Die Freiheit, schroff zu klingen – VENTIL RECORDS

2014 wurde das Wiener Label VENTIL RECORDS gegründet. Curt Cuisine traf , die Mitbegründerin des Labels, um mit ihr über die Herkunftsgeschichte und geplante Projekte zu plaudern.

Wäre die Wiener Experimentalszene ein Männerkopf, wäre sie wohl kaum ein kahler Schädel mit schütterem Haarwuchs, im Gegenteil: Es wuselt anständig im heimischen Underground, was von internationalen Medien oft beobachtet und goutiert wird, hierzulande aber doch eher nur Eingeweihten und Interessierten bekannt ist. Mit Ventil Records wurde nun ein neues Label für experimentelle Musik an der Schnittstelle von Field Recordings, Elektroakustik und posttechnoider Lässigkeit gegründet.

Begonnen hat alles in Gars am Kamp im Waldviertel, wo Michael Lahner ein Tonstudio, benannt nach der ehemals dort ansässigen Spiegelfabrik, betrieb. Über verschiedene Gelegenheiten lernte man sich kennen. „Gemeinsam mit Manuel Riegler und Michael Lahner hatte ich seit einigen Jahren ein Bandprojekt namens ‚Wealth‘ am Laufen, etwas später kam dann Peter Kutin mit seinem Projekt ‚Shrack!‘ in die Spiegelfabrik, sowie Florian Kindlinger, sein langjähriger Partner, im Rahmen der ‚Ventil‘-Aufnahmen“, erzählt Winterauer. Aus den Begegnungen dieser doch eher unterschiedlichen musikalischen Persönlichkeiten entstanden Freundschaften – und daraus in weiterer Folge Partnerschaften. 2014 gründeten Kutin, Winterauer, Lahner und Kindlinger Ventil Records.

Pop meets Techno meets Experimental

Der wohl bekannteste Name in dieser Runde ist Klangkünstler, Komponist, Musiker, Produzent und Kurator Peter Kutin, der mit seinen 33 Jahren eine hübsche Liste von Kollaborationen vorweisen kann, unter anderem mit Billy Roisz, Christina Kubisch, Dieb13, Nikolaus Geyrhalter, Fritz Ofner, Martin Siewert, Daniel Hösl, Radian und God’s Entertainment. Auf seine elektroakustischen Bearbeitungen von Field Recordings wurde bereits das britische Branchenblatt Wire aufmerksam, 2015 war er mit seinen Projekten und Kollaborationen mehrfach beim renommierten Donaufestival präsent.

Ursula Winterauer selbst begann als Sängerin einer Punkband, war Teil des minimalistischen Popprojekts Agent Cooper, spielt bei dem Blues-Punk-Duo Ash My Love (mit Andreas Dauböck) und bei der Band Wealth Bass. Die Musik der Band beschreibt sie als „technoid, fragmentarisch, basslastig“. Dass man die Band „noch nicht so am Radar hat“, liege daran, dass noch keine Tonträger erschienen seien: „Wir haben zwar einige Alben fast fertig in der Schublade, mussten allerdings einen Arbeitsprozess finden, der für uns alle zu einem positiven Resultat führt.“ Und „Michael Lahner und Florian Kindlinger“, so Winterauer, „bringen neben vielen anderen Qualitäten ihre Skills als Tontechniker in den Erfahrungspool des Labels.“

„Unser Gedanke war, alles bei uns selbst zu lassen – selbst zu produzieren, selbst die Covers zu gestalten, um in allen Belangen unsere Entscheidungsfreiheit zu behalten“, so Winterauer. Daraus solle „eine Qualität, die uns entspricht“ resultieren, „eine bestimmte Art von Sound, an die man denkt, sobald der Name ‚Ventil Records‘ fällt.“ Dazu gehört auch, dass Ventil Records nur auf Vinyl produziert, denn die Platte wird als Gesamtkunstwerk begriffen. Eine Fixierung auf eine bestimmte Musikrichtung ist damit nicht inkludiert, Releases von Ventil sollen laut Winterauer in jedem Kontext gut aufgehoben sein – in der Kunst ebenso wie im Club, in der Ausstellung ebenso wie auf dem Dancefloor.

Rohe Klanggewalt, bedingt tanzbar

Wie sieht das mit den ersten drei erschienenen LPs aus? Die mit “Ventil” betitelte LP entstand noch im Spiegelfabrik-Studio (das vor Kurzem geschlossen wurde) und war nicht nur das Debüt des Labels, sondern auch das Debüt der gleichnamigen Band mit Peter Kutin (Electronics), Florian Kindlinger (Electronics, Gitarre und Basssynthesizer), Michael Lahner (Synthesizers) und Katharina Ernst (Drums). „Ventil“ lässt sich am ersten Track noch etwas sperrig an, nimmt aber dann durchaus Fahrt auf, um in groovigen Songformat düstere Soundscapes durchziehen zu lassen. „Swans trifft Varese“ wurde diese Symbiose von einem Kritiker genannt. Das trifft es ganz gut, nur mit wesentlich weniger Melodramatik und einer gewissen Neigung zum eher schicken als sperrigen Klangdestillat. Die Split-LP „Kutin/Asfast“ präsentiert auf der ersten LP-Seite den erst 24-jährigen Asfast aka Leon Leder, der sich mit seinen wuchtigen Soundscapes durchaus als Seelen- bzw. Soundverwandter von Peter Kutin präsentiert. Auch hier herrscht ein unverkennbarer Wille zum stringenten Sounderlebnis – allerdings scharf an der Grenze zum Noise.

Das zentrale Werk, wenn man so will, ist aber die Doppel-LP „Decomposition I-III“ von Peter Kutin und Florian Kindlinger, die auf Field Recordings basiert, welche bei einem Teleskop in der Atacamawüste, in einer Gletscherspalte und in Las Vegas aufgenommen worden sind. Eine Auftragsarbeit für das Donaufestival ermöglichte es, das Projekt als audiovisuelles Konzert umzusetzen, womit Kindlinger und Kutin auch in der Welt des Experimentalfilms landeten. Die Arbeit wurde seither auf mehreren internationalen Festivals für Musik und Film aufgeführt, als Nächstes geht es nach Vancouver. Obwohl die Stücke auf „Decomposition I-III“ großteils „unbearbeitet, roh, unverfälscht“ sind (mit Ausnahme der Las-Vegas-Tapes, die mit der deutschen Komponistin Christina Kubisch aufgenommen wurden, die Städte generell eher als elektromagnetische Klangquellen begreift), lässt man hier laut Pressetext „das vermeintlich zutreffende Genre ‚field-recordings’ hinter sich“ und biete „eine gänzlich neue Erfahrungsebene von Feldaufnahmen“. Das lässt sich vielleicht so übersetzen: Kutin und Kindlinger positionieren das Mikrofon selbst als Instrument, was im Genre der Field Recordings zwar kein essenziell neuer Ansatz ist, aber so nachdrücklich wie hier hört man selten, dass selbst vermeintlich unbearbeitete Sounds „befremdlich und aggressiv“ wie künstliche erzeugte Noise-Kulissen klingen können. Man wundert sich, wie gering die psychoakustische Differenz zwischen den Soundscapes der Split-LP und dem vorgefundenen Klangdestillat ist – zumindest beim ersten Hinhören. Kein Wunder, dass, wie Winterauer bestätigt, „Decomposition I-III“ der bislang am häufigsten bestellte Tonträger von Ventil Records ist – mit Bestellungen aus Japan, Belgien, Frankreich, Kanada, den USA und der Schweiz.

Betrachtet man diese ersten drei Tonträger, so fällt doch auf, dass sie bislang fast ganz dem Werk von Peter Kutin gewidmet sind. „Das ist“, so Winterauer, „mehr oder weniger dem Zufall geschuldet, geplant war es anders. Zwar stand ‚Decomposition I-III’ schon lange fest, da es ein Projekt ist, an dem Peter und Florian schon seit Jahren arbeiten, aber eigentlich hätten voriges Jahr eine Soloplatte von Asfast und eine Platte von Wealth folgen sollen.“ Dass es anders gekommen ist, deutet Winterauer auch als Beleg für die Offenheit gegenüber dem Zufall – eine Vorliebe, die alle LabelbetreiberInnen eint. „Es lässt sich nicht genau vorherberechnen wann jemand mit einer Platte tatsächlich fertig wird. Das würde unweigerlich einen Qualitätsverlust bedeuten.“ Die längst überfällige Wealth-LP wird heuer jedenfalls im Herbst folgen. Davor soll eine auf 50 Stück limitierte LP von Manuel Knapp folgen, einem Wiener Noise-Musiker, der auch bildender Künstler ist und 2016 am Donaufestival mit einer Auftragsarbeit vertreten sein wird. Knapp wird auch selbst das Cover gestalten. Ebenfalls geplant sind eine Soloplatte von Asfast und weitere Projekte, von denen noch nichts verraten werden soll. Spruchreif hingegen ist eine Kollaboration mit dem Festival REAL DEAL!, einem neuen Festival für Performance, Kunst und Sound in Wien, das im Frühsommer 2016 stattfinden wird.

Curt Cuisine
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