„DIE MUSIK VON HEUTE IST NICHT NUR MEHR DURCH NOTEN, SONDERN AUCH DURCH SOUNDS DEFINIERT.“ – AGUSTÍN CASTILLA-ÁVILA IM MICA-INTERVIEW

Nicht nur als Präsident der „International Ekmelic Music Society“ gehört der in Salzburg lebende Musiker, Komponist und Festival-Initiator AGUSTÍN CASTILLA-ÁVILA zu den wohl wichtigsten und engagiertesten Proponenten mikrotonaler Musik. Für mica hat sich Didi Neidhart im Vorfeld des heurigen „Small Is Beautiful“-Symposiums mit AGUSTÍN CASTILLA-ÁVILA zum Interview getroffen.

Was ist eigentlich unter “ekmelische Musik“ zu verstehen?

Agustín Castilla-Ávila: Franz Richter Herf und andere Komponisten aus unserer Gesellschaft haben das 72-stufige ekmelischen Tonsystem geliebt. Der Begriff „ekmelisch“ stammt aus der altgriechischen Musiktheorie: „ek mélos“ heißt übersetzt „außerhalb der Reihe“. Es wurden damit Töne bezeichnet, die im altgriechischen Tonsystem nicht enthalten waren. In der gleichen Bedeutung wird der Begriff heute verwendet: Ekmelische Musik verwendet feinstufig organisierte Töne, die zwischen den zwölf Halbtonstufen unseres traditionellen temperierten Tonsystems und somit außerhalb unserer Hörgewohnheiten liegen.
Wegen dem Begriff „ekmelisch“ der Internationalen Gesellschaft für Ekmelische Musik und dem Symposium „Mikrotöne: Small is Beautiful“ ist Salzburg ein sehr wichtiges internationales Zentrum für Mikrotonalität geworden.

Stichwort „Mikrotonalität“. Geht es hierbei auch um post/de-koloniale Aspekte, also um das Infragestellen einer (westlichen) Hegemonie, die sich durch das „wohltemperierte Klavier“ und das mit verbundene Noten- und Skalensystem definiert?

Agustín Castilla-Ávila: Ich denke schon, dass diese Aspekte oft miteinander verbunden sind. Ich verwende selbst eine 36-EDO (Equal Divisions of the Octave) als Brücke zwischen zeitgenössischer Musik und Volksmusik aus verschiedenen Kulturen. Mit zwei zusätzlichen Noten zwischen einem Halbton kann ich “näher” an die arabische, japanische oder türkische Volksmusik herankommen. Ich genieße es sehr, dieses 36-EDO-System zu verwenden und die Musik zu spielen oder zu hören. Ich bin mir sicher, dass viele Zuhörerinnen und Zuhörer diese mikrotonale Musik ebenfalls genießen, auch wenn sie nicht “authentisch” ist, d. h. nicht genau den Volksmusiken der verschiedenen Kulturen entspricht. Es könnte sein, dass Musikerinnen und Musiker aus diesen Kulturen, wenn ich mit meinem 36-EDO-System ihre Volksmusik nachahme, dies als “Cultural Appropriation” empfinden könnten. Jede Person hat jedoch ihre eigene Wahrnehmung, ihren eigenen Geschmack und ihre eigene Meinung.

Gab es in Europa von der „Wohltemperiertheit“ und der Funktionsharmonik nicht auch schon „offenere“ Ton-Systeme mit durchaus mikrotonalen Aspekten? Ich denke da vor allem an die so genannte „Alte Musik“?

Agustín Castilla-Ávila: Ja, es gibt viele Beispiele seit den griechischen Mikrotönen. Viel näher an der “Wohltemperiertheit” gibt es wunderschöne Beispiele. Ich muss immer Nicola Vincentino erwähnen, weil ich seine Musik so liebe – vokale Kompositionen oder Musik für Archicembalo oder Archiorgano. Im 16. Jahrhundert verwendete er 31 Töne pro Oktave. Man spürt eine andere Spannung, die andere Emotionen berührt.

„Ich persönlich finde Slide-Techniken fantastisch.“

Offene Stimmungen sind auch im US-amerikanischen Blues verbreitet (sonst gäbe es wohl viele Klassiker der Rolling Stones nicht). Hinzu kommen Slide-Techniken, die Glissandi erzeugen, was besonders im Pre-War-Blues der 1930er/1940er Jahre zu einer immer noch sehr eigenartig klingenden Musik führen kann. Wie verhält sich eine solche Musiktradition, bei der bereits Afrika und Europa aufeinandertreffen, zum mikrotonalen Ansatz der Ekmelischen Musik?

Agustín Castilla-Ávila: Ich persönlich finde Slide-Techniken fantastisch, da sie dazu beitragen, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, wie unsere visuelle und auditive Wahrnehmung funktioniert und wie visuelle oder auditive Frequenzen im Gehirn wahrgenommen werden. Obwohl ich kein Experte auf diesem Gebiet bin, spielen diese Gedanken oft eine Rolle in meinen eigenen Kreationen.
Bereits im Jahr 1895 experimentierte Julián Carrillo mit Sechzehnteltönen. Zwischen 1949 und 1958 schuf er die “Pianos metamorfoseadores”, die ähnlich wie Slide-Techniken klingen (dafür erhielt er die Große Goldmedaille auf der Weltausstellung in Brüssel 1958).

„Komponistinnen und Komponisten haben heutzutage eine Freiheit, die es früher nicht gab.“

Der Freejazz-Musiker Albert Ayler hat bereits in den 1960er Jahren gesagt, dass sich die Musik der Zukunft nicht mehr nur durch Noten, sondern auch durch Klänge definiert. Dies umfasst sowohl die “sheets of sounds” von John Coltrane als auch die elektronischen Experimente zwischen Stockhausen und Luigi Nono sowie die Klangverfremdungen bei Jimi Hendrix oder später im Techno. In Anbetracht dessen frage ich mich, warum die ekmelische Musik immer noch Töne und Skalen untersucht. Was fasziniert daran?

Agustín Castilla-Ávila: Heutzutage wird Musik nicht mehr ausschließlich durch Noten, sondern auch durch Klänge definiert. Komponistinnen und Komponisten haben heutzutage eine Freiheit, die es früher nicht gab. Sie können mit allem arbeiten, was sie wollen, mögen oder lieben. Wie bereits erwähnt, ermöglicht uns der Vergleich zwischen den “sheets of sounds” und den “sheets of colors” ein besseres Verständnis unseres Gehirns und der damit verbundenen Wahrnehmung. In der ekmelischen Musik untersuchen wir nicht nur Töne und Skalen, sondern auch Cluster (was in meiner Musik häufig vorkommt) und “sheets of sounds”. Insbesondere bei der Verwendung von E-Gitarren nutze ich selbst Klangverfremdungen als Klangfarben. Für mich haben sie ein besonderes dramatisches Gewicht.

Bild Agustín Castilla-Ávila
Bild (c) Agustín Castilla-Ávila

Beim diesjährigen Symposium geht es unter anderem um microtonale Xylophone. Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang Aspekte wie DIY und experimenteller Instrumentenbau?

Agustín Castilla-Ávila: Bei vielen Teilnehmern spielt es eine Rolle. Die meisten Instrumente werden noch für zwölf Töne gebaut. Wenn man etwas anderes im Kopf hat, muss man die Instrumente ändern. In den 1990er Jahren habe ich ein 36-EDO-System gebastelt. Es bestand nur darin, die Saiten selbst einzustellen und die Sechsteltöne von Saite zu Saite zu stimmen. In meinen Vorträgen erwähne ich immer wieder, dass dieses 36-EDO-System nur ein Beispiel für Do-It-Yourself ist. Jeder kann etwas anderes basteln, je nachdem, was er für eine Komposition/Improvisation benötigt.

Der Detroiter Techno-Musiker Jeff Mills nannte sein 1993er Debüt „Waveform Transmission, Vol 1“, um den Wechsel von Noten zu Sounds nochmals zu intensivieren, indem nun von „Wellenformen“ gesprochen wurde. Also von dem, was am Computerbildschirm als/von Musik sichtbar ist. Wie stehst du eigentlich zum Aspekt „Microtonale Musik aus dem Computer“?

Agustín Castilla-Ávila: Das Thema “Microtonale Musik aus dem Computer” spielt bei jeder Ausgabe des Symposiums eine Rolle. Am Anfang meines Studiums hatte ich großes Interesse an Computermusik. Seitdem (und bis heute) verspüre ich eher eine Sehnsucht nach Musik, die ich mit meinen Fingern spüren kann. Ein Beispiel dafür ist, wenn ich selbst ein 36-EDO-System mit sechs Basssaiten für die klassische Gitarre baue und darauf spiele. Der Genuss, den ich dabei empfinde, ist enorm. Mehrere meiner nichtmusikalischen Freunde haben diese Gitarre ausprobiert und einfach die Saiten geklimpert, um die Resonanz zu genießen. Man spürt die Schwingungen im ganzen Körper. Für mich ist das eine äußerst effektive Klangtherapie. Diese Faktoren sind auch der Grund, warum ich der Computermusik persönlich nur sehr wenig Aufmerksamkeit schenke. Aber natürlich gibt es genug geniale Komponistinnen und Komponisten für Computermusik, die auch an Mikrotönen interessiert sind.

Letztes Jahr ist der “Ableton Microtuner“ als Plugin für die Ableton-Musiksoftware veröffentlich worden. Wäre da was für dich?

Agustín Castilla-Ávila: Ich habe von mikrotonalen Kollegen davon gehört. Aber wie gesagt, ich bin momentan ein bisschen weit weg von Computermusik. Aber, wer weißt: Vor zehn Jahren hatte ich mir gedacht, ich würde nie für E-Gitarre schreiben. Seit neun Jahren spielen E-Gitarren eine fundamentale Rolle in meinen Kompositionen. So ist es.

In deiner im November 2022 eingereichten Doktorarbeit “Instrumental Techniques’ Interchange. On Processes of Importing and Exporting Techniques in the Composition and Performance of Contemporary Music“ geht es vor allem um die Potentiale von Transfers und den damit verbundenen Transformationen von mit einzelnen Instrumenten verbundenen, spezifischen Spieltechniken auf andere Instrumente. Abgesehen davon, dass alle Instrumente auch perkussiv, also als Rhythmusinstrumente gespielt werden können, was waren hierbei die spannendsten und überraschendsten Ergebnisse?

Agustín Castilla-Ávila: Mikrotonale Musik ist nur ein kleiner Teil meiner Musik. Ein anderer kleiner Teil ist die “Instrumental Techniques’ Interchange”. Ich bin sehr zufrieden mit den Ergebnissen, sowohl mit den Kompositionen als auch mit den verschiedenen Kollaborationen mit internationalen Musikerinnen und Musikern. Im November 2022 fand ein Konzert in der Großen Aula in Salzburg statt, bei dem das Cygnus Ensemble, das Ensemble Neopercusión, Pilar Rius und Yvonne Zehner Stücke aus meinem Instrumental-Techniques’-Interchange gespielt haben.
Ich habe auch verschiedene positive Rückmeldungen von verschiedenen Instrumentalist:innen, Komponist:innen und Musikwissenschaftler:innen erhalten. Es freut mich sehr, dass meine vorgeschlagene Terminologie und Klassifizierung gut akzeptiert werden. Beim diesjährigen Symposium Small Is Beautiful” am 2. Juli wird die Pianistin und Improvisatorin Jordina Millà meine Komposition Quasi Piano” für sechs mikrotonale E-Gitarren uraufführen.

„Die Musik ist eine Disziplin aber die Techniken von den Instrumenten sind ganz anders.“

Zusammen mit der Salzburger Künstlerin Isabella Heigl gab es letztes Jahr in den USA das Projekt „NEVERENDINGARTIST: With Dylan on the Road“. Wie sehr passen Bob Dylan und ekmelisch Musik zusammen?

Agustín Castilla-Ávila: Musik ist eine Disziplin, aber die Techniken der Instrumente sind ganz anders. Die “Instrumental Techniques’ Interchange” kann als transdisziplinäre Herangehensweise in der Musikdisziplin interpretiert werden. In unserem Kollektiv NEVERENDINGARTIST haben wir ähnliche Prozesse zwischen Musik und Malerei eingeführt, um eine Klassifizierung in der Transdisziplinarität vorzuschlagen, abhängig davon, wer welche Disziplin mit welchen Objekten praktiziert. Wir haben auch Objekte geschaffen, indem wir beide Disziplinen kombiniert haben.
Transdisziplinarität ist jedoch nur ein kleiner Teil meiner Arbeit. Manchmal haben wir die Gitarren mikrotonal gestimmt, um Klangfarben zu erzeugen und Improvisationen im Stil von Bob Dylan aufzuführen.

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Was bedeutet dir als Gitarristen der Gitarrist Dylan oder geht es eher um die Art und Weise, wie Dylan z.B. mit dem Material von Harry Smith’s legendärer „Anthology Of American Music“ umgegangen ist?

Agustín Castilla-Ávila: Ich selbst habe ein großes Interesse an Volksmusik, auch aus den USA. Unser Kollektiv NEVERENDINGARTIST ist noch recht jung. Bisher haben wir nur das große Projekt With Dylan on the Road” realisiert. Ich hoffe, dass wir mit anderen Projekten und Themen weitermachen können, darunter auch “sheets of sounds” und mikrotonale Musik. Jimi Hendrix war für mich auch mehrmals eine große Inspiration für Projekte.

Was planst du für die Zukunft?

Agustín Castilla-Ávila: Vor Kurzem habe ich die große Oper Cerro Rico” nach einem Libretto von Herbert Mackinger fertiggestellt. Obwohl es keine Volksmusik ist, spielt sie eine Hauptrolle in der Oper. Mikrotonale Gitarren sind gelegentlich im Orchester zu hören.
Die Pandemie hat die Produktion vorübergehend zum Stillstand gebracht, aber wir haben immer noch sehr gute Sponsoren. Dieses Projekt hat für mich hohe Priorität. Ich liebe die Oper am meisten und hoffe, dass sie immer Teil meiner Zukunft sein wird.
Als Komponist, Gitarrist, Improvisator, grafischer Künstler, Autor und künstlerischer Forscher plane ich weiterhin voranzuschreiten und zu genießen.

Vielen Dank für das Interview.

Didi Neidhart

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Links:
Internationale Gesellschaft für Ekmelische Musik
Agustín Castilla-Ávila
Agustín Castilla-Ávila (Youtube)
Agustín Castilla-Ávila (Doktorarbeit)