„Die Idee war, ein Neujahrskonzert zu gestalten, wie WIR es uns wünschen würden.“ – Verena Giesinger (Schmusechor, femchor)

Ein Neujahrskonzert der besonderen Art steht bevor, wenn der SCHMUSECHOR unter der Leitung von Dirigentin VERENA GIESINGER die Bühne des Wiener WUK betritt. In einem exklusiven Interview mit Itta Francesca Ivellio-Vellin gibt Verena einen Einblick in die Hintergründe und Emotionen, die mit den zweimal innerhalb von Sekunden ausverkauften Konzerten verbunden sind. Dabei spricht sie nicht nur über die Glücksmomente des Chors, sondern auch über die tiefgehenden gesellschaftlichen Themen, die das Neujahrskonzert des Schmusechors in den Fokus rückt. Verena teilt ihre Gedanken zu Themen wie Gender-Bias in der Musikbranche, der Geschichte des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker und dem Streben nach einer diversen und inklusiven Bühnenkultur. Das Schmusechor-Neujahrskonzert verspricht nicht nur musikalische Genüsse, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen, verpackt in eine bunte Mischung aus Popmusik, Tanz und Performancekunst.

Wie war das Gefühl, innerhalb von Sekunden ausverkauft zu sein? Zweimal? Hast du es überhaupt bereits realisiert?

Verena Giesinger: Das ist eine echt gute Frage, denn das Thema beschäftigt mich sehr momentan. Am Tag vor dem Vorverkaufsstart haben wir im Chor tatsächlich Wetten abgeschlossen, ob das Konzert ausverkauft sein wird und wenn ja, wie lange es dauert. Meine Prognose war, dass es mindestens bis 17 Uhr an diesem Tag dauern wird. Deswegen bin ich ganz gemütlich in meinem Pyjama mit Kaffee vorm Computer gesessen und habe sogar fast zu spät geschaut, wie es eigentlich aussieht. Der Schmusechor hat kurz nach 10 Uhr dann in unseren Chats begonnen zu schreiben, dass auf der Website steht, dass das Konzert ausverkauft wäre. Ich dachte – ungelogen – dass es sich um einen technischen Fehler handelt und habe das WUK angerufen, ob die vielleicht das Problem lösen könnten. Die Person am Telefon hat mir dann aber direkt bestätigt: Ja, das Konzert ist ausverkauft und es hat nur 40 Sekunden gedauert.

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„Der Schmusechor hatte dieses Jahr das Glück, in Wien nur in ausverkauften Häusern spielen zu dürfen.“

Wahnsinn! Gratuliere!

Verena Giesinger: Danke. Der Schmusechor hatte dieses Jahr das Glück, in Wien nur in ausverkauften Häusern spielen zu dürfen, aber das ist uns einfach noch nie passiert. Mittlerweile stelle ich mir echt die Frage, wie Künstler:innen mit so einer Situation umgehen und habe Musiker:innen das auch tatsächlich gefragt. Diese Wertschätzung ist echt überwältigend. Natürlich ist es nicht das einzige Ziel von Musik, in ausverkauften Häusern zu spielen, aber gerade bei den Themen, die der Schmusechor immer wieder auf die Bühne bringt, ist es wunderschön, zu wissen, dass wir gesehen, gehört und supportet werden.

Apropos Support: Wie kam die Preisstaffelung der Tickets zustande? Es gab ja vier verschiedene Ticketpreise, inklusive eines Solidarity-Tickets.

Verena Giesinger: Das ist das System des WUK. Damit soll die Niederschwelligkeit zu den Bühnen hin gegeben sein – jede:r kann selber entscheiden, wie viel das Ticket kosten soll.

Wie seid ihr und das WUK zusammengekommen?

Verena Giesinger: Das ist eine tolle Geschichte! Andreas Fleck, der der Kurator des WUK ist und auch Leiter der Fearleaders ist und bei dem Theaterkollektiv Nesterval mitarbeitet, war im Februar bei einem Konzert des Schmusechors im brut. Anfang des Jahres habe ich mich eben sehr mit der Geschichte des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker auseinandergesetzt, unter anderem wegen der problematischen Aussagen von Franz Welser-Möst, der das Neujahrskonzert 2023 zum dritten Mal dirigiert hat. Bei einer Pressekonferenz meinte er auf die Frage, warum noch nie eine Frau das Neujahrskonzert dirigiert hat, dass das keine politische Frage sei, sondern eine künstlerische und, dass das Neujahrskonzert so wahnsinnig komplex zu dirigieren sei. Mit diesem Interview hat mein Jahr 2023 begonnen und ich war sofort auf 180. Ich bin jetzt seit neun Jahren Dirigentin und ich habe mich jahrelang nicht getraut, mich auch als Dirigentin zu bezeichnen. Das liegt einerseits an genau solchen Aussagen und andererseits an der fehlenden Sichtbarkeit von FLINTA*-Personen in diesem Beruf und hier spreche ich noch nicht mal von nicht-weißen Dirigent:innen. Die fehlende Sichtbarkeit von BIPOC-Personen auf solchen Bühnen öffnet noch ganz neue Dimensionen.  

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„Ich bin jetzt seit neun Jahren Dirigentin und ich habe mich jahrelang nicht getraut, mich auch als Dirigentin zu bezeichnen.“

Ich glaube nicht, dass ich noch ein Neujahrskonzert erleben werde, das von einer nicht-weißen Person dirigiert wird.

Verena Giesinger: Ist das nicht traurig? Dieses Thema habe ich bei dem Schmusechor-Konzert damals im Februar während meiner Moderation aufgegriffen, weil ich da immer über Dinge spreche, die mich in dem Moment beschäftigen. Spaßhalber habe ich da auch ganz spontan gemeint, wie cool es doch wäre, wenn der Schmusechor ein Neujahrskonzert machen würde. Andi Fleck ist anschließend zu mir gekommen und meinte, falls das mein Ernst war, stellt er uns gerne das WUK zur Verfügung. So ist das zustande gekommen.

Großartig. In meiner Familie ist es tatsächlich Tradition, das Neujahrskonzert anzusehen. Seit ich ein Kind bin finde ich das Ballett immer ganz besonders toll, auch wenn das ja auch nicht unproblematisch ist.

Verena Giesinger: Genau! Das Neujahrskonzert wird ja auch in so viele Länder übertragen und stellt ein richtiges Aushängeschild für Österreich dar. Und deshalb ist es so tragisch, dass es Österreich in Wahrheit nur sehr schlecht repräsentiert. Bei den Wiener Philharmonikern wurde 1997 die erste Frau, eine Harfenistin zugelassen, und bis heute ist der nicht-männliche Anteil verschwindend gering.

Es ist auch unüberraschend, dass die erste Frau gerade Harfe gespielt hat, da Instrumente auch nicht vor dem Gender-Bias gefeit sind.

Bild Verena Giesinger
Verena Giesinger (c) Apollonia Theresa Bitzan

Verena Giesinger: Absolut. Das ist auch ein Thema, das uns beschäftigt: Schlagzeuger:innen zu finden ist wesentlich schwieriger als Schlagzeuger. Oder E-Bassist:innen. Deshalb bin ich auch so dankbar für die Arbeit, die Bands wie My Ugly Clementine verrichten, die diese Männer-dominierten Bereiche aufbrechen. Es hört ja bei den Instrumenten nicht auf, es betrifft ja auch ganze Musikgenres. Bei der Klassik angefangen, über Rock, etc. Unlängst habe ich auch einen Bericht über den Begriff „female fronted“ gelesen, der auch problematisch ist. Diese Bands bestehen dann aus Männern, die meist an den Instrumenten sind und einer weiblichen Sängerin – somit werden sie als Band mit Frauenanteil gezählt, aber das impliziert immer wieder, dass man FLINTA*s nichts anderes zutraut, als zu singen. Es ist wichtig, dass FLINTA*s auf allen Positionen vertreten sind.

So können sich Bands bisschen durch die Quote „schummeln“…

Verena Giesinger: …ohne, dass eine strukturelle Veränderung geschieht. Da werden FLINTA*s dann zu Aushängeschildern, aber nicht mehr.

„Es ist wichtig, dass FLINTA*s auf allen Positionen vertreten sind.“

Umso wichtiger, dass Events und Aktionen auf diese Problematiken aufmerksam machen – wie ihr es mit dem Schmusechor-Neujahrskonzert macht. Wie laufen die Planung und Programmierung?

Verena Giesinger: In Wahrheit haben wir Stoff und Ideen für viele Neujahrskonzerte. Es hört nie auf. Es ist unser Ziel, viele Referenzen zu den Themen herzustellen, die das Neujahrskonzert im Wiener Musikverein immer wieder aufgreift. Zum Glück gibt es da ja genug Material. Angefangen mit dem pompösen und überhaupt nicht nachhaltigen Blumenschmuck, der jedes Jahr von den Kameras in Szene gesetzt wird. Je tiefer man recherchiert, desto düsterer wird es auch in der Geschichte dieses Konzerts: Das Neujahrskonzert hat nämlich als Silvesterkonzert 1939 begonnen und war eine einzige Propagandaveranstaltung für Hitler, für Goebbels. Es gibt eine gigantische Nazi-Vergangenheit, über die geschwiegen wird. Man findet einen kleinen Teil auf der Website dazu, aber es wird ansonsten überhaupt nicht erwähnt. Es wird auch nicht erwähnt, dass der Radetzkymarsch ein Propagandamarsch ist.

Und der wird bekanntlich jedes Jahr am Schluss als Zugabe gespielt.

Verena Giesinger: Exakt. Nächstes Thema sind die Videos, die immer von Österreich gezeigt werden, wo auch gern das Staatsballett durchtanzt. Das ist ein Österreich, das nur die wenigsten Menschen erleben. Schon gar nicht, wenn man in Wien wohnt. Ich bin selten in Sissis ehemaligem Schlafzimmer oder im Belvedere-Garten und lese ein Buch. Da wäre es höchste Eisenbahn, das zu entstauben und ein Wien zu zeigen, das tatsächlich gelebt wird. Das ist ja ein Wien, das ganz toll ist und total bunt und vielfältig! Stattdessen wird seit nun 84 Jahren immer wieder dieselbe Geschichte erzählt, die so diskriminierend und ausschließend ist.

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„Das ist ja ein Wien, das ganz toll ist und total bunt und vielfältig!“

Stichwort Staatsballett.

Verena Giesinger: Ja, Staatsballett und Körper, Kostüme. Die Kostümvorgaben im Klassik-Bereich sind noch so viel krasser als überall sonst. Frauen dürfen nur Kleidung anziehen, die über den Ellbogen geht. Wie gesagt, je tiefer man geht, desto mehr Themen eröffnen sich, über die diskutiert werden muss. Das sind oft Themen, von denen wir in unseren Bubbles glauben, sie längst hinter uns gelassen zu haben, aber das ist leider nicht der Fall.

Das Thema zieht sich auch weiter bis zu den gespielten Werken in der klassischen Musik. Es werden ja nur sehr wenige Stücke von FLINTA*-Komponist:innen gespielt.

Verena Giesinger: Es ist ein Schneeball an jahrhundertelanger Unterdrückung von FLINTA*-Personen. Natürlich gab es quasi nur männliche Komponisten, denn diese Arbeit war Frauen meist verwehrt. Das hört nie auf. Und deshalb muss man es einfach verändern. Der Schmusechor hat sich natürlich nicht zum Ziel gesetzt, die Klassik zu verändern, aber es ist wahnsinnig repräsentativ für die generelle Situation in der Musikbranche.

„Es ist ein Schneeball an jahrhundertelanger Unterdrückung von FLINTA*-Personen.“

Wie sehr werdet ihr auf klassische Musik eingehen? Der Schmusechor ist ja ein Pop-Chor.

Verena Giesinger: Wir werden auch ein popkulturelles Konzert machen. Aber es wird Referenzen auf Themen der Klassik geben, die uns beschäftigen – wie zum Beispiel der Donauwalzer. Die Idee war, ein Neujahrskonzert zu gestalten, wie WIR es uns wünschen würden. Und wie wir Wien gerne repräsentiert sehen würden. Deshalb haben wir uns auch entschieden, unsere Bühne mit mehreren Künstler:innen zu teilen.

Darfst du Namen sagen oder ist alles top-secret?

Verena Giesinger: Ein bisschen was darf ich verraten. Wir werden viel mit einer Choreografin, Katharina Senk, zusammenarbeiten, also wird viel getanzt werden. Katharina Senk hat ein großartiges Tanz-Ensemble namens HEXEN, das auch vertreten sein wird. Da wird sich unter anderem mit dem Thema Hebefiguren auseinandergesetzt. Dann haben wir die Performancekünstlerin Königin der Macht eingeladen, die wunderschöne Messages in ihre Kunst einwebt. Drag-Wrestling wird es auch geben. Und wir arbeiten auch mit vier Streicher:innen zusammen.

Was für ein Programm!

Bild Schmusechor
Schmusechor (c) Christine Pichler

Verena Giesinger: Es stellt dar, wie wir uns Bühnen in Österreich wünschen würden: Voller Vielfalt, weniger cis-männliche Line-Ups. Ausdrucksstark, politisch. Queer-feministisch.

Wird es Erklärungen geben oder lässt ihr die Kunst einfach wirken?

Verena Giesinger: Ich bin generell der Meinung, dass Musik, beziehungsweise Kunst, die verbale Sprache ersetzen kann, darf und sollte, deshalb werden wir viel einfach für sich sprechen lassen und den zusehenden Menschen Raum für eigene Interpretationen geben. Aber ich werde mit meiner Moderation schon auch durch den Abend führen, also wird es bestimmt die ein oder andere Vertiefung durch mich geben. Unser Publikum ist erfahrungsgemäß auch sehr altersdivers und ich glaube, dass wir mit dem Neujahrskonzert die ein oder andere Person im Publikum aus der Komfortzone herausholen können und mit neuen Gedanken nachhause gehen lassen.

„Ich hoffe, dass es für viele ein freudiges Ereignis und ein schöner Start ins neue Jahr sein wird.“

Ich kann es kaum erwarten, mein Jahr 2024 mit dem Neujahrskonzert des Schmusechors einzuleiten, vor allem nachdem die letzten Jahre doch insgesamt nicht so easy waren.

Verena Giesinger: Ich hoffe, dass es für viele ein freudiges Ereignis und ein schöner Start ins neue Jahr sein wird. Man kann natürlich immer mit einer Kampfansage an gesellschaftspolitische Probleme herangehen – und muss man oft genug. Aber da es der Start eines neuen Jahres ist und die letzten Jahre für viele Menschen sehr schwierig waren, möchten wir an diesen Abenden den Blick in eine Zukunftsutopie richten und uns gemeinsam erträumen, wie eine Welt aussehen könnte, wenn es den feministischen Kampf gar nicht mehr brauchen würde. Gerade jetzt, mit den Kriegen auf der Welt, ist es so wichtig, dass wir noch irgendwie hoffnungsvoll bleiben können, ansonsten wird es noch viel schwieriger, die nächsten Jahre zu überstehen.

Vielen Dank für das wunderschöne Gespräch.

Itta Francesca Ivellio-Vellin

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