Die Kraft der Polyphonie: Chanda Rule

Chanda Bernroider, besser bekannt als Chanda Rule, ist Sängerin, Autorin und Podcasterin. Einen großen Teil ihrer musikalischen Karriere widmete sie ihrem Erbe – der Chormusik. Heute teilt sie dieses Geschenk mit anderen und findet die Kraft der eigenen Stimme und des Kollektivs in der Stadt, die sie seit nunmehr sieben Jahren ihr Zuhause nennt: Wien. „Ich wollte schon so lange Sängerin werden“

Von Tonica Hunter

Im Laufe ihrer Karriere wurde Chanda Rule immer wieder gefragt: „Sag mal, singst du zufällig?“ Je nachdem, wer und in welchem Kontext diese Frage stellt, ist sie für viele Schwarze Menschen eine unmittelbare Warnung. Die Vorverurteilung Schwarzer Menschen als künstlerisches “Naturtalent” ist weit verbreitet – nicht zuletzt in Europa, wo die Exotisierung von Afroamerikaner:innen (kombiniert mit dem leichtfertigen Gebrauch von afroamerikanischem Slang wie “y’all”, “Ghetto”, “Sis”, “yaaaas” “Homegirl” und Gesten wie Fingerschnipsen und Nackenbewegungen) Schwarzsein mit einer projizierten Vorstellung von Exzellenz in der Unterhaltungsindustrie gleichsetzt. Bei Chanda Rule ist das intuitiver und weniger aufgeladen: Die Frau sieht aus wie ein Star. Ihre Präsenz füllt den Raum, und selbst wenn sie spricht, hat man das Gefühl, ihre Stimme gehöre auf eine Bühne.

Auf die Frage, ob sie singe, folgten oft weitere Fragen: „Kannst du…“ oder „Würdest du vielleicht…“. – Fragen, die unglaubliche Möglichkeiten eröffneten, die Chandas eigenen Träumen entsprachen. Immer wieder hat jemand in ihr ein Talent geahnt, das entwickelt werden könnte… und im Laufe ihrer Karriere hat sie diese Hilfe auch in Form von Gemeindearbeit weitergegeben: Sie hilft anderen Menschen, ihre eigene Stimme zu finden.

Chanda Rule wurde in Chicago (USA) geboren und ab 21 von New York City geprägt – aber sie musste zuerst zu dem Star werden, den Leute in ihr gesehen haben. Sie wuchs im Kirchenchor auf und lernte die Musik nach Gehör, sogar die Stimmen der Begleitmusiker:innen lernte sie auswendig, um das Gesamtbild besser zu verstehen – ein ganzheitlicher Zugang zum Chor und das Zeichen einer Musikerin, die ihre Rolle als Teil von was Größerem versteht. Aber es war nicht immer klar, dass sie professionelle Musikerin wird: Heute spricht sie offen über ihre damaligen Zweifel, ob sie überhaupt gut genug sei, Musikerin zu werden – und ihr Weg führte vorerst woanders hin.

Chanda studierte Publizistik an der renommierten Howard University in Washington, D.C., die zur Riege der „historisch schwarzen Hochschulen und Universitäten“ (HBCU) gehört. Nach dem Studium fand sie eine Anstellung als Publizistin bei einer globalen Marketingkonzern, danach verbrachte sie einige Jahre bei einem Verlag. Sie war fest entschlossen, in die Großstadt zu ziehen und war bereit, dafür alles zu tun: Im Jahre 1996 sollte sie bei einer Flugreise nur einen kurzen Aufenthalt in NYC haben – aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, in New York zu bleiben. Somit packte sie dementsprechend ihre Koffer und stieg aus dem Flugzeug aus. Natürlich ohne zu ahnen, dass der Schritt sie auf fast schicksalhafte Weise zu ihrer Musikliebe zurückführen würde…

„Eines Tages habe ich mir einfach einen Tag von der Arbeit freigenommen…“

Bild Chanda Rule
Chanda Rule (c) Marlene Fröhlich

Irgendwann ist Chanda auf einer Parkbank gesessen und hat in ihrem Tagebuch darübergeschrieben, was sie als Nächstes für ihr Leben wollte. Gegenüber von ihr war ein Theater – und sie ist ohne Weiteres hineingegangen, hat vorgesungen…und der Rest ist kaum zu glauben: Sie verabschiedete sich von der Unternehmenswelt fast so schnell wie sie hineingekommen war, einige Jahre später ist sie schon auf großen Bühnen in den USA und Europe gestanden – u.a. hat sie beim New Yorker „Shakespeare in the Park“-Festival und dem Musical „Hair“ mitgewirkt. Nach diesem blitzartigen Einstieg ins Musikleben setzte sich ihre Karriere rasant fort, u.a. als Opening Act für India.Arie oder Kamasi Washington.

Nach einigen Jahren des Performer-Lebens haben sich aber Chanda Rules Perspektiven und Prioritäten geändert – mit gutem Grund: „Mein Sohn war damals zwei Jahre alt und dieses New Yorker Künstlerleben war für eine Familie schwierig,“ erinnert sie sich. „So haben wir gesagt, wir gehen drei Jahre nach Wien – und jetzt sind es schon sieben.“ Ihr Blick liegt irgendwo zwischen Reue und Lächeln. Nichtsdestotrotz bedeutete die Entscheidung keinesfalls einen Schritt weg von der Musik: Chanda fand neue Energie und einen neuen Fokus in Österreich, die die Verbindung zu ihren musikalischen Wurzeln aufrechterhielten: „Ich habe Chormusik im Herzen. Sie lässt mich über Erneuerung und Gemeinschaft nachdenken, die meisten Lieder haben damit zu tun – was passiert, wenn wir mit anderen Menschen zusammen singen.“ Es war dringend notwendig für sie, neue Gemeinschaften und Solidarität zu finden: Im 2016, wie sie nach Europa kam, war der Rassismus um nichts weniger verbreitet und unablässig wie jetzt. Chormusik bietet ihr einen Anker und eine Basis für Community-Building.

Somit, nach ihrer Kindheit im Chor, sucht die heute erwachsene Chanda solidarische Räume in der Musik. Dieser instinktive, menschenorienterte Zugang zur Musik ist eine Grundeigenschaft ihrer Arbeit. Sie bezeichnet die Musik und das Singen als Ritual; auf die Frage, was Ritual für sie sei, fasst sie es elegant zusammen: „Ritual ist eine vorbestimmte, sich wiederholende Art, miteinander zu sein. Es liegt allem was ich mache zugrunde. Ich interagiere immer noch so.“

Die Erlaubnis loszulassen

Seit Chanda Rule in Österreich lebt, zählen u.a. die orgelbasierte „Sweet Emma Band“ und das Duo „Revival“ zu ihren Hauptprojekten. Beide Formationen bestehen aus einheimischen und internationalen Künstler:innen und fungieren als Raum für Chandas genreübergreifende Erforschung der Musik – von Field Recordings („die schrulligere Seite meines Musikgeschmacks“) bis hin zu Jazz und Soul. Abseits der Bühne betreibt Chanda ihre tiefgründige Community-Arbeit in Form von Empowerment und Gesangsworkshops, wo – wie auch bei ihren Konzerten – sie Menschen dabei unterstützt, „Erlaubnis“ zu erlangen: Ihr Begriff für das Loslassen – den Körper sich bewegen, den Geist öffnen und das Herz führen zu lassen. „Wir brauchen mehr Erlaubnis,“ konstatiert sie. „Dieses Zeug“ – damit meint sie die Musik – „setzt uns buchstäblich in Bewegung, es verändert uns. Wir müssen darauf reagieren.“

In ihrer Musik bemüht sich Chanda Rule darum, das österreichischen Publikum zu berühren – und sich berühren zu lassen. Ihr Sound und ihre Geschichte sind tief mit den Geschichten ihrer Vorfahren verflocht: Geschichten der Gefangenschaft und der Befreiung, Blues und Gospel, Soul und Jazz. Das ist die Kraft, die ihre Lieder durchdringt.

Tonica Hunter (aus dem Englischen übersetzt von Phil Yaeger)

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