kampfansage an jazzige Akademismen. Dieselbe allen überkommenen Regulativen trotzende Grundhaltung zieht sich auch durch die Sampler-Dokumentationen der WUK-Projektwochen 2005 und 2006, die einen exzellenten Überblick über die Vielfalt und die kreative Heterogenität der MusikerInnen geben. Insgesamt sind mittlerweile 30 Tonträger auf dem JazzWerkstatt-Label erschienen. Sie präsentieren zunehmend auch MusikerInnen außerhalb des (nach dem Ausscheiden von Wolfgang Schiftner) nunmehr fünfköpfigen Vorstands: Etwa die Saxofonistin Viola Falb, die in das sinnliche, kompakte Post-Bop-Konzept ihres Quartetts „Falb Fiction“ vielfältige Einflüsse zwischen elektronischen Grooves und freien Ausbrüchen integriert. Vokalistin Maja Osojnik hingegen frönt auf ihrem CD-Erstling „Oblaki so rdeči / Die Wolken sind rot“ (2006) eigenwilligen Bearbeitungen von Volksliedern ihrer slowenischen Heimat.

Aktuell wichtige Ensembles sind das schlagzeuglose, „elektroakustischem Kammerjazz“ verpflichtete „JazzWerkstatt Wien New Ensemble“, zu dem sich die verbliebenen fünf Gründer zusammen geschlossen haben, wie auch das grandiose Trio, in dem Peter Rom, Martin Eberle und der Berner Vokalist Andreas Schaerer westafrikanische Rhythmusgitarristik mit fetten Trompeten-Belcanto-Linien und virtuos-erratischen Human-Beat-Box-Einlagen zusammen führen. Erwähnt sei außerdem das Quartett, das Clemens Salesny mit den beiden ehemaligen „Vienna Art Orchestra“-Veteranen Herbert Joos (Trompete) und Woody Schabata (Vibrafon) betreibt (zweite CD „Live“, 2012) sowie das 17-köpfige Bigband-Kammerorchester „Studio Dan“, geleitet von Daniel Riegler, das mit „Dekadenz“ anno 2012 seine drittes CD-Album vorgelegt hat.

Veranstalterisch ist die JazzWerkstatt Wien zurzeit mit der „Zoom!“-Konzertreihe und dem Festival „Vienna Roomservice“ präsent, das seit 2010 jeweils im September im Wiener Porgy & Bess stattfindet.

Grazer Jazzwerkstattmeister

Dass die JazzWerkstatt Wien Widerhall gefunden hat, das beweisen Einladungen nach halb Österreich wie auch zum Festival ins bundesdeutsche Moers anno 2006 und zum Jazzfestival Saalfelden 2007. Und das beweist der Umstand, dass das Vorbild der JazzWerkstatt Wien etwa in Bern und Berlin Nachahmer gefunden hat. Auch in Österreich selbst ist dies der Fall: Nach Wiener Vorbild hoben Saxofonist Siegmar Brecher und Bassist Valentin Czihak 2007 die JazzWerkstatt Graz aus der Taufe. Als Vorläufer fungierte die schon 2005 initiierte Konzertreihe „Fat Tuesday“ im Grazer Schauspielhaus (später von 2009 bis 2011 im Orpheum); 2007 fand zudem im Theater am Ortweinplatz erstmals das „JazzWerkstatt“ genannte Festival statt, das seither jedes Jahr im April eine knappe Woche lang das Schaffen der jungen steirischen und österreichischen Jazz-Szene präsentiert und 2009 ebenfalls im Orpheum übersiedelte. 2012 wurden zudem die „Jazzwerkstatt-Short Cuts“ ins Leben gerufen, regelmäßige Mini-Festivals, in denen unter wechselndem Kuratel thematische Schwerpunkte musikalisch ausgelotet werden.

An bemerkenswerten Ensembles, die aus dem Umfeld der JazzWerkstatt Graz hervor gegangen sind, sei etwa das von Gitarrist Julian Pajzs und Schlagzeuger Valentin Schuster gegründete, später durch Bassklarinettist Siegmar Brecher komplettierte Trio „Edi Nulz“ genannt, das im Rahmen seines Debüts „Jetzt“ (2012) erfrischend anarchischen und doch hochpräzise musizierten Jazz-Kammer-Punk intoniert. Ebenso sei das musikantische Folk-Jazz-Duo des virtuosen Akkordeonisten Christian Bakanic und des Sinti-Swing-angefixten Gitarristen Manfred Temmel erwähnt, das mit „Araboroo“ ebenfalls 2012 einen fulminanten CD-Erstling vorgelegt hat.

In Sachen Großbesetzung ist das von Pianist Michael Lagger anno 2010 gegründete Tentett „Akrostichon“ zu nennen, das für die zweite Einspielung „Akrostichon & Chor“ (2011) um die beiden Gesangssolistinnen Ángela Tröndle und Tjaša Fabjančič sowie einen vierstimmigen gemischten Chor erweitert wurde. Die erwähnte Ángela Tröndle, die aus Salzburg stammt, in Graz studiert hat und wie Brecher mittlerweile in Wien lebt, zählt ebenfalls zu den treibenden Kräften hinter der JazzWerkstatt Graz, außerdem zu den wohl wichtigsten Nachwuchshoffnungen der heimischen Szene: Aktuell beweist sie dies etwa im mit Cellistin Sophie Abraham betriebenen Duo „Little Band From Gingerland“, in dessen Rahmen sie auch vor der Vertonung von Spam-Mails nicht zurück schreckt. Noch bewerkenswerter ist Tröndles 2010 veröffentlichter CD-Zweitling „Eleven Electric Elephants“ , aufgenommen mit ihrem Quintett „Mosaik“ und Streichquartett: Tröndle, die hier auch als Songwriterin hervortritt, versteht es, in weiten Spannungsbögen zu denken und zugleich mit mannigfaltigen dramaturgischen Ideen zu überraschen. Fließende, groovende Bewegung zeichnet die süffige und doch elaborierte Musik aus, lässt die elf Stücke, die auf Rilke-Gedichten ebenso wie auf schwedischen Volksliedern und eigenen Sprachspielen und Texten basieren, als in einem Guss choreografierte Suite ihren Weg in die Gehörgänge finden. Im Song „In-Fluence“ formuliert Ángela Tröndle – auch stellvertretend für die junge JazzerInnengeneration Österreichs – ein sympathisch selbstbewusstes Credo: „Fighting further to achieve this boundless hill / my strength is strong and tough my will / I will increase / with confidence and ease.“

Foto Studio Dan © Ditz Fejer
Foto Josef Klammer © Lois Klocker
Foto Viola Falb © Jan Strouhal
Foto Edi Nulz © Edi Haberl
Foto Ángela Tröndle © Domig