Die Grenzen zwischen dem Ich und den Anderen – Interview mit Judith Unterpertinger

LYSE, so heißt das Auftragswerk der österreichischen Komponistin Judith Unterpertinger, das am 05. Mai auf dem FESTIVAL 4020 in Linz seine Uraufführung erfahren wird. Es referiert frei auf das diesjährige Festivalthema – Alfred Kubins phantastischem Roman „Die andere Seite“ und widmet sich dabei der Gegenüberstellung alter westlicher und iranischer Musik, klassischer Komposition und freier Improvisation. Vor welche Herausforderung sie dabei gestellt war, erläutert die Komponistin in einem Interview mit Shilla Strelka.

Sie arbeiten gerade an LYSE, einer Auftragsarbeit für das Festival 4020 in Linz. Wie kam es dazu?

Judith Unterpertinger: Das Festival 4020 ist vorletztes Jahr an mich herangetreten und hat mich gefragt, ob ich ein Stück schreiben möchte. Überthema des diesjährigen Festivals ist Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“. In einem der Vorgespräche habe ich erfahren, dass auch einige iranische Musiker eingeladen werden. Da hatte ich die Idee, etwas für iranische Instrumente zu schreiben. Peter Leisch und Marie-Therese Rudolph, die FestivalleiterInnen, hielten das für eine schöne Idee und so kam es, dass ich jetzt eine Besetzung mit westlichen und iranischen Instrumenten habe. Um mich mit der iranischen Musik besser auseinandersetzen zu können, habe ich letzten Sommer eine vierwöchige Recherchereise in den Iran unternommen. Ich habe etliche MusikerInnen und KomponistInnen kennengelernt und viel über die Instrumente und traditionelle iranische Musik erfahren. Im Herbst 2016 hat dann die eigentliche Arbeit an „LYSE“ begonnen.

Bild von Alfred Kubin
Alfred Kubin © Alfred Kubin_Bibliothek des Oö. Landesmuseums

Welche Instrumente haben Sie in ihr Stück integriert?

Judith Unterpertinger: Ich habe mich dazu entschieden eine Kamantsche einzusetzen, dieser gegenüber steht eine Viola da Gamba. Den Instrumenten Tombak und Daf steht ein Schlagzeug gegenüber. Weiters kommen ein Countertenor sowie Pianoguts zum Einsatz. Zudem habe ich während meiner Iran-Reise Aufnahmen u.a. in Städten, in der Salzwüste, aber auch im Elburs-Gebirge gemacht, die in Zuspielungen Verwendung finden.

Ein wichtiger Aspekt der Komposition ist der Bühnenaufbau. Die MusikerInnen werden in der Mitte des Saals sitzen und teilen damit den Raum und auch das Publikum in zwei Hälften. Diese sitzen sich gegenüber und sehen sich an. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen geht es in der Komposition auch um Kubins „Die andere Seite“. Ich finde es spannend, die zwei Seiten aus dem Roman in den Aufführungsort miteinfließen zu lassen. Andererseits ergeben sich aber auch interessante akustische Möglichkeiten. Die MusikerInnen werden von vier Lautsprechern eingefasst, die frontal das Publikum beschallen. Zusätzlich kommt eine Vierkanal-Anlage zum Einsatz, die in den Eckpunkten des Raumes platziert ist, aus der die Zuspielungen kommen. Das heißt, das Publikum wird rundum beschallt. Dadurch kann ich verschiedene Stimmungen kreieren.

Werden die Zuspielungen die ganze Zeit zu hören sein oder setzen Sie diese dramaturgisch ein?

Judith Unterpertinger: Die Zuspielungen werden dramaturgisch eingesetzt. Es gibt für jeden der vier Teile der Komposition ein unterschiedliches Konzept. Je nachdem, von welchem Lautsprecher sie kommen, kann ich Bewegung im Raum kreieren. Das finde ich interessant.

Die Grenzen zwischen dem Ich und den Anderen

Wie ist das Stück strukturiert?

Judith Unterpertinger: Die Komposition gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil geht es um den Identitätsbegriff. Wo sind diese Grenzen zwischen dem Ich und den Anderen? Der zweite Teil behandelt die Möglichkeiten der Utopie. Ich habe dazu einiges über die Hintergründe der islamischen Revolution von 1979 nachgelesen. Ich wollte die Aufbruchsstimmung begreifen; den Versuch, aus einem Herrschaftssystem auszubrechen und etwas Neues, Freies zu schaffen. Das ist auch die erste konkrete Parallele zu Kubins Buch, in dem der Ich-Erzähler aufbricht, um in ein verheißungsvolles Traumland zu reisen und alles hinter sich lässt.

Im dritten Teil geht es um eine Gesellschaftsordnung mit dystopischen Zügen. Da gibt es eine kleine Gruppe oder eine Einzelperson, die über allem steht. Es stellt sich die Frage, was passiert, wenn Repressalien, soziale Kontrolle und institutionalisierte Gewalt um sich greifen. Im vierten Teil schließe ich den Bogen zum Individuum wieder und frage, welche Konsequenzen das für die einzelnen Personen haben kann: möglicherweise Vereinzelung, Isolation, Entfremdung. Magdalenas Text ist jedenfalls ein sehr pessimistischer Text.

Das Libretto stammt von Magdalena Knapp-Menzel, mit der Sie schon öfters kollaboriert haben. Was zeichnet diese Zusammenarbeit aus?

Judith Unterpertinger: Die beiden letzten Projekte, die wir gemeinsam realisiert haben, waren die Kammeroper „JUDITH“ sowie die Tanzoper „JUDITH | Schnitt_Blende“. Auch davor haben wir schon für Performance-Projekte zusammengearbeitet. Ich finde ihre Sprache unglaublich spannend, wenngleich schwer zu vertonen, da Magdalena gern viele konsonantenlastige Worte verwendet. Diese sind schwerer zu singen, deshalb arbeite ich auch mit gesprochenen Parts. Es hat jedenfalls etwas Herausforderndes.

Die Texte entstehen parallel zur Musik. Magdalena liefert mir erste Entwürfe, ich beginne mit der kompositorischen Arbeit und entscheide im Laufe des Prozesses, in welche Richtung es weitergehen soll. Es ist ein sehr organisches, dialogisches Arbeiten und dadurch arbeitsintensiver, als einen fertigen Text zu bekommen. Aber es ist auch interessanter.

Der Titel „LYSE“ ist ja der Biologie entlehnt und bedeutet Zellauflösung. Was hat es damit auf sich?

Judith Unterpertinger: Das Wort „Lyse“ kommt mehrmals in Magdalenas Texten vor. Es beschreibt den Zerfall einer Zelle durch die Schädigung der Zellmembran und steht für mich symbolisch für utopische Gesellschaftsformen, die zerbrechen und kann auch für scheiternde Individuen einstehen. Ich finde das als Titel sehr passend, auch weil er sehr kurz und prägnant ist.

Über Parallelen europäischer Alter Musik und traditioneller iranischer Musik

Die Entscheidung, dass Sie einen Countertenor als Träger dieses Texts heranziehen, hat sicher auch einen Grund.

Judith Unterpertinger: Ich finde die Stimmlage des Countertenors unglaublich spannend, auch, weil sie ein wenig das Dazwischen von typisch männlicher und typisch weiblicher Stimme markiert. Aber auch wegen der Verknüpfung mit Viola da Gamba habe ich Countertenor gewählt. Es ist spannend, die Tradition der sogenannten Alten Musik als Teil der europäischen Musik der iranischen Musik gegenüberzustellen. Das finde ich auch insofern treffend, weil in der alten Musik sehr viel improvisiert wird. Die traditionelle iranische Musik baut fast zur Gänze auf Improvisation auf. Da habe ich versucht, Verknüpfungspunkte zu finden. Darin sehe ich viele Parallelen.

Wie war die Erfahrung für iranische Instrumente zu schreiben? Sie komponieren ja schon, oder basieren diese Stimmen dann völlig auf Improvisation?

Judith Unterpertinger: Sowohl als auch. Es gibt Stellen, die klassisch ausgeschrieben sind, aber auch Teile, die den InterpretInnen viel Freiraum lassen. Doch selbst bei den Improvisationsstellen gebe ich sehr genaues Tonmaterial und fixe Strukturen vor. Es fällt mir nicht immer leicht, musikalische Passagen freizugeben. Daher fliege ich nächste Woche nochmals in den Iran [Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde vor dieser Reise geführt], um mit den beiden iranischen Musikern, die bei der Uraufführung spielen werden, zu proben. Der Entstehungsprozess ist also sehr aufwendig. Ich muss sehen bzw. hören, ob die konzeptuellen und strukturellen Improvisationsvorgaben funktionieren, und nötigenfalls etwas abändern.

„Ich habe auch gemerkt, dass das musikalische Denken ein ganz anderes ist“

Ich habe auch gemerkt, dass das musikalische Denken ein ganz anderes ist. Ich weiß ziemlich genau, wie „westliche“ ImprovisatorInnen oder „Klassiker“ denken. Da kenne ich die Tools. In der iranischen Musik gibt es andere Logiken. Oft wurden meine Fragen gar nicht erst verstanden. Mein Denken ist nun mal sehr analytisch. Ein iranischer Musiker meinte einmal, ich müsste doch nicht verstehen, was ich höre. Aber um komponieren zu können, muss ich bis zu einem gewissen Grad analytisch nachvollziehen können, was passiert. Ich habe also gemerkt, dass meine Fragen für manche iranische MusikerInnen irrelevant sind. Das war interessant, aber gelegentlich auch frustrierend.

Im persischen Raum gibt es auch andere Tonsysteme, oder?

Judith Unterpertinger: Ja, der Iran hat ein anderes Tonsystem, das sich auch vom arabischen Raum unterscheidet. Ein Radif ist ein System, das Dastgahs, Awaze und Guschehs zusammenfasst. Ein Dastgah ist eine Skala, die neben Halb- und Ganztönen auch aus Viertel- und Dreivierteltöne besteht. Es gibt sieben Dastgahs und daraus abgeleitet fünf weitere Modi – die Awaze. Jede Dastgah und jeder Awaz hat eine Vielzahl an melodischen, modalen und rhythmischen Formen – die Guschehs. Natürlich reichen wenige Monate nicht aus, das alles zu verstehen. Mit der westlichen Musik beschäftige ich mich seit vielen Jahrzehnten und weiß vieles immer noch nicht. Ich habe also gerade mal ein bisschen an der Oberfläche gekratzt.

Spielen die Instrumente dann abwechselnd oder wie gruppieren sie sich? Gibt es Parts, in denen auf persischen Instrumenten improvisiert wird und diese Parts treffen dann wieder auf Viola da Gamba und Countertenor usw.? Wie ist das strukturiert?

Judith Unterpertinger: Ich habe versucht, die inhaltlichen Momente auf die Besetzung umzulegen. Es gibt verschiedene Konstellationen. So wird z.B. der erste Teil nur von Schlagzeug und Stimme interpretiert, wodurch die Vereinzelung stärker präsent wird. Der zweite Teil beginnt mit einem „harmonischen“ Duett aus Viola da Gamba und Countertenor, die Kamantsche kommt später als „Störelement“ dazu. Die Farben und Skalen der Kamantsche werden als Gegenstück zur Gambe und zum Countertenor herangezogen. Es ist eine Rochade – welche Instrumente fasse ich zusammen und welche treten als Gegenstück auf – die sich durch das ganze Stück zieht.

Eine Frau spielt Kamantsche (aus dem Hasht-Behesht Pallast in Isfahan, Iran, von 1669)
Eine Frau spielt Kamantsche (aus dem Hasht-Behesht Pallast in Isfahan, Iran, von 1669). Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hasht-Behesht_Palace_kamancheh.jpg. Das Bild ist gemeinfrei.

Und wie ist es – gerade auch wenn Sie inhaltlich Überlegungen von vertikalen und horizontalen Hierarchien miteinbeziehen – als Komponistin diese auktoriale Position einzunehmen? Ich frage mich das generell, weil es viele improvisatorische Elemente in Ihrer Arbeit gibt und Sie gleichzeitig komponieren und selbst mitspielen. Welche Position nehmen Sie da ein? Wie sehr hinterfragt man sich da?

Judith Unterpertinger: Das ist ein Thema, das mich gerade bei der Arbeit an diesem Stück besonders beschäftigt hat. Es gab am Anfang gewisse Vorstellungen und sehr klare akustische Bilder, die sich so dann aber nicht umsetzen ließen. Ich wollte ursprünglich mehr notieren, es ging dann aber immer mehr in Richtung Improvisation. Dadurch gibt man mehr aus der Hand und man muss Vertrauen in die InterpretInnen haben. Deshalb war ich auch von Anfang an sehr darauf bedacht – und ich glaube, es ist mir geglückt – sehr gute MusikerInnen zu finden. Die InterpretInnen tragen viel Verantwortung. Das wollen auch nicht alle und das ist auch in Ordnung, aber ich habe nun MusikerInnen gefunden, die das positiv annehmen. Die Gambistin Eva Münzberg hat z. B. gemeint, sie freue sich darüber, durch Improvisation mehr gestalten zu können, als wenn alles bis ins Kleinste notiert wäre. Das ist eine gute Voraussetzung.

Sie spielen ja auch selber mit?

Judith Unterpertinger: Ja, ich spiele auch selber mit. Ich wollte noch eine weitere Farbe dazu nehmen und finde das Pianogut auch thematisch interessant, weil es ein zerschnittenes Klavier ist. Einerseits steht das Klavier für eine europäische Tradition und andererseits ist es zerschnitten, was einen Bruch bedeutet. Ich habe es in erster Linie als Verstärkung der Zuspielung gedacht und werde ganz minimalistisch damit arbeiten. Das Gute ist, dass ich selbst Improvisatorin bin. Ich weiß genau, was ich will und wie ich es erzeuge, aber wie dicht es sein wird, entscheide ich während des gemeinsamen Probenprozesses.

Links

http://www.festival4020.at/

http://www.juun.cc/

Termin

Wann: Freitag, 5. Mai 2017, 19:30
Wo:
Brucknerhaus, Mittlerer Saal, Untere Donaulände 7, 4010 Linz
Mehr:
http://www.festival4020.at