„In diesem Garten ist viel Platz für Musik des Mittelalters, der Renaissance und der Moderne – kein Platz demnach für Barock, Klassik und Romantik.“ So heißt es auf der Website des “Hortus Musicus Klagenfurt”, der 1972 als Chor gegründet wurde und seit 1990 als fünfstimmiges Solisten-Vokalensemble besteht: Christa Mäurer (Sopran), Waltraud Russegger (Alt), Michael Novak (Tenor), Günter Mattitsch (Bariton und Leitung) und Dietmar Pickl (Bass). Das Ensemble blickt auf eine bewegte und facettenreiche Geschichte mit über 350 Veranstaltungen zurück. Anfangs lag der Schwerpunkt auf der Musik der Renaissance, doch bald wandte man sich auch der Neuen Musik zu. Dies verlief nicht ohne Spannungen, wie Dietmar Pickl, der seit über 50 Jahren Mitglied dieses Klangkörpers ist, Philipp Tröstl erzählt.
50 Jahre sind eine lange Zeit, fast ein Menschenleben. Können Sie uns einen Einblick in die Anfänge dieses Ensembles geben?
Dietmar Pickl: Ich war Opernsänger in Deutschland und bin 1974 nach Kärnten zurückgekommen und über einen Freund, der im „Hortus Musicus“ gesungen hat, zu diesem Ensemble gestoßen. Gegründet wurde der „Hortus“ 1972 unter anderen von Günter Mattitsch (*1947, Sänger und Komponist), der seit damals bis zum heutigen Tag der musikalische Leiter ist.
Am Beginn standen Musik aus Renaissance und Frühbarock im Fokus. Wann hat sich das geändert?
Dietmar Pickl: Wegweisend war sicherlich die Gründung des Vereins Arcade 1982, der sich zum Ziel gesetzt hat, ausschließlich zeitgenössische Musik zu bringen. Die erste moderne Literatur, die wir gesungen haben, war die sogenannte „Volksoper“ von Dieter Kaufmann – eine Vertonung nach einem Theaterstück von Gert Jonke (“Die Hinterhältigkeit der Windmaschinen”), die bei den Wiener Festwochen 1984 uraufgeführt wurde. Wirklich eine großartige Produktion, die sogar einen kleinen Skandal ausgelöst hat: Zum Schluss sang Dieter Kaufmann als “Engel” eine Kantilene, während der ganze Chor über eine “Gangway” in einem überdimensionalen Arsch verschwand. Darüber hat sich ein Wiener Kritiker furchtbar aufgeregt – steht aber genauso im Text von Jonke.
Wie wirkte sich die Neuausrichtung auf das Ensemble aus?
Dietmar Pickl: Es hat sich bei gewissen Mitgliedern des Chors gezeigt, dass sie an dieser Art von Musik kein Interesse haben – wohl aus zwei Gründen: Erstens, weil sie ihnen schlicht nicht gefallen hat, zweitens weil sie auch musikalisch sehr fordernd war. Kaufmanns Musik etwa war sehr kompliziert, noch dazu ein abendfüllendes Werk mit großem Orchester und Bühnenbild und allem Drum und Dran. Die Musik, die man produziert, die man singt, die man übt, die muss man ja lieben. Wenn es an dieser Liebe fehlt, wenn’s dann auch noch schwierig ist, man hunderte Stunden proben muss und sich nur mehr dagegen sträubt, dann hat das natürlich überhaupt keinen Sinn. Deswegen haben wir beschlossen, ein Abschiedskonzert zu machen und ohne Krach und Zwiespalt auseinander zu gehen. Seit 1990 sind wir also – immerhin seit 35 Jahren – als Solisten-Ensemble tätig. Der „Hortus Musicus“ besteht aus 5 Leuten, die jetzt auch schon ziemlich lang dieselbe Truppe sind.
Heuer seit 30 Jahren…
Dietmar Pickl: Das ist richtig, ’95 sind die drei „Jungen“ dazugekommen. Die zwei Frauenstimmen und der Tenor sind mit den zwei “Alten” zu einem homogenen Ensemble geworden, vor allem stimmlich. Aber nicht nur: Zu einem solistischen Vokalensemble gehört ein einigermaßen gleich hoher Level an Musikalität, ohne den ein Erarbeiten vor allem von Neuer Musik nicht vorstellbar ist.
Die Alte Musik war ja auch irgendwann einmal „neu“, zumindest sofern sie eben innovativ war. Gesualdo, dem Sie unlängst ein Programm gewidmet haben, klingt heute noch schräg und war sicherlich auch für seine Zeitgenossen ungewöhnlich.
Dietmar Pickl: Monteverdi natürlich auch, wenn man sich ansieht, was die konservativen Kritiker damals über ihn sagten. Bei Gesualdo selbstverständlich diese Dissonanzen, die sich nicht in Konsonanzen auflösen, sondern wieder in die Dissonanz gehen. Im Unterschied zur heutigen Zeit hat man damals allerdings ausschließlich zeitgenössische Musik gemacht. Man denke an die Wiederentdeckung der Matthäuspassion durch Mendelssohn im 19. Jh.: Kein „Zeitgenosse“ hatte die vorher gehört.
Für mich ist es besonders wichtig, diesen Zug zur Neuen Musik immer beizubehalten, denn je mehr man einem Klang nach-hören kann, je öfter man neue Klänge hört, desto vertrauter werden sie. Nur – der Großteil des Publikums dreht leider die Ohren weg, sobald er etwas hört, was nicht vertraut ist.
Wie hat denn das Publikum auf die Öffnung zur zeitgenössischen Musik reagiert? Waren die Leute damals offener, vielleicht auch weil die Reizüberflutung noch nicht so stark war?
Dietmar Pickl: Man kann sagen, dass zu Programmen mit traditioneller Musik immer noch mehr Besucher kommen als zu Konzerten mit Neuer Musik. Dass aufgrund der Vertrautheit mit unserem Ensemble auch immer mehr Leute in die Neue Musik reinhören und auch zu den Konzerten kommen, will ich gar nicht in Abrede stellen. Ob sie früher offener waren, kann ich nicht genau sagen. Das Problem ist eher ein anderes: Unser Publikum ist alt, und altert mit uns weiter. Jugendliche fehlen uns komplett. Die gehen weder in traditionelle noch in Neue-Musik-Konzerte. Der Großteil ist sozusagen in Pop- und Volksmusik zuhause und fühlt sich dort geborgen.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Dietmar Pickl: Für einen Großteil des Publikums liegt die Befriedigung im Wiedererkennen von Bekanntem. Das hat ja John Cage gemeint. Das Gegenteil wäre: neugierig zu sein, was denn da jetzt kommen könnte. Aber die Leute haben meines Erachtens zu wenig Geduld und daran sind natürlich auch die Medien schuld: Im Großteil der Musik regiert C-Dur, platt ausgedrückt.
Die Liste der KomponistInnen, die für den “Hortus” geschrieben haben, ist lang. Machen Sie bei Aufträgen gewisse Vorgaben?
Dietmar Pickl: Im Unterschied zur traditionellen Musik gibt es für fünf Sänger kaum zeitgenössische Literatur. Also haben wir unsere Kontakte genützt und Komponisten und Komponistinnen gebeten, für uns zu schreiben. Meist geben wir eine Besetzung vor – es muss ja mit bescheidenen Mitteln realisierbar sein: ein Saxophon, ein Schlagzeug, vielleicht ein Streichquartett. Nicht dass jemand was für 5 Sänger und 13 Oboen schreibt!
So sind viele Werke entstanden, oft zu einem Sonett oder Gedicht als Vorgabe, zum Teil auch nur zu einem Komponisten, z. B. Gesualdo. Die Künstler sollten sich am Duktus, an der Sprache, am Ausdruck orientieren, und in einer modernen Transformation was schreiben. Da sind sehr schöne Sachen herausgekommen – ganz unterschiedlich, bei gleicher Aufgabenstellung.
Das Szenische oder eine Textebene erleichtert ja mitunter den Zugang zur neuen Musik, wenn es gut gemacht ist. Manchmal rezitieren Sie auch Texte zwischen den Stücken…
Dietmar Pickl: Ich habe zum Beispiel Texte von Jani Oswald – ein zweisprachiger Kärntner Schriftsteller – zwischen Gesualdo gelesen. Seine Texte, die sich auf Gesualdo beziehen, sind kompliziert, haben eine sehr persönliche metrische Struktur und lassen den Meister in neuer Sicht- und Hörweise erstehen. Auch von Christine Lavant haben wir Texte genommen, worauf Leute dann Kompositionen geschrieben haben, z. B. Burkhard Stangl, Gunter Schneider, Alexander Wagendristel u. v. a.
„Er hat die ganze Nacht komponiert, stehend, und Früh am morgen war das Stück fertig.”
Prägend war wohl die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Gerhard Lampersberg (1928-2002). Maja und Gerhard Lampersberg haben in den 50er und 60er Jahren am legendären “Tonhof” in Maria Saal viele Künstler gefördert – Thomas Bernhard, Peter Turrini…
Dietmar Pickl: Turrini wäre ohne den “Tonhof” nicht der, der er ist. Das sagt er selbst. Er wurde als Kind gehänselt, weil er nicht so war, wie die anderen und hat sehr unter der Ausgrenzung gelitten und er beschreibt sehr schön, wie er von den Lampersbergs aufgenommen wurde, ihnen seine ersten Dinge gezeigt hat, und wie die akzeptiert wurden. – Ich habe Gerhard Lampersberg 1985 kennengelernt, in einer Zeit, wo er noch nicht so verfallen war. Er war ja schwerer Alkoholiker – meist kam er abends betrunken nachhause, begab sich dann ans Stehpult und komponierte die ganze Nacht durch. In der Früh, am Morgen, hat er sich hingelegt – da war er dann auch nüchtern. Dabei hatte er eine unglaublich saubere, schöne, korrekte Schrift.
Sie sagen, Lampersberg war ein Meister der durchsichtigen Struktur, “dicke” Instrumentierung war ihm ein Gräuel…
Dietmar Pickl: Zu seinem 70. Geburtstag (5. Juli 1998) haben wir im Dom von Maria Saal mit dem „Hortus Musicus“ ein Konzert für ihn gemacht, ausschließlich Vokalmusik, die er für uns geschrieben hatte. Zum Teil waren das unglaublich beeindruckende Sachen, wenngleich sie anfangs auch auf uns ein bisschen verstörend gewirkt haben: Wenig Noten, viele Pausen – man ist erst mit der Zeit draufgekommen, dass die genauso lang sein müssen, wie sie eben sind. Er war einer, der im Sparsamen seine Wirkung gezeigt hat. – Zu diesem Anlass entstand übrigens auch sein Opus ultimum. Er musste da schon häufig ins Krankenhaus und konnte kaum mehr schreiben. Ich schlug ihm vor, etwas mit dem “Birthdaybook” von Gertrude Stein (in: Alphabets and Birthdays, Anm.) zu machen – 365 Nonsense-Sprüche für jeden Tag des Jahres: „Wie wär’s, wir nehmen immer den ersten, also 1st of January, 1st of February, usw.“. Und da er 70 wurde, sagte ich: „Schreib dir doch ein eigenes Ständchen. July the 5th muss es heißen”, weil er am 5. Juli Geburtstag hatte. Aber er konnte nicht. Ich ließ aber nicht locker, habe ihm augenzwinkernd gedroht, dass ich sonst das Stück schreibe, bis er es mir schließlich vom Krankenbett aus diktierte – Note für Note. Als es dann fertig war, sah ich, dass es nur aus C’s bestand! – Selbst in dieser Reduktion auf einen Ton oder gerade dadurch erwies sich das kurze Stück als sehr wirkungsvoll. Ich habe es mir mit seiner Unterschrift autorisieren lassen.
Abschließend zurück zur Gegenwart – wie sieht es mit den Plänen des “Hortus Musicus” für 2025 aus?
Dietmar Pickl: Es gibt auch heuer zwei Geburtstage, die wir musikalisch begehen: 500 Jahre Palestrina (1525-1594), ein Konzert ausschließlich mit Musik von Palestrina (3. April, Klagenfurt, Markuskirche; 4. April, Villach, Pfarrkirche St. Martin). Übrigens das erste Mal seit 50 Jahren, dass ein Förderungsansuchen des “Hortus Musicus” vom Bund abgelehnt wurde, aber das nur nebenbei. Das zweite Konzert wird eine Gegenüberstellung “Alte Musik – Neue Musik” zum Inhalt haben. Das dritte Programm wird sich um die englische Renaissance drehen, und das letzte ist wieder einem runden Geburtstag geschuldet: Eine Hommage an den Komponisten Wilfried Satke, der viel für den “Hortus Musicus” geschrieben hat. Er wird heuer 70.
Wir danken sehr herzlich für das Gespräch und wünschen, dass die Blumen des “Hortus Musicus” noch viele Jahre blühen.
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